Behandelter Abschnitt Hab 1,1-4
Einleitung
Die Prophezeiung Habakuks unterscheidet sich insofern von anderen Prophezeiungen, als sie sich nicht direkt an Israel oder an die Nationen richtet. Auch finden wir keine genauere Zeitangabe, wann die Prophezeiung geäußert wurde. Jedoch ist deutlich ersichtlich, dass Habakuk in einer Zeit lebte, als das Volk Gottes völlig versagt hatte, mit der Folge, dass nach den Regierungswegen Gottes seine Hand im Gericht über seinem Volke lastete.
Die Prophezeiung ist in der Form eines Zwiegesprächs zwischen dem Propheten und Gott abgefasst, in dem der Prophet, überwältigt in seinem Geist durch all das Versagen unter dem Volk Gottes, seine Last auf Gott wirft und dadurch erfährt, dass er in seiner Not nicht nur erhalten wird durch Gott (Ps 55,23), sondern dass er dazu geführt wird, in Gott zu frohlocken und auf den Höhen einherzuschreiten (Hab 3,18.19).
Kapitel 1
Hab 1,1-4: 1 Der Ausspruch, den Habakuk, der Prophet, geschaut hat. 2 Wie lange, HERR, habe ich gerufen, und du hörst nicht! Ich schreie zu dir: Gewalttat!?, und du rettest nicht. 3 Warum lässt du mich Unheil sehen und schaust Mühsal an? Und Verwüstung und Gewalttat sind vor mir, und Streit entsteht, und Hader erhebt sich. 4 Darum wird das Gesetz kraftlos, und das Recht kommt niemals hervor; denn der Gottlose umzingelt den Gerechten: Darum kommt das Recht verdreht hervor.
In den Anfangsversen lernen wir die Seelennot des Propheten kennen, wenn er Gott den tiefen geistlichen Zustand des Volkes Gottes bekennt. Sein Geist ist erschüttert, nicht nur wegen der Gottlosigkeit der Nationen, sondern wegen des Bösen unter dem Volk Gottes. Gerade in dem Kreis, der durch Güte, Gerechtigkeit, Friede und Eintracht hätte gekennzeichnet sein sollen, entdeckt er Gewalttat, Verwüstung, Streit und Hader.
Außerdem muss er feststellen, dass unter dem Volk Gottes keine Kraft anwesend ist, um mit dem Bösen zu handeln. Sie versagen darin, das Wort Gottes anzuwenden, denn er muss feststellen, dass das Gesetz kraftlos ist und das Recht nimmermehr hervorkommt. Der Gesetzlose umzingelt den Gerechten: Darum kommt das Recht verdreht hervor (Hab 1,4). Ferner machte es bei rein äußerlicher Betrachtung den Anschein, als ob Gott den Schrei des Gottesfürchtigen nicht erhören noch sein Volk von dessen Mühsal erretten würde.
Angesichts all dieser Nöte seufzt der Prophet im Geist, denn Gottes Wort gestattet einen Seufzer, jedoch niemals ein Murren (Röm 8,22-27). Zudem richtet der Prophet seinen Seufzer an Gott. Nur zu oft – leider! – besteht bei uns Gläubigen die Neigung, über das Versagen des Volkes Gottes untereinander zu diskutieren, und zwar in einem solchen Geist der Bitterkeit, dass das Seufzen zu einem regelrechten Murren wird, oder wir beklagen uns darüber, was Gott in seinen Regierungswegen mit seinem Volk zulässt.
Worte der Klage, die wir aneinander richten, können somit entweder einen verborgenen Geist der Auflehnung gegen Gott offenbaren, oder sie können auch ein Versuch sein, uns selbst zu erheben, indem wir andere geringachten. Wie gut ist es deshalb für uns, diesen Fallstricken zu entkommen, indem wir den Schmerz unseres Geistes und die Übungen unserer Seelen vor Gott ausgießen.
In den folgenden Versen haben wir die Antwort Gottes auf den Schrei dieser beängstigten Seele. Diese Antwort zeigt uns das, was in der Prophezeiung Habakuks so vorherrschend ist, nämlich das Handeln Gottes in seinen Regierungswegen sowohl mit seinem Volk, das versagt hat, als auch mit einer bösen Welt.
Gott kann dem Bösen gegenüber nicht gleichgültig sein. Wenn sein Volk in einen tiefen moralischen Zustand gefallen ist, so muss Gott sie entweder aufgeben oder in Züchtigung mit ihnen handeln. Wir leben in der Gnadenzeit; doch die Gnade setzt die Regierung Gottes nicht beiseite. Wie in den Tagen Habakuks, so ist auch heute das Volk Gottes gefallen, und die Kirche, als ein verantwortliches Zeugnis für Gott, ist ruiniert. Die Folge davon finden wir im ersten Petrusbrief (1Pet 4,17) erwähnt, wo uns der Apostel Petrus erinnert: „Denn die Zeit ist gekommen, dass das Gericht anfange bei dem Haus Gottes; wenn aber zuerst bei uns, was wird das Ende derer sein, die dem Evangelium Gottes nicht gehorchen!“ Diese Regierung Gottes wird nicht die Form eines direkten Eingreifens annehmen, denn wir haben heute den Tag der langmütigen Gnade Gottes, und Christus wartet, bis seine Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt sind. Trotzdem kann Gott dem Bösen gegenüber nicht gleichgültig sein, und es bleibt somit völlig wahr, dass was irgend ein Mensch sät, er auch ernten wird.