Behandelter Abschnitt Hab 1,1-4
Es gibt keine prophetische Überlieferung unter den zwölf kleineren Büchern, die eigentümlicher und charakteristischer ist als die des Habakuk. Sie hat nicht mehr die Beschäftigung mit dem Feind als Hauptmerkmal, obwohl der Feind erwähnt wird; sondern als ihr herausragendes Thema finden wir das innere Leben des Propheten selbst. Er legt als Vertreter der Gläubigen unter den Juden, in tiefe Übungen gebracht, in einer Art Zwiegespräch mit Gott selbst, nicht nur dar, was ihm Herzensnot bereitete, sondern er legt auch den göttlichen Trost und die jubelnde Hoffnung dar, in die er durch die Mitteilungen des Geistes Gottes geführt wurde. Wir werden auch sehen, dass die Hoffnung ihre göttliche Qualität beweist, denn wir finden darin alles, was dazu dient, dass der Prophet geduldig wartet, obwohl man äußerlich nichts sieht, außer in der Tat das Äußerste der irdischen Prüfung. Dennoch freut sich der Prophet am Herrn und rechnet mit dem ungestörten Besitz all dessen, was über allen Feinden verheißen ist, so wie die Gazellen sich an den Höhen erfreuen, die kein anderer Fuß sicher betreten kann.
Der Ausspruch, den Habakuk, der Prophet, geschaut hat. Wie lange, Herr, habe ich gerufen, und du hörst nicht! Ich schreie zu dir: „Gewalttat!“, und du rettest nicht. Warum lässt du mich Unheil sehen und schaust Mühsal an? Und Verwüstung und Gewalttat sind vor mir, und Streit entsteht, und Hader erhebt sich. Darum wird das Gesetz kraftlos, und das Recht kommt niemals hervor; denn der Gottlose umzingelt den Gerechten: Darum kommt das Recht verdreht hervor (V. 1‒4).
Daher gibt es ein gutes Maß an geistlicher Ähnlichkeit zwischen der kurzen Prophezeiung Habakuks und der längeren von Jeremia. Zugleich ist Habakuk kein bloßer Nachahmer. Er spielt sowohl auf die vorhergehenden als auch auf die Tatsachen in der frühen Geschichte Israels an: So taten es alle Propheten. Manchmal wurde ein direktes Zitat nicht vermieden; nein, wir haben gesehen, dass der Geist sie dazu brachte, das zu übernehmen und zu wiederholen, was andere Propheten vor ihnen sagten. Wenn das Bewusstsein der Originalität und der Reichtum des Gedankens den Menschen manchmal befähigt, sich über den Vorwurf des Borgens von einem Mitpropheten zu erheben, so hat die göttliche Führung die Propheten in dieser Hinsicht noch viel weniger vorsichtig und empfindlich gemacht. Eitle Menschen, die sich nach eigener Macht sehnen und diese anstreben, sind zu schwach, um offen und frei zu handeln, und neigen dazu, extreme Eifersucht zu zeigen, damit man nicht denkt, sie würden sich der Gedanken eines anderen bedienen; wenn sie das nicht tun, ist es zu ihrem eigenen Schaden und dem ihrer Leser, denn non omnia possumus omnes.1
So sehen wir in der Schrift das Gegenteil dieser schwachen Beschränktheit. Daniel zum Beispiel, der von Anfang bis Ende einen charakteristischen eigenen Stil hat, war ein fleißiger Schüler Jeremias. Er schrieb sicher nicht aus Mangel daran, sich auszudrücken, sondern zog es vor, die Sprache Moses aufzugreifen, wo sie dem Zweck des Geistes entsprach. So sehen wir, dass Micha und Jesaja wichtige Abschnitte schrieben, die nicht nur gedanklich ähnlich, sondern in vielerlei Hinsicht im Ausdruck identisch sind, und doch jeder seinen eigenen Zweck hat. Folglich bleibt der Zweck, dem sie dienen, für jeden charakteristisch, so dass die Punkte der Ähnlichkeit nur den wirklichen Unterschied des Behandelten verstärken, den der Geist Gottes vor Augen hatte. In der Tat ist dies in der Schrift so wahr, dass wir im Buch der Psalmen, ob es nun derselbe Schreiber oder ein anderer ist (höchstwahrscheinlich aber derselbe), zwei dieser Textstellen finden, die fast Wort für Wort gleich sind; und doch bin ich überzeugt, dass keine von beiden ohne deutlichen Verlust eingespart werden könnte, und dass die wenigen Worte, die sich zwischen Psalm 14 und Psalm 53 unterscheiden, von größter Wichtigkeit sind, so dass wir sie beachten sollten, wenn wir das Wort der Wahrheit richtig auslegen und ihren Umfang verstehen wollen. Folglich gibt es zwar eine Belehrung in der Gleichheit, aber auch den wichtigsten Schlüssel zur Auslegung durch den Unterschied. Doch fast alles wird und muss verlorengehen, außer für die, die sich die einzelnen Wörter sorgfältig anschauen und miteinander vergleichen. Dabei ist jedes Wort voller Belehrung, wenn es einmal klar gesehen wird.
So ist zwar bei Habakuk wie auch bei Jeremia anfangs ein gewisser Geist der Klage zu beobachten, ein belasteter, kummervoller Geist, aber dennoch können wir dazu sagen, wie Paulus von sich selbst sagte: „niedergeworfen, aber nicht umkommend“ (2Kor 4,9). Er zeigt uns zwar nicht die Sünde, sondern die Schwachheit, die Schwachheit des irdenen Gefäßes. Doch beide sind ein brillantes Zeugnis für den Schatz, den die göttliche Gnade in sie gelegt hat.
Hier also seufzt der Prophet, aber er tut, was die Juden in Hosea nicht taten – er seufzt zu Gott: „Wie lange Herr, habe ich gerufen, und du hörst nicht! Ich schreie zu dir: ,Gewalttat!‘, und du rettest nicht“ (V. 2). Der Herr hatte andere Absichten: Wenn Er nicht zu hören scheint und seinen Arm nicht ausstreckt, um zu retten – denn Rettung bedeutet hier, wie wir uns erinnern sollten, durch äußere Macht oder auf der Erde gezeigte Errettungen –, so geschieht dies immer zur Vollendung besserer Dinge. Wir dürfen immer mit der vollkommenen Güte Gottes und den Mitteln seiner Gnade rechnen, wo immer Glaube vorhanden ist, denn alles Gute für den versagenden Menschen kommt aus dem Glauben hervor, damit es aus Gnade geschehe; und Habakuk ist besonders der Prophet, der die Aufgabe hat, dem Glauben den ihm gebührenden Platz einzuräumen. Aber immer, wo echter Glaube ist, muss er erprobt werden. Dementsprechend finden wir die Prüfung, noch bevor der Glaube eindeutig bewiesen ist; hätte jedoch kein echter Glaube dahintergesteckt, könnten wir völlig sicher sein, dass es keine solche Erprobung gegeben hätte.
Daher sollte gerade die Schwere einer Prüfung den Gläubigen trösten, denn der Herr legt nie eine schwerere Last auf, als Er Gnade gibt, sie zu tragen. Daher ist es immer eine Ehre, in der Prüfung auszuharren, solange sie andauert. Es ist keine Ehre, nachlässig zu sein in den Dingen, die Gott uns zu tun oder zu tragen gegeben hat. Als Verwalter untreu zu sein, ist eine Schande in den Augen Gottes und der Menschen. Aber Habakuk war verzweifelt darüber, dass es einen solchen Zustand im Volk Gottes gab und dass Er seine Antwort hinauszögerte und moralisch nicht in der Lage war, die Erlösung in der Art der äußeren Befreiung zu bewirken, die ich gerade beschrieben habe. „Warum lässt du mich Unheil [o. Ungerechtigkeit] sehen“ (V. 3), wenn es so außerordentlich bedrückend ist? – Ungerechtigkeit sogar an dem Ort, wo Gerechtigkeit zu erwarten gewesen wäre. Das fand sich unter dem Volk Gottes, was ihn umso mehr beunruhigte. Dass die Heiden frevelhaft waren, war kein Wunder; dass die Juden so waren, war eine tiefe Sorge für ihn.
Weiter sagt er „Und Verwüstung und Gewalttat sind vor mir, und Streit entsteht, und Hader erhebt sich. Darum wird das Gesetz kraftlos“ (V. 3.4a). Er spricht von denen, die das Gesetz hatten und förmlich unter ihm standen. Es gab keine angemessene Antwort darauf. „Denn der Gesetzlose umzingelt den Gerechten: Darum kommt das Recht verdreht hervor“ (V. 4b).
Aber wenn der Mensch und sein Volk versagen, antwortet der Herr; Er hat das zumindest gehört. Soweit gibt es also eine unmittelbare Erscheinung des Herrn, wenn auch nicht in der Weise, wie der Prophet sie gesucht und ersehnt hatte. Doch der Herr muss immer über den Gedanken des Herzens stehen. „Das Törichte Gottes“, so heißt es, „ist weiser als die Menschen“ (1Kor 1,25), auch wenn sie ihre beste Weisheit aufbieten.
1 „Wir können nicht alle alles“ (Vergil).↩︎