Behandelter Abschnitt 1Joh 4,7-10
Geliebte, lasst uns einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe. Hierin ist die Liebe Gottes zu uns offenbart worden, dass Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben möchten. Hierin ist die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden.
Nach der Einschaltung der ersten sechs Verse kehrt der Apostel zu dem neuen Thema zurück, das er am Ende Kapitel 3 aufgenommen hatte. Er hatte dort gezeigt, dass die wahre Bruderliebe den Charakter göttlicher Zuneigung trägt und dass sie nicht nur wünschenswert, sondern von so großer Bedeutung ist, dass sie das entscheidende Merkmal des echten Gläubigen darstellt. Wie sehr mahnt uns diese Tatsache, insbesondere vor jedem Selbstbetrug auf der Hut zu sein. „Geliebte, lasst uns einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott; und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott“ (V. 7).
Da diese göttliche Schlussfolgerung gewiss und zwingend ist, gibt es für uns keine Entschuldigung für einen Mangel an Liebe. Wir müssen stattdessen daran denken, dass diese Liebe nicht lediglich Freundlichkeit unseren Mitgläubigen gegenüber bedeutet; sie ist auch treu Gott gegenüber. Manchmal wird die aus Liebe ausgeübte Treue übelgenommen, anstatt dass man sie willkommen heißt. Ein Bruder, der in einem solchen Fall über die Zurechtweisung aufgebracht ist und meint, das treue Handeln des anderen stehe im Widerspruch zur Liebe, hat wohl Grund, sich sorgfältig zu prüfen. Lässt er sich von seinem Groll überwältigen, wie es leider manchmal vorgekommen ist, dann kann es sich unter Umständen nachher herausstellen, dass er der göttlichen Gabe des ewigen Lebens nie wirklich teilhaftig geworden war. Ein noch so kleines Abweichen von der Liebe bei sich selbst zuzulassen, ist nur zu oft ein sehr ernstes Anzeichen. Man könnte es als ein Symptom moralischen Aussatzes an dem betroffenen Menschen nennen; denn wir werden hier darüber belehrt, dass bei einem Menschen, dem die Liebe fehlt, nichts wirklich Göttliches und nichts wahrhaft Gesundes vorhanden ist. Das ist im Prinzip auch ganz klar. Der Hass stammt gewiss nicht von Gott, wohl aber die Liebe. Sie strahlt die aktive Energie seiner Natur aus. Das moralische Grundelement seiner Natur, wenn wir es so ausdrücken dürfen, ist das Licht, das in vollkommener Reinheit alles Böse aufdeckt und verabscheut. Denn in Gott ist das Licht mit absoluter Heiligkeit verbunden, und das gilt auch für einen Christen, wenn er wirklich ewiges Leben besitzt.
Liebe hingegen ist die aktive Entfaltung der göttlichen Natur. Sie sucht das Wohl derer, die ihre Gegenstände sind, ohne dass diese irgendeinen Anlass dazu bieten. Ihr Beweggrund liegt in ihr selbst, der Quelle alles Guten. Gottes Liebe ist nicht nur bereit, alles zu geben, sondern auch alles zu vergeben. Letzteres ist uns gegenüber nur durch das Werk des Mittlers möglich, denn Gott ist konsequent in allen seinen Handlungen. Wo Sünde vorliegt, muss eine Grundlage für seine Gerechtigkeit vorhanden sein; und wo wäre diese zu finden? Gewiss nicht im sündigen Menschen. Gott wusste von Anfang an, wo die unfehlbare Gerechtigkeit allein zu finden war, sogar in Zeiten des Überhandnehmens der Ungerechtigkeit.
Auch in den dunkelsten Tagen seines Volkes Israel wies Er durch seinen Propheten auf sein kommendes Heil und auf die Offenbarung seiner Gerechtigkeit hin (Jes 56,1). Nirgendwo auf der Erde war etwas davon zu sehen. Doch der Glaube schaute stets danach aus. Im Menschen war nichts davon zu finden, sogar nicht in wahren Gläubigen, etwa in Henoch oder in Elia, von anderen ganz zu schweigen. Doch sie schauten in Hoffnung danach aus. Gottes Heil war noch keine vollendete Tatsache. Die Zuversicht jedes Gläubigen war ganz auf den gerichtet, der kommen würde. Er war, wie wir wissen, den Menschen unmittelbar nach dem Sündenfall angekündigt worden. Jahwe Elohim hatte das dem schuldigen Paar in eindrucksvoller Weise vorgestellt. Er äußerte das nicht direkt dem gefallenen Menschenpaar gegenüber, sondern in seinem Urteil über die Schlange. Wer außer Gott hätte wohl je daran gedacht, in das Urteil über den Feind zugleich die Ankündigung eines Retters einzubeziehen? Er deutete in heiligem Ernst an, dass der Retter kommen würde, um die Macht des Bösen zu zermalmen und seine Opfer zu befreien. Zugleich aber würde der Retter aus Liebe bei der Ausführung dieses Erlösungswerkes Qualen auf sich nehmen. Denn nur ein Ungläubiger könnte missverstehen, was durch das Zermalmen der Ferse angedeutet wird. Trotz dieser Leiden würde der Nachkomme der Frau aber der Schlange den Kopf zermalmen; von dieser Zerstörung wird sich der Böse nie wieder erholen.
Die in unserem Abschnitt angeführte Liebe hat keinerlei Ursprung im Geschöpf; sie ist „aus Gott“. Wäre Gott nicht ihre Quelle und ihre Kraft, so könnte niemand errettet werden und kein Gläubiger könnte in dieser seiner Liebe wandeln. Denn die Liebe ist imstande, alle Hilfsquellen der Gnade für den Sünder, der sich in völligem Verderben befindet, hervorzubringen. Wir sehen das in Christus verwirklicht, der für unsere Sünden starb und nun als Sachwalter bei dem Vater für uns lebt. Welch eine Liebe offenbart sich da in jeder Hinsicht! Die Schrift sagt uns nicht nur, dass die Sünden des Gläubigen vergeben sind. Wäre das alles, dann könnte es bedeuten, dass der Gläubige, der zu Fall gekommen ist, wieder von vorn beginnen, das heißt sich wieder erneut bekehren müsste. Es fehlt nicht an Gläubigen, die tatsächlich der Meinung sind, wenn ein Gläubiger gesündigt habe, so verliere er alle bisherigen Vorrechte und müsse einen neuen Anfang machen. Wer diese Meinung teilt, glaubt offensichtlich nicht an das ewige Leben als einen gegenwärtigen Besitz des Gläubigen in Christus. Leider gibt es Meinungen, die das ewige Leben noch auf andere Weise leugnen, was für Christen beschämend ist. Eine solche Verleugnung ist in jedem Fall ein Verstoß gegen eine Grundwahrheit des Christentums.
Dann wird uns gesagt: „und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott“ (V. 7b). Aus Ihm geboren zu sein, schließt somit ein, dass man auch seine Kinder liebt, denn sie besitzen ja seine Natur. Wer nicht liebt, ist nicht aus Gott geboren. Es kann jedoch sein, dass jemand mangelhaft unterwiesen wurde und kaum gelernt hat, die Regungen des Fleisches zu verurteilen. Daher mag er kein Bewusstsein darüber haben, dass Hassgefühle mit der Stellung eines Christen völlig unvereinbar sind. Sie sind es, weil sie im Widerspruch zum Wesen Gottes und zu dem Leben stehen, das der Gläubige in Christus besitzt. „Die Liebe ist aus Gott; und jeder“ (wie klar ist das ausgedrückt!), „der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott.“
Wie wunderbar, dass so etwas von einem Menschen hier auf der Erde gesagt werden kann! Wir wissen nur wenig voneinander. Es ist ein Beweis unserer Unkenntnis, dass wir selbst bei engen Freunden und Verwandten zuweilen durch Kleinigkeiten überrascht werden, die zu großen Schwierigkeiten, Kummer und endlosem Leid führen. Würden wir einander besser kennen und besäßen eine liebende Natur, so könnten derartige Dinge nicht auftreten. Wie erstaunlich erscheint es dann, dass wir fähig sein sollen, Gott zu kennen, die wir sogar über unseren unmittelbaren Nachbarn so wenig wissen! Wir kennen unsere Brüder sicherlich deswegen viel zu wenig, weil unsere Liebe so schwach ist. Würde unsere Liebe durch den Glauben erstarken, und wäre das neue Leben in uns ungehindert in Tätigkeit, so wären wir mit allen unseren Brüdern besser vertraut. Wir würden mit Christus und um seinetwillen auf ihre Kümmernisse in einer Weise eingehen, die Gott wohlgefällig ist, ihnen Trost und uns Segen brächte. Vertrauen erwächst aus der Liebe; wird die Liebe gekannt und genossen, so erzeugt sie Vertrauen, sowohl Gott als auch seinen Kindern gegenüber. Wer wüsste nicht um die Tatsache, dass sogar zwischen Kindern Gottes nur ein verhältnismäßig geringes Vertrauen vorhanden ist? Der Mangel an Liebe ist in der Tat tief bedauerlich und in keiner Weise vereinbar mit unserer Stellung als Hausgenossen Gottes. In unserem Abschnitt wird uns in kurzen und klaren Worten gesagt, was die Gedanken Gottes darüber sind.
Diese Welt ist voll von gewaltigen Schwierigkeiten, die durch den Verfall innerhalb der Christenheit noch verschlimmert werden. Dazu ist der Feind pausenlos in raffinierter Weise am Werk. Das haben wir in den vorhergehenden Versen gesehen („Glaubt nicht jedem Geist“). Der Heilige Geist wurde von dem Vater und dem Sohn herniedergesandt. Doch Satan wartete nicht lange, seinerseits böse Geister auszusenden, um den Geist Gottes nachzuahmen. Auf die gleiche Weise hatte er zuvor auch das Werk des Herrn Jesus auf der Erde zu stören versucht. Dabei wirkte er nicht nur durch Besessene, sondern auch durch falsche Lehren, die sich gegen die Person des Herrn selbst richteten. Als Christus Apostel, Propheten und Lehrer gab, die in der Kraft des Heiligen Geistes zur Auferbauung der Glieder seines Leibes dienten, wirkte Satan auf allen Gebieten in entgegengesetzter Weise. Daher heißt es: „Glaubt nicht jedem Geist!“
Dann folgen die Erkennungszeichen, die wir schon betrachtet haben. Hier nun geht es um unseren Wandel in der Liebe, nicht um die Angriffe auf die Wahrheit. Gott möchte, dass die, die Er durch das Wort der Wahrheit wiedergezeugt hat, in ihrem praktischen Glaubensleben von der Liebe mehr als von allem anderen durchdrungen sind. Bei seinen Kindern werden Gerechtigkeit und Gehorsam vorausgesetzt, aber auch die Liebe muss vorhanden sein. Da die Liebe die machtvolle Triebfeder in Gottes Wesen ist, so ist sie auch die unentbehrliche Kraft in dem Leben der Gläubigen untereinander. Sie tritt vielleicht stärker als alle anderen christlichen Tugenden in Erscheinung. Lieber Bruder, ist das bei dir der Fall? Mangelt es vielleicht bei dir an Liebe?
Wie bereits an früherer Stelle, führt der Apostel dieses Thema mit der Anrede „Geliebte“ ein. Damit appellierte er insbesondere an die Zuneigungen der Leser, obwohl er eine Warnung damit verband. Er sah, dass den Gläubigen ernste Gefahren drohten. Böse Geister waren wirksam, und leider besteht immer die Neigung, sowohl hinsichtlich des Heiligen Geistes einerseits, wie auch der Existenz Satans und seiner Boten andererseits, ungläubig zu sein. In der heutigen Christenheit sind böse Geister mehr denn je am Werk, ja, ihre Tätigkeit erstreckt sich vornehmlich gerade auf sie. Sie wirken nicht nur in den heidnischen Ländern mit ihrem finsteren, grausamen Aberglauben. Der Geist des Irrtums zeigt sich innerhalb der Christenheit auf eine ansprechende Weise getarnt; er gibt sogar vor, höchste Wahrheiten zu bringen.
So hört man etwa sagen: „Besitzen wir nicht Wahrheiten, von denen niemand bisher etwas gehört hat, und die von höchstem Wert sind? Es war ja ganz recht, von Gottes Gerechtigkeit, der himmlischen Berufung, dem Geheimnis der Versammlung und so weiter zu sprechen. Jetzt aber haben wir etwas viel Besseres. Damals wurden die Instrumente erst gestimmt; jetzt aber spielt das volle Orchester, und das ist unser Verdienst!“ Ohne Zweifel sind solche Behauptungen völlig falsch, aber der Geist des Irrtums wirkt auf diese Weise auf die irregeleiteten Gefühle solcher Menschen, die sich von den bösen Geistern beeinflussen lassen. Wie offensichtlich steht eine solche Prahlerei im Gegensatz zu der Sanftmut des Herrn aller Dinge! Solche Irrlehrer dienen nur der Zerstörung der Wahrheit und nicht zur Auferbauung derer, die ihnen ihr Vertrauen schenken. Ihr Tun ist verwerflicher als das, was die Schrift mit den Worten bezeichnet: Sie dienen „ihrem eigenen Bauch“ (Röm 16,18). Sie sind von der Welt, darum reden sie auch aus der Welt und beziehen ihre Motive aus sich selbst.
Es ist eine gesegnete Tatsache, dass die Liebe, die aus Gott ist, alle ihre Beweggründe in seiner eigenen Güte findet, wogegen die Natur des Menschen genau das Gegenteil dieser Liebe aufweist. Als der Gläubige noch ein verlorener Sünder war, empfing er Gnade in ihrer ganzen Unumschränktheit. Nun, da er im Besitz des ewigen Lebens in Christus ist, erfährt er beständig den Zufluss dieser Gnade. Der Geist ist in der neuen Natur des aus Gott Geborenen wirksam. Er darf sich Gottes und seiner Liebe rühmen, und zwar nur aufgrund der Güte, die in Gott zu finden ist und die Er so gern auch anderen mitteilt. Das ist das Teil der an Christus Glaubenden. Sie sind von der Tatsache erfüllt, dass sie von Ihm mit seiner göttlichen Liebe geliebt werden, und betätigen dann diese Liebe auch ihren Brüdern gegenüber durch den Geist Gottes, und darum geht es hier. Der Grundsatz ist vollkommen klar: Die Ausübung der Liebe kann nicht von der Geburt aus Gott getrennt werden. Durch die Betätigung der Liebe aber beweist der Gläubige, dass er ein Kind Gottes ist. Das hat überhaupt nichts mit den natürlichen Zuneigungen zu tun, die, wie jeder weiß, selbst in den bösesten Menschen stark ausgeprägt sein können. Entschiedene Feinde Gottes, die sich niedrigen Lüsten und Leidenschaften hingeben, können trotzdem sehr liebenswürdig und wohlwollend sein. Aber das alles hat nichts mit der göttlichen Liebe, mit dem zu tun, wovon hier die Rede ist und was in dem Herrn Jesus vollkommen zur Darstellung kam. „Die Liebe ist aus Gott“ (V. 7) sagt der Apostel. Alles, was aus uns stammt, ist nicht aus Gott. Diese Liebe aber ist nicht aus uns, auch nicht bei einem Gläubigen; er empfängt sie ausschließlich von oben. Er ist aus dem Geist geboren, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist und nicht Fleisch. Er ist aus Gott geboren, und Gott ist Liebe.
Unser Vers steht in Verbindung mit dem, was am Ende des dritten Kapitels eingeführt wurde, wo wir zum ersten Mal in diesem Brief vom Geist Gottes hören. In diesem Zusammenhang war davon die Rede, dass Gott in dem Gläubigen bleibt und dass der Beweis hierfür der Geist ist, den Er uns gegeben hat. Der dem Gläubigen geschenkte Geist wohnt in ihm und beweist damit, dass Gott in ihm bleibt. Welch ein gewaltiger Schritt ist das über den Besitz des neuen Lebens hinaus! So groß das Vorrecht auch ist, Teilhaber der göttlichen Natur sein zu dürfen – die Tatsache, dass Gott in uns bleibt, ist weit mehr. Dieses Bleiben Gottes in uns wird durch die Gabe des Geistes bewirkt und ermöglicht, der das unterscheidende Merkmal des Gläubigen ist.
Der Apostel verfolgt also den Zweck, die gegenseitige Liebe unter den Gläubigen dadurch anzufachen, dass er die Quelle der Liebe aufzeigt sowie die Natur, die, sofern sie tätig ist, mit ihr übereinstimmen muss. Selbstverständlich gibt es große Hindernisse, die der Ausübung der Liebe entgegenstehen, sowohl von innen als auch von außen. Sie sind so groß, dass das Bleiben Gottes in dem Gläubigen erforderlich ist, damit die Liebe sich frei und in vollem Maß betätigen kann. Wir haben also nicht nur nötig, aus Gott geboren zu sein, wir brauchen auch die göttliche Kraft, ja, noch mehr, dass Gott in uns bleibt, um einander gottgemäß lieben zu können. Wären wir nur aus Gott geboren, so bliebe doch noch ein mächtiges Hindernis bestehen, das durch die neue Geburt nicht beseitigt wird. Was ist das? Die Unkenntnis über unsere Erlösung? Der Glaube an das Werk Christi für uns und an sein Blut, das von jeder Sünde reinigt, muss vorhanden sein. Ehe man in der Erlösung, die in Christus Jesus ist, ruhen kann, muss ein göttliches Werk in dem Gläubigen geschehen sein.
Das können wir aus jeder diesbezüglichen Schriftstelle ersehen. Nehmen wir die Begebenheit mit der Frau aus Lukas 7, über die der Heilige Geist in wenigen Worten so viel aussagt: „Und siehe, eine Frau, die in der Stadt war, eine Sünderin“ (V. 37). Obwohl sie eine Sünderin war, kam sie zum großen Erstaunen Simons des Pharisäers in sein Haus, als er mit dem Herrn und seinen Jüngern zu Tisch lag. Trotz der abschreckenden äußeren Umstände, kam sie in das Haus, das sie zu jeder anderen Gelegenheit gewiss nicht gern betreten hätte. Was verlieh ihr solch eine Freimütigkeit? Sie blickte im Glauben auf den Herrn; deswegen konnte nichts sie abhalten, auch unter diesen Umständen in ein solches Haus einzudringen (denn so muss es den Anwesenden erschienen sein, und jeder hätte ihr Erscheinen so bezeichnet). Doch die Kraft des Glaubens vermag die größten Hindernisse zu überwinden.
In jenem Augenblick wusste sie noch nichts davon, dass ihre Sünden vergeben waren; sie waren es tatsächlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber sie befand sich auf dem Weg dorthin. Sie liebte den Herrn. Es ginge wohl zu weit, wollte man sagen, dass sie auch die Jünger liebte. Noch weniger hatte sie für Simon andere Empfindungen als für die übrigen Leute seiner Art. Um eine solche Liebe hervorzubringen, war ein weiteres mächtiges Werk Gottes erforderlich. Der Herr zog sie zu sich durch die ihr unbekannte göttliche Anziehungskraft, die von Ihm ausstrahlte. Es war die Liebe, die diese Wirkung des Glaubens hervorbrachte. Seine Gnade bewirkte eine Zuneigung in Ihr, die sie nie zuvor gekannt hatte. Sie war völlig davon überzeugt, dass der Herr von heiliger Liebe erfüllt war. Warum zog Er so unermüdlich im Land umher? Welche Kraft war der Beweggrund seines ganzen Lebens, seiner Worte und Handlungen? War es nicht seine göttliche Liebe?
So begann das Leben bereits in ihr zu wirken, die bis dahin eine sündige Frau voller Unreinheit und Ehrlosigkeit gewesen war. Sie glaubte bereits an den Herrn, und Sie liebte viel, wie der Herr Simon und allen anderen gegenüber bezeugte. Sie fand neues Leben in Ihm, und ihr Wesen wurde neu gestaltet durch den gepriesenen Herrn. Vielleicht würde sie Ihn nie wiedersehen, und sie hätte wohl auch keine weitere derartige Gelegenheit, Ihm zu begegnen (mochte ihr Handeln in den Augen der anderen auch sehr unangebracht erscheinen). Für sie hieß es daher „jetzt oder nie!“ Wenn der einfältige Glaube das Herz antreibt, kann es auch nicht anders handeln. Da verliert man keine Zeit und lässt sich durch nichts aufhalten. So trat sie in das Haus ein, „stand hinten zu seinen Füßen und weinte“.
Ihr Verhalten besaß, ohne dass sie sich dessen bewusst war, moralische Schönheit; diese entstammte gewiss nicht ihrem früheren Leben, sondern wurde durch den Glauben an Christus in ihrer Seele bewirkt. Sie begann, seine Füße mit ihren Tränen zu benetzen und sie mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen. Der Herr erkannte das alles und brauchte sich nicht umzuwenden, um sie, die hinter Ihm weinte, anzublicken. Er wusste alles in vollkommener Weise wie kein anderer. Doch bei Simon rief das alles nur Verachtung hervor. Der Unwille des Ungläubigen richtet sich in größerem Maß gegen den Herrn als gegen seine Jünger. Er äußert das zwar nicht immer und erkennt vielleicht oft selbst nicht, dass er so fühlt. Möglicherweise hätte Simon seine inneren Gefühle nicht zugegeben. Seine ganze Moral war die Moral des Teufels. So sprach er bei sich selbst: „Wenn dieser ein Prophet wäre, so würde er erkennen, wer und was für eine Frau es ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin“ (V. 39). Doch der Herr hatte es vernommen und antwortete darauf. War Er nicht gekommen, um Verlorene zu retten? Und wenn Simon, so wie die Frau, vor Ihm zusammengebrochen wäre, hätte Er dann nicht auch ihn errettet? Doch für einen stolzen, selbstgerechten Pharisäer war es viel schwerer, den Platz eines Sünders einzunehmen, als für eine Frau, die vor den Menschen nichts zu verlieren hatte.
Die Gnade und die Wahrheit vermochten jedoch einen Saulus von Tarsus zu zerbrechen, wie auch einem unmoralischen Menschen ein tiefes Bewusstsein seiner Sündhaftigkeit zu vermitteln. Was führte in diesem Fall wohl dazu, dass die Frau zusammenbrach und gleichzeitig eine solche Liebe bekundete? Es war der Glaube an den Herrn Jesus, die göttliche Liebe, die sich in Ihm offenbarte. Doch die Frau brauchte mehr als das, und die Gnade war unverzüglich bereit, ihr auch mehr zu geben. Welch gewaltiger Gewinn ist es für das Herz, die Gewissheit zu haben, dass die Sünden vergeben sind! Der Herr ließ es auch nicht nur mit einer Andeutung bewenden. Er verkündete ihr das göttliche Wort, nach dem sie schrie: „Deine Sünden sind vergeben!“ (V. 48). Er war dazu berechtigt. Das Werk, auf das sich die Vergebung gründet, war zwar noch nicht vollbracht. Doch der Richter der Lebendigen und der Toten sagt nie etwas, das nicht völlig wahr wäre, ebenso wie der Richter der ganzen Erde nie anders als gerecht handeln kann. So nahm der Herr sich ihrer Sache an und widerlegte den Unglauben des Pharisäers. Er erwies sich als der Herr über alle Propheten durch die Vergebung der Sünden, die Gott allein zukommt. Aus der Fülle seiner Gnade schenkte Er der Frau die Gewissheit, dass ihr Glaube sie gerettet hatte und entließ sie in Frieden.
Wenn wir noch nicht wissen, dass unser Glaube uns errettet hat und unsere Sünden vergeben sind, wird diese Frage uns fortwährend beunruhigen. Das ist die zwangsläufige Folge, wenn jemand zum Schuldbewusstsein erwacht ist. Wie könnte sie in diesem Zustand Ruhe finden, ohne die Gewissheit zu haben, dass ihre Sünden getilgt sind und sie errettet ist? Solange sie darüber unbefriedigt und ungewiss ist, wird sich das Herz unentwegt mit dieser Frage beschäftigen. Es ist dann auch nicht in der Lage, seine Liebe zu denen ausströmen zu lassen, die bezüglich ihrer Sünden bereits zur Ruhe gekommen sind. Solange kann man auch nicht in Wahrheit die Stellung eines Kindes Gottes einnehmen. So, wie die Frau in Lukas 7 die Zusicherung aus dem Mund des Herrn erhielt, müssen auch wir sie im Glauben durch das geschriebene Wort Gottes empfangen. Haben wir uns durch die Schrift noch nicht die Gewissheit der Vergebung sowie unserer neuen Beziehung zu Gott schenken lassen, so können wir uns lediglich auf unsere eigenen Gefühle und Gedanken oder gar auf die eines Menschen stützen, der selbst keine volle Gewissheit besitzt. Der hervorragendste Prediger, der nichts als die reine Wahrheit verkündigt, kann uns nicht davon entbinden, das Zeugnis Gottes persönlich anzunehmen, das Er über seinen Sohn gezeugt hat. „Wer an den Sohn Gottes glaubt, hat das Zeugnis in sich selbst“ (1Joh 5,10). Nur Gott allein kann uns dazu verhelfen, und nur sein Wort ist die Richtschnur für den Glauben. Wir können die Wahrheit somit nur von Gott empfangen. Und wie geschieht das? Durch das geschriebene Wort, das Er uns gegeben hat.
Man kann keinen schlimmeren Angriff auf die Wahrheit unternehmen, als wenn man die göttliche Autorität der Heiligen Schrift leugnet. Eins der heute vorherrschenden Merkmale des Unglaubens ist die Behauptung der „gemäßigten“ Freidenker, die Schrift enthalte (teilweise, aber nicht ausschließlich) Gottes Wort. Alles, was der Herr und die Apostel lehrten, ist aber tatsächlich Gottes Wort. Wie wir schon sahen, ist „alle Schrift von Gott eingegeben“ und beglaubigt damit das, was der Versammlung Gottes übergeben worden ist. In diesen „prophetischen Schriften“ mögen auch Aussprüche des Teufels oder böser Menschen enthalten sein. Sie wurden aber natürlich nicht niedergeschrieben, damit sie von uns befolgt werden, sondern damit wir auch durch das Verhalten der Feinde belehrt werden, soweit Gott dies für gut befand. Nur der Unglaube gerät da in Schwierigkeiten; der Gläubige nimmt alle Aussagen Gottes an, sei es über das Gute oder über das Böse. Alles, was die Schriften enthalten, ist wirklich Gottes Wort. Wir sollen aus seiner Wahrheit Nutzen ziehen, um jeder Schlinge des Satans und der alten Natur zu entgehen und uns davor zu hüten.
Seitdem das Blut Christi vergossen wurde, oder allgemeiner gesagt, seitdem Er starb und auferstand, können Menschen nur durch den Glauben an die Frohe Botschaft Frieden erlangen. Der Geist verkündigt durch die Botschaft des Evangeliums die rettende Gnade Gottes. Der Glaube findet in Christus nicht nur Leben, sondern auch Frieden. Damit ist er dafür zubereitet, sowohl im Gehorsam zu wandeln als auch die Gläubigen zu lieben, die in gleicher Weise Kinder Gottes sind. Es besteht kein Zweifel darüber, dass das Wesen der neuen Natur Liebe ist. Das uns verliehene ewige Leben besitzt diese Fähigkeit. Doch solange das Fleisch nicht gründlich gerichtet ist, stellt es sich hindernd in den Weg. Die Gnade leitet uns zunächst zu der Erkenntnis, wie unvereinbar diese beiden Wesensarten miteinander sind, ehe wir im Glauben weitergehen können. Eine Maschine mag mit all ihren verschiedenen Teilen betriebsbereit sein, doch sie kann erst in Betrieb genommen werden, wenn ihr die nötige Energie zugeführt wird. Das soll uns bildlich erläutern, was die betrachteten Verse uns mitteilen wollen.
Auch hier wird wieder die negative Seite gezeigt: „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe“ (V. 8). Es geht nicht darum, welche Gaben ein Mensch besitzt, welche Tätigkeit er ausübt, ob er Ansehen und Einfluss besitzt – wenn er nicht liebt, hat er Gott nicht erkannt. Das Wort Gottes verurteilt schonungslos allen Selbstbetrug. Wer aus Gott geboren ist, liebt seinen Bruder und hat Gott erkannt. Seine neuen, göttlichen Zuneigungen erstrecken sich auf einen ganz bestimmten Bereich. Er hat auch jene Erkenntnis Gottes, die unser Herr ausdrücklich als das ewige Leben bezeichnet. Was Er dem Vater in Johannes 17,3 vorstellte, wird hier tatsächlich als kurze lehrmäßige Feststellung im negativen Sinn wiederholt. „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe.“ Wo keine Liebe zu finden ist, ist auch keine Erkenntnis Gottes vorhanden. Der Grund dafür ist ebenso klar wie überzeugend: „denn Gott ist Liebe“.
Die folgenden Verse entfalten nun die Liebe Gottes, die in unumschränkter Gnade und Fülle in das leere Herz strömt, um es zum Lieben zu befähigen. Der Geist spricht von der strahlenden Entfaltung der Liebe in dem Sohn Christus, der in unermesslicher Gnade in diese Welt der Sünde, der Selbstsucht und der Finsternis gesandt wurde. Es dürfte schwer fallen, sogar in der Schrift eine Stelle zu finden, die dieser an schlichter Erhabenheit gleichkommt. „Hierin ist die Liebe Gottes in uns offenbart worden“ (V. 9). Es heißt hier nicht: „gegen uns“ oder „gegen alle“ wie in Römer 3,22. Dem Grundsatz nach ist die Liebe Gottes jedem Menschen gegenüber offenbart worden. Doch an dieser Stelle wird sie in begrenzterem Sinn gesehen und bezieht sich mehr auf „alle, die da glauben“, wie auch in dem betreffenden Vers in Römer 3 gesagt wird. Sie wurde „in uns offenbart“. Damit ist die Wirkung gemeint, die sie in uns ausübt. Das Wörtchen in scheint hier daher am richtigen Platz zu stehen. Es heißt somit richtig: „Hierin ist die Liebe Gottes in uns [oder: in Bezug auf uns] offenbart worden“.
In diesem Vers wird das Kommen unseres Herrn in seinem ganzen Ausmaß zur Einführung des ewigen Lebens gesehen. Daher steht der Ausdruck, dass Gott hat gesandt hat, im Griechischen im Perfekt, das die Fortdauer des Ergebnisses der in der Vergangenheit stattgefundenen Handlung zum Ausdruck bringt. Im nächsten Vers 10 steht dieser Ausdruck im Aorist. Hier wird lediglich die Tatsache genannt, doch hatte sie den tiefgreifendsten, erhabensten und bedeutsamsten Zweck, der je den Vater und den Sohn in der Zeit oder in der Ewigkeit beschäftigt hat. Der Unterschied in der Ausdrucksweise ist zwar nur gering, da das gleiche Verb, aber in verschiedenen Zeitformen, an beiden Stellen gebraucht wird. Da aber auch diese kleinen Unterschiede in der Schrift durch göttliche Weisheit gegeben wurden, tun wir gut daran, ihre jeweilige Bedeutung zu erforschen. Der Aorist drückt einfach die Tatsache aus, die hier allerdings von denkbar größter Bedeutung ist. Das Perfekt dagegen bringt das gegenwärtige Resultat einer Handlung in der Vergangenheit zum Ausdruck, das Ergebnis seiner Mission, nämlich dass wir durch Ihn leben möchten. „Hierin ist die Liebe Gottes in [oder: in Bezug auf] uns offenbart worden, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat“. Mit welcher Sorgfalt wird hier die Herrlichkeit seiner Person beschrieben! „Seinen eingeborenen Sohn!“ Eine Wiederholung dieser Worte im folgenden Vers 10 ist nicht nötig, da die Bezeichnung „sein Sohn“ natürlich dasselbe aussagt. Doch welche Weisheit zeigt sich hier, ein derartig gewaltiges Werk mit ewigen Folgen in die einfachsten Worte zu kleiden, damit das Herz von seiner unermesslichen Größe und unergründlichen Tiefe erfüllt und von der Liebe Gottes überströmt wird: „dass Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben möchten.“ Das war die erste Tat göttlicher Gnade; sie entsprach dem wichtigsten Bedürfnis derer, die geistlich tot waren. Und das gilt ja auch für jeden bis auf den heutigen Tag. Den zuallererst erforderlichen und vorrangigen Beweis seiner anbetungswürdigen Liebe lieferte Gott dadurch, dass Er den Gegenständen dieser Liebe, die Ihm gegenüber tot waren, Leben schenkte.
Sie waren sich ihres eigenen Zustandes nicht bewusst, hatten keine Kenntnis von Gott und waren in ihrem moralischen Verderben beidem gegenüber völlig gleichgültig. Es mochten vielleicht verstandesmäßige Vorstellungen von Gott vorhanden sein, aber kein Anzeichen von Leben, von einer Regung für Gott. In ihrem Bewusstsein war Gott ein Gegenstand größeren Schreckens als der fürchterlichste Dämon. Angesichts eines solchen Verderbens hat „Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt“! Welch eine Wahrheit! Wie wunderbar ist schon allein die bloße Tatsache, wenn wir daran denken, dass es aus lauter Liebe geschah! Es war keine Handlung, die im Himmel ausgeführt wurde. Gott sandte seinen eingeborenen Sohn in diese Welt, um Leben zu geben, um uns passend zu machen für den Bereich, aus dem Er kam. Kein Werk im Himmel konnte Gott und den Menschen befriedigen, sogar wenn der Sohn es ausführte. Der Weg der Liebe musste beschritten werden, indem der Sohn Mensch wurde, um Gott zu verherrlichen und dem geistlich toten Menschen durch den Glauben das Leben in seiner höchsten Entfaltung zu geben.
Auf der Erde lebten Juden und Nationen, doch alle waren gleichermaßen tot in Sünden und Übertretungen und von Natur Kinder des Zorns. Sie waren geistlich tot, wenn sie auch lebten. Weder hassten sie die Sünde, noch liebten sie die Gnade. Sowohl innerlich wie äußerlich war alles verderbt an ihnen. Ob es sich um Beschnittene oder Unbeschnittene handelte, die Gesinnung ihres Fleisches war nichts anderes als Feindschaft gegen Gott. Dennoch hat Gott seinen eingeborenen Sohn, die Wonne des Vaters von Ewigkeit her, in die Welt gesandt, damit wir durch Ihn Leben hätten; und das Leben, das Er gab, war sein eigenes Leben.
Das Alte Testament berichtet uns, wie sich das Menschengeschlecht – ob Juden oder Heiden – in all den Jahrtausenden Gott gegenüber verhalten hatte; der Bericht des Neuen Testaments zeigt uns noch schlimmere Dinge. Doch Er, der alles im Voraus wusste, sandte seinen Eingeborenen in die Welt; und weshalb? Etwa, um Gericht auszuüben? Nein, genau zum Gegenteil. Tote Menschen sollten mit dem ewigen Leben, das in seinem Sohn war, lebendig gemacht werden. Denn genau das wird in den Worten ausgedrückt: „damit wir durch ihn leben möchten“. Es handelte sich um ein neues Leben, das der Mensch nicht besitzt; sogar Adam im Zustand der Unschuld im Garten Eden besaß es nicht. Er fiel in Ungehorsam, als sich noch alles in ihm und um ihn herum in einem guten Zustand befand, und führte dadurch Tod und Gericht herbei. Im Gesetz wurde das Leben dem natürlichen Menschen, Israel, verheißen; wenn er gehorsam war, sollte er nicht sterben. Doch das einzige Ergebnis war, dass das Gesetz ein Dienst des Todes und der Verdammnis wurde (vgl. 2Kor 3,7.9). Denn die Einführung des Gesetzes stellte Anforderungen an den Willen des Menschen. Er wurde ein Übertreter und befand sich damit als Sünder in einer schlimmeren Stellung als vor dem Gesetz. So bewirkte die Sünde, damit sie als Sünde erschiene, durch das Gute den Tod, damit die Sünde überaus sündig würde (Röm 7,13). Nun war dem Sünder selbst das Fortbestehen des früheren Lebens verwehrt. Das Ergebnis war für den Sünder unter Gesetz völliges Verderben.
Aber es gab noch ein anderes Leben, das ewige Leben, und dieses Leben war in dem Sohn, dem eingeborenen Sohn, den Gott in seiner Liebe in die Welt gesandt hatte. Zweifellos weckt der Vater Tote auf und gibt ihnen Leben; es ist das souveräne Vorrecht Gottes. Daher macht auch der Sohn lebendig, wen Er will. Aber indem Er Mensch wurde (obwohl Er niemals aufhörte, gleichzeitig Gott zu sein), empfing Er in völliger Unterwerfung alles von Gott, wie es dem vollkommenen Menschen geziemte. „Denn wie der Vater Leben in sich selbst hat, also hat er auch dem Sohn gegeben, Leben zu haben in sich selbst“ (Joh 5,26). Es war der Sohn, der gesandt wurde, um Mensch zu werden und mit dem Menschen Umgang zu haben. Er war stets der Gegenstand des Glaubens. Und seitdem Er Mensch wurde, ist Er es noch offensichtlicher und völliger als Jesus Christus und zugleich Gottes Sohn, beides in einer Person. Auch wurde es immer deutlicher, zu welchem Zweck Gottes Liebe Ihn herabgesandt hatte. Er kam, um sich der Menschen, nicht der Engel, anzunehmen. „Das Leben war das Licht der Menschen.“ Aber eine äußere Erleuchtung war für den Menschen in seiner Not nicht ausreichend. Obwohl Er in diese Welt kam und jeden Menschen erleuchtete (oder ins Licht stellte), so war doch viel mehr erforderlich. Er war das Leben für jeden, der glaubte. „So viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden.“ Sie waren nun aus keinem natürlichen Ursprung, sondern aus Gott geboren. Doch ohne das Wort Gottes und ohne den Geist sind kein Glaube und keine neue Geburt möglich.
Gottes Wort ist notwendig, weil es zum eigentlichen Wesen des Glaubens gehört, dass man Gott und seinem Wort glaubt, anstatt sich auf eigene Gedanken oder die anderer Menschen zu stützen (vgl. Röm 10,17; Jak 1,18; 1Pet 1,23-25). Christus ist der göttliche Same, der durch das lebendige und bleibende Wort Gottes mitgeteilt wird. Adam und Eva fielen im Garten Eden in Sünde, weil sie dem Wort Gottes gegenüber gleichgültig waren und sich ihm nicht unterwarfen. Eva wurde durch die Verführung der Schlange betrogen; Adam nicht, doch war seine Übertretung vermessener. Das Wort Gottes beherrschte nicht ihr ganzes Wesen. Der listige Feind konnte Misstrauen gegen den in ihre Herzen säen, der ihnen verboten hatte, von dem Baum zu essen und dadurch die Fähigkeit zu erlangen, Gutes und Böses zu erkennen. Das Begehren nach dieser Frucht folgte, als die Frau sich nicht davor fürchtete, noch etwas länger mit dem Geschöpf zu verhandeln, obwohl es dessen einziges Ziel war, sie zum Ungehorsam gegen Gottes eindeutiges Verbot und zum Zweifeln an der angedrohten Todesstrafe zu verleiten. „Nicht doch, Gott wird doch nicht so hart sein! Schau nur die schöne Frucht an! Wie begehrenswert, um dich einsichtig zu machen. Gott möchte sich allein die Kenntnis des Guten und Bösen vorbehalten. Aber du wirst sehen, welch ein neuer Zustand es sein wird, wenn ihr Gutes und Böses selbständig unterscheiden könnt. Jetzt wisst ihr noch nichts darüber; aber habt ihr erst einmal von der Frucht des Baumes gegessen, dann werdet ihr durch euer Gewissen selbst beurteilen können, ob eine Sache gut oder böse ist. Warum wollt ihr euch nicht von Ihm unabhängig machen, der den Menschen so geringschätzig behandelt? Warum wollt ihr nicht eure eigenen Rechte über euer ganzes Reich behaupten?“
Sie handelten im Eigenwillen, der die Wurzel alles Bösen ist. In seiner Liebe kam der Sohn Gottes herab, um in die Bresche zu treten. Das erste Erfordernis für einen Menschen ist nicht die Sühnung durch das vergossene Blut des Heilandes. Niemand wird dem Evangelium je glauben können, ohne eine Natur aus Gott empfangen zu haben, die Gott um das bittet und anfleht, was allein das Evangelium anbietet. In jedem Fall ist man bereits aus Gott geboren, ehe man völlig auf dem Versöhnungswerk Christi zu ruhen vermag. Denn sobald man das neue Leben empfangen hat, fühlt man auch die Bedürfnisse dieses Lebens und erkennt seine Kostbarkeit. Im Glauben isst man das Fleisch Christi und trinkt sein Blut (Joh 6). Daher wird auch in Römer 10,9 gesagt, dass man in seinem Herzen glaubt, dass Gott Ihn aus den Toten auferweckt hat. Das bedeutet keine besondere Steigerung in Gefühlserregungen; es hat auch nichts damit zu tun, dass jemand sich Gemütsbewegungen hingibt. Es bedeutet einfach, dass das Herz die ihm von Gott gesandte Frohe Botschaft bereitwillig aufnimmt und der Wahrheit nicht mehr widersteht. Mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit; es stützt sich dabei darauf, wie Gott selbst das Sühnungswerk des Herrn Jesus einschätzt. Dann wird mit dem Mund bekannt zum Heil, zur Ehre Gottes und seines Sohnes, des heute noch verworfenen Herrn.
Das erste Erfordernis ist somit das Leben, das ewige Leben in dem Sohn. Wie kann man ohne dieses ein angemessenes Empfinden für seine Sünden haben oder Gottes heilige Natur auch nur annähernd erkennen? Man empfindet ja nur Furcht vor Gott. Diese ist auch bei einem Heiden vorhanden, und sogar die Dämonen glauben und zittern. So sagt es uns das Wort göttlicher Autorität und erklärt damit manche offenbarte Tatsachen. Der Grund für ihr Verhalten ist das Bewusstsein, dass es für ihre Auflehnung gegen Gott keine Vergebung gibt. Obwohl sie wissen, wer Jesus ist, nützt es ihnen nichts; sie sind zum ewigen Verderben verurteilt. Ihre Sünde kann nicht getilgt werden. Für einen bösen Geist, einen gefallenen Engel, besteht keine Möglichkeit der Errettung.
Völlig anders ist jedoch die Lage des gefallenen Menschen. Die Geburt Christi bezeugte das Wohlgefallen Gottes an den Menschen; wie viel mehr spricht erst sein sühnender Tod davon! Damit sein vergossenes Blut aber Herz und Gewissen reinigen kann, empfängt der Mensch durch die Annahme des Herrn Jesus eine neue Natur. Man ruht noch nicht auf seinem Werk, glaubt aber an seine im Fleisch offenbarte Gnade und an die Herrlichkeit dessen, der diese wunderbare Mission der Liebe Gottes ausführte. In dem Augenblick, in dem das Herz den Herrn Jesus so, als die Gabe Gottes, aufnimmt, wird einem Menschen das Leben vermittelt. Das Leben wird immer sofort geschenkt, während es bei dem Frieden mit Gott keineswegs immer so ist. Es ist eine Tatsache, dass jemand erst manche Erfahrungen durchkosten muss und oft Monate oder selbst Jahre benötigen kann, um in den Genuss des Friedens mit Gott zu gelangen. Trotzdem kann er während der ganzen Zeit Teilhaber der göttlichen Natur sein, weil er sich vor dem Sohn Gottes gebeugt hat, ohne schon einen gefestigten Frieden zu besitzen. Sobald er den Herrn angenommen hat, ist das Leben sein Teil. Damit besteht auch ein göttliches Wahrnehmungsvermögen für das Böse im Inneren wie auch bezüglich des früheren Wandels. Man erkennt nicht nur, was man getan hat, sondern auch, was man ist. Das sind die Auswirkungen des göttlichen Lebens im Gläubigen. Daher wird das Leben hier, genau an der richtigen, ihm gebührenden Stelle, eingeführt, ehe von dem Sühnungswerk, das uns von der Schuldenlast befreit hat, gesprochen wird. „Hierin ist die Liebe Gottes in [Bezug auf] uns offenbart worden, dass Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben möchten.“ Den Grund dafür haben wir schon genannt. Wir waren bis dahin Gott gegenüber geistlich tot und ohne die geringste Lebensverbindung mit Ihm. Wir hatten nur die furchtbare Verantwortung, der Natur nach göttlicher Abstammung zu sein, aber uns durch unsere bösen Werke als Feinde Gottes erwiesen zu haben. In unserem durch die Sünde verderbten Zustand half es uns nichts, im Gegensatz zu der niederen Schöpfung im Bild Gottes geschaffen zu sein; wir konnten dadurch nicht errettet werden. Der Mensch unter Verantwortlichkeit fiel in Sünde, und das Unterfangen der Juden, dem Gesetz Gottes gehorsam zu sein, erhöhte nur noch ihre Verantwortung und konnte den Menschen in keiner Weise von dem kommenden Zorn erretten. Die Menschheit bestand damals entweder aus solchen, die ohne Gesetz ihrem eigenen Willen gehorchten, oder aus Juden, die durch das Halten des Gesetzes Gunst bei Gott zu erringen trachteten. Doch die rettende Gnade ist nicht im Sünder, sondern im Retter zu finden. „Gott aber erweist seine Liebe gegen uns darin, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist“ (Röm 5,8). So lautet das Evangelium. Nicht wir liebten Ihn, sondern Er liebte uns, als wir noch Sünder waren, aus freiem Triebe mit unverdienter Liebe.
In unserem Vers 10 wird uns diese zweite Seite seiner Liebe gezeigt. Der Apostel zeigt uns, wie Gottes Liebe im Blick auf unsere Sündenlast wirkte, nicht nur bezüglich unseres geistlich toten Zustandes. Die Liebe Gottes tat ein Werk, das für sein Herz und für das Herz seines Sohnes überaus schmerzlich war. Der Mensch kann nie erfassen, was es für den Herrn Jesus bedeutete, das Gericht von Seiten Gottes über unsere Sünden zu erdulden. Das übersteigt auch völlig das Denken und Verstehen der Gläubigen. Sogar die Apostel sahen zunächst nur die äußere Seite des Kreuzes, bis ihnen der Herr das Verständnis öffnete, um die Schriften zu verstehen.
Die Schrift hatte die versöhnende Gnade und die unermesslichen Leiden des Herrn bereits im Gesetz, in den Psalmen und den Propheten im Voraus bildlich dargestellt. Keiner der Jünger des Herrn hatte wohl das feierliche Ritual des großen Versöhnungstages nicht miterlebt, keiner hatte nicht den einzigartigen Psalm 22 bereits gehört und sich wohl über die Worte in Jesaja 53 verwundert, nicht etwa wegen einer Unverständlichkeit der Ausdrücke, sondern wegen der dargestellten befremdenden Wahrheit. Die Lösung dieser Fragen in allen drei Schriftstellen ist in dem Sühnungswerk des Herrn Jesus für unsere Sünden zu finden.
Keines seiner Worte vor dem Kreuz lieferte den Schlüssel zu ihrem Verständnis. Nicht einmal der Anblick des Gekreuzigten öffnete das Herz der Jünger für die Wahrheit. Für Gott bedeutete das Blut seines Kreuzes, dass der Frieden errungen war. Für die Jünger bedeutete das Kreuz bis dahin nur bittere Qual und grausame Enttäuschung; denn seine Worte über die Bedeutung seines Todes waren bis dahin auf taube Ohren gestoßen. Sie hatten die Schrift noch nicht verstanden, dass Er so leiden musste, da sonst kein Mensch, auch sie nicht, errettet werden konnte.
Am Auferstehungstag sprachen die beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus niedergeschlagen das aus, was sie alle bewegte, als sie zu Ihm sagten: „Wir aber hofften, dass er der sei, der Israel erlösen solle“ (Lk 24,21). Eben hierzu hatte Er ja die wirksame und ewige Grundlage gelegt, wie uns dieser Vers zeigt. Aber was gab unser gesegneter Heiland zur Antwort? „O ihr Unverständigen und trägen Herzens, an alles zu glauben, was die Propheten geredet haben! Musste nicht der Christus dies leiden und in seine Herrlichkeit eingehen“ (V. 25.26). Erst kurz vorher hatte Er ihnen gesagt: „Zuvor aber muss er vieles leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht“ (Lk 17,25).
Betrachten wir eine dieser Schriftstellen eingehender im Licht des auferstandenen Herrn und nach dem Zeugnis, das der Heilige Geist gegeben hat! Was bedeutete jener Schrei, der nicht von den beiden Räubern zu seiner Seite, sondern von dem verworfenen Messias in ihrer Mitte kam? „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er deutete auf die größte Bitterkeit dieses beispiellosen Leidens hin, dass der gerechte Knecht, der geliebte Sohn, von seinem Gott verlassen wurde, als Er, von seinem Volk verabscheut, von den Heiden verspottet und von seinen Jüngern verlassen, dort hing. Das Licht des Angesichts seines Vaters hatte Ihn bei jedem Schritt seines ganzen Weges auf der Erde mit all seinen Versuchungen und Schmerzen ununterbrochen erfreut. Warum war es jetzt vor Ihm verborgen, als Er es zum Trost und zur Stärkung am meisten benötigte? Doch Er wusste alles; aber die Antwort sollten jene im Glauben geben, die einst tot, jetzt bekennen konnten, dass sie nichts als Sünden hatten, und zwar durch die Gnade dessen, der sie an seinem Leib auf dem Holze trug.
O, wie groß war unsere Schuld! Doch größer noch war die Liebe dessen, der seinen Sohn herabsandte nicht nur als das Leben für die Toten, sondern auch als die Sühnung für unsere Sünden, wie hoch der Preis auch sein mochte. Und der Preis, der bezahlt werden musste, war unermesslich hoch. Schmach, Verachtung, spottendes Gelächter und Hohn von hohen und niedrigen, religiösen und weltlichen Menschen, von Soldaten, ja sogar von den gekreuzigten Verbrechern, verletzten seine Seele.
Viele Stiere hatten Ihn umgeben, mächtige Stiere von Basan Ihn umringt; Hunde und eine Rotte von Übeltätern hatten Ihn umzingelt. Wie fühlte Er die körperlichen Leiden aufgrund seiner persönlichen Vollkommenheit umso stärker, als Er wie Wasser hingeschüttet war und alle seine Gebeine sich zertrennt hatten. Sein Herz war wie Wachs zerschmolzen, seine Kraft vertrocknet wie ein Scherben, seine Zunge klebte an seinem Gaumen. Aber was war das alles im Vergleich dazu, dass Er von seinem Gott verlassen wurde, wie Er es selbst empfand und auch zum Ausdruck brachte?
Viele Gläubige des Alten Testaments hatten von Heiden, ja, auch von Juden, körperliche Qualen größten Ausmaßes erduldet und hatten sie geduldig und freudig ertragen. Noch weit größere Scharen seiner Jünger haben seither von Seiten der zu Unrecht „katholisch“ genannten Kirche noch schlimmere höllische Torturen erlitten, besonders durch ihr Kind, die abscheuliche Inquisition. Aber auch sie triumphierten in seinem Namen über diese schrecklichsten irdischen Verfolger. Doch Christus musste bekennen, von seinem Gott verlassen zu sein; Er bekannte es vor seinem Gott in seinen Seelenqualen am Kreuz als sein tiefstes Leid, so dass auch seine Feinde es hören konnten. Sie verstanden es ebenso wenig wie seine Freunde, bis der auferstandene Herr alles ins rechte Licht rückte und die Wahrheit als Kraft des Friedens durch den Heiligen Geist in ihr Bewusstsein drang und allen bezeugt werden konnte.
Doch der demütige Herr ging noch weiter. Sogar in den Augenblicken, als Er die Schrecknisse des Verlassenseins von Gott in seiner heiligen und von Liebe erfüllten Seele empfand, rechtfertigte Er den völlig, der Ihn über alles menschliche Verstehen hinaus zerschlug und zermalmte: „Doch du bist heilig, der du wohnst unter den Lobgesängen Israels“ (Ps 22,4). Ja, noch mehr, Er erkannte an, dass sein Verlassensein von Gott eine einmalige Ausnahme bildete: „Auf dich vertrauten unsere Väter; sie vertrauten, und du errettetest sie. Zu dir schrien sie und wurden errettet; sie vertrauten auf dich und wurden nicht beschämt. Ich aber bin ein Wurm und kein Mann, der Menschen Hohn und der vom Volk Verachtete“ (V. 5–7). Doch das alles musste geschehen, wenn Er die Sühnung für unsere Sünden werden sollte. Denn wir, die Schuldigen, konnten gerechterweise nicht gerettet werden, wenn Gott nicht den Sündlosen für uns zur Sünde machte, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm. Das, und nur das allein, ist die wahre Antwort auf seine Frage „Warum?“, die einzige und vollständige Lösung dieses Rätsels. Für alle Ungläubigen aber bleibt diese Tatsache immer noch unerforschlich, besonders für Israel. Doch wenn die Decke, die noch auf ihren Herzen liegt, weggenommen wird, dann wird gerade das Leiden des Messias der Anlass zu ihrem ewigen Lobgesang sein.
Das enthüllt auch die zweite Hälfte von Psalm 22 in aller Klarheit und Gewissheit. Sie beginnt mit der kleinen Herde der Christen, ehe das Licht des Himmels über der „großen Versammlung“ aufgeht (V. 25) und allen Enden der Erde den rechten Weg zeigt, damit sie sich erinnern und zum Herrn umkehren, und alle Geschlechter der Nationen vor Ihm niederfallen (V. 28). Das wird nicht im Zeitalter der Versammlung oder des Christentums stattfinden, sondern in den Tagen seines Königreichs, wenn Er inmitten der Nationen herrschen wird, was heute ja noch keineswegs der Fall ist.
Es ist äußerst wichtig und notwendig, die Wahrheit festzuhalten, dass Christus wegen der Sühnung der Sünden von Gott verlassen wurde. Nur so kann die Grundlage der Gnade Gottes und unseres Friedens mit wahrem geistlichem Verständnis ergriffen und festgehalten werden. Nur dann können wir, wenn auch in großer Schwachheit, die unergründlichen Leiden richtig einschätzen, die der Mann der Schmerzen für Gott und für uns erduldete, um Ihn zu verherrlichen und die Gläubigen zu erretten. In diesem Punkt sind die Theologen, auch die wahrhaft gottesfürchtigen, oberflächlich und mangelhaft in ihrer Beurteilung. Das erweist sich als ein entsprechender Verlust für sie selbst als auch für alle, die sich ihrer Führung anvertrauen. Man braucht da nicht nur an die griechische oder die römische Kirche zu denken, wo in dieser Hinsicht äußerste geistliche Armut herrscht. Aber sehen wir uns einmal die ausgeprägtesten Vertreter der evangelischen Richtung, die Anglikaner, Lutheraner oder Reformierten an. Oder nehmen wir die Nonkonformisten, die sich rühmen, in ihrem Denken frei von Tradition und Vorurteil zu sein. Von diesen könnte man sich keinen passenderen Vertreter denken als den genialen Matthew Henry, den frommen Sohn eines frommen Vaters, der 1662 durch die sogenannte „Uniformitätsakte“ zum Austritt gezwungen wurde.
Doch sogar dieser Angesehenste unter den englischen Schriftauslegern erweist sich, wie alle anderen, als völlig unfähig, den Kerngedanken zu erfassen, weshalb der Herr Jesus am Kreuz von Gott verlassen wurde. Er sagt nämlich zu Psalm 22,1.2: „Es ist eine traurige Klage darüber, dass Gott sich abgewandt hat. Man kann sie auf David oder auch auf jedes andere Gotteskind anwenden, das unter der Last seines Missfallens seufzt und die Zeichen seiner Gunst vermisst ...“ Natürlich glaubte auch Henry daran, dass diese Schriftstelle auf den gekreuzigten Christus anzuwenden sei, sonst könnte er ja nicht als ein Gläubiger betrachtet werden. Aber sogar da, wo er das tut, geschieht es in oberflächlicher Weise, wie es stets der Fall sein wird, wenn diese Stelle nicht ausschließlich auf Christus angewandt wird.
Psalm 22 spricht durchgehend nur von Ihm allein als dem großen Gegenstand und zeigt in den Eingangsversen sein Verlassensein ausschließlich als Folge seiner Sühnung für alle Gläubigen, die vor oder nach dem Kreuz gelebt haben oder leben. Keiner von ihnen hat je sein Verlassensein von Gott geteilt; das konnte nur Er allein ertragen, obwohl es für Ihn, den Heiligen Gottes, unermesslich mehr bedeutete als für alle Heiligen, die je gelebt haben. Ausdrücklich verneinte der Herr vor seinem Gott (V. 4.5) dies im Blick auf alle, die vor Ihm gelebt hatten. Dasselbe sagt auch der Heilige Geist im Neuen Testament in Bezug auf jeden Christen. Christus wurde von Gott um unserer Sünden willen verlassen, damit wir und alle an Ihn Gläubigen niemals von Ihm verlassen würden. Daher ist es vollkommen falsch, diese Stelle auf „David oder irgendein anderes Kind Gottes“ anzuwenden. Wer so etwas tut, entkräftet, ohne es zu merken, in ernster Weise das Evangelium. Sogar wenn die Sünde eines Gläubigen die schärfste Züchtigung erfordert, so handelt Gott stets mit ihm als Vater. Er züchtigt die, die Er liebt und geißelt jeden Sohn, den Er aufnimmt; denn wir alle straucheln in vielen Dingen. Er hat aber verheißen: „Ich will dich nicht versäumen und dich nicht verlassen“ (Heb 13,5). Das ist die absolute Wahrheit über seine Gnade; und da sie sich auf unsere irdischen Schwierigkeiten bezieht, wie viel mehr dann auf alles, was für unsere Beziehungen zum Vater aufgrund des Sühnungswerkes Christi erforderlich ist!
Bei der vorbildlichen Belehrung des Versöhnungstages möchte ich mich hier auf den schönen Unterschied zwischen den beiden Böcken beschränken. Beide zusammen weisen im Vorbild auf das eine Sühnopfer für die Kinder Israel hin. Das eine Los war für den Herrn bestimmt, das andere für Asasel, den Bock, der fortgeschickt wurde. Der erste Bock wurde geschlachtet und sein Blut innerhalb des Vorhangs gebracht. Auf den zweiten Bock, der die Ergänzung zum ersten darstellt, bekannte der Hohepriester alle Ungerechtigkeiten des Volkes Israel und alle ihre Übertretungen nach ihren Sünden und legte sie im Vorbild auf seinen Kopf. Dann sandte er den Bock durch einen bereitstehenden Mann fort in ein ödes Land, in die Wüste, damit er nie mehr gesehen würde. Diese Handlung zeugt davon, wie Christus unsere Sünden stellvertretend in ein Land des Vergessens wegtrug, während der geschlachtete Bock von der Sühnung für die Sünden spricht, die vor dem Herrn gerichtet wurden zur Rechtfertigung seiner Natur, seiner Majestät und seines Wortes, die durch das Böse verunehrt worden waren.
Zusammengenommen bildeten die beiden Handlungen das Versöhnungswerk Christi vor. Sie wiesen darauf hin, dass Gott den Retter, seinen eigenen Sohn, nicht verschonte, um schuldige Sünder wie uns begnadigen zu können. In dem Opfer, das Christus unseretwegen vor Gott darbrachte, um uns in Ewigkeit als Gerettete sicherzustellen, sehen wir die Liebe Gottes, sowohl des Vaters als auch des Sohnes, in vollkommener Weise offenbart.
Über Jesaja 52,13 - 53,12 brauche ich nur wenig zu sagen. Dieser Abschnitt spricht sehr deutlich über den Messias, der erhöht und sehr hoch sein würde, der sich aber zunächst für sein sündiges Volk zum Opfer darbringen musste, damit sie an den Segnungen und der Herrlichkeit teilnehmen könnten, die Er durch seine Gnade für sie erwerben würde. Wir nehmen an den Leiden teil, die Er in seinem Leben hier erduldete; manche werden auch seiner Leiden als Märtyrer teilhaftig. Aber an seinen sühnenden Leiden und seinem stellvertretenden Tod kann kein Geschöpf teilhaben. Er steht hierin völlig allein da. Und nur diese Leiden wurden in 3. Mose 16 im Vorbild dargestellt. Nur sie erforderten sein Verlassensein von Gott, das wir am Anfang von Psalm 22 finden. Er allein erduldete das Gericht Gottes über die Sünde und über unsere Sünden; nichts anderes als dieses Gericht hatte zur Folge, dass Gott Ihn verlassen musste.
Wir mögen wegen unserer Verfehlungen strenge Züchtigungen erdulden müssen, aber stets handelt Gott in Liebe mit uns. Er aber, nur Er allein, litt als Sündopfer für uns. Was bedeutet es, dass Er um unserer Übertretungen willen verwundet und unserer Ungerechtigkeiten wegen zerschlagen wurde, dass die Strafe zu unserem Frieden auf Ihm lag? Was bedeutet es, dass der Herr alle unsere Ungerechtigkeiten auf Ihn legte? „Wegen der Übertretung meines Volkes hat ihn [nicht Israel, wie die Juden sagen] Strafe getroffen.“ Und noch deutlicher sagt es der Prophet: „Doch dem Herrn gefiel es, ihn zu zerschlagen, er hat ihn leiden lassen. Wenn seine Seele das Schuldopfer gestellt haben wird“. Was bedeutet das anderes als sein Sühnungswerk? Weiter heißt es: „und ihre Ungerechtigkeiten wird er auf sich laden“, und „er aber hat die Sünde vieler getragen“. Nur blinder, eigenwilliger Unglaube kann das ablehnen, was Gott so klar ausdrückt, wie Worte es nur deutlich machen können. „Hierin ist die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben“ (V. 10). Gott zu lieben war eine Forderung des Gesetzes Gottes, der aber ebenso wenig entsprochen wurde wie der Forderung nach Liebe zum Nächsten. Der Mensch betrügt sich leicht selbst bei der Einschätzung seiner Liebe. Wie viele Juden versuchten, andere glauben zu machen, dass sie sowohl Gott als auch die Menschen liebten. Doch ihr Tun blieb kläglich hinter dem göttlichen Maßstab zurück, wie der Herr Jesus ihnen bewies, als Er hier auf der Erde war. Ehe das Herz durch das Erlösungswerk Christi freigemacht ist und Frieden mit Gott besitzt, vermag die Liebe unmöglich die Schranken und Hindernisse des Todes zu durchbrechen. Sogar Gläubige, die sich unter das Gesetz stellen, gleichen dem mit seinen Grabtüchern gebundenen Lazarus, der zwar auferweckt war, aber gelöst werden musste, um wandeln zu können. Wie lässt sich das Herz gewinnen? „Hierin ist die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden.“ Je stärker das Gewissen die Forderungen des Gesetzes empfindet, umso unglücklicher ist es. Die Seelen, die diesbezüglich geübt sind, werden nicht leichtfertig vor Gott wandeln. Sie empfinden ihr Versagen und sind schmerzlich gebeugt über ihren Zustand. Sie fürchten, dass Gott ihnen gegenüber in der gleichen Ungewissheit ist, wie sie selbst sie notwendigerweise Ihm gegenüber hegen. Dass Er den Gottlosen aufgrund des Sühnungsopfers Christi rechtfertigt, ist jedoch der unumstößliche Beweis seiner Liebe zu uns, und Er liebte uns, als wir noch Sünder waren.
Wie wir gesehen haben, muss der Besitz des Lebens dem Genuss des Friedens vorausgehen. Jemand kann aus dem Sündenschlaf durch manche Schriftstelle, vielleicht durch die ernsten Aussprüche Gottes über die Sünde und den Sünder, aufgeweckt werden. Das finden wir zum Beispiel in dem Gleichnis über den verlorenen Sohn, das sich den beiden Gleichnissen vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme anschließt. Im zweiten Gleichnis stellt der Herr den Verlorenen in seinem toten Zustand dar; in dem vorhergehenden als ein Schaf, das sich eigenwillig von der Herde entfernt hat. Der Mensch kann ein böses Leben führen und sich wissentlich von Gott entfernen; es gibt ein anderes Leben, dem gegenüber er geistlich tot ist.
Diese beiden Gesichtspunkte des geistlichen Todes werden in den ersten Gleichnissen gezeigt. Das törichte Schaf, das unachtsam davonläuft und sich damit allem Unheil aussetzt, zeigte den Menschen in seiner eigenwilligen Abkehr von Gott. Die verlorene Münze zeigt den in Sünden toten Menschen. Der Hirte nimmt alle Mühsal auf sich bei der Suche nach dem Verlorenen. Das Licht der Wirksamkeit des Geistes leuchtet, bis das verlorene Geldstück gefunden ist. Aber das ist noch nicht alles. Es bedarf des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, um das Bild zu vervollständigen. In diesem wird ein zweifaches göttliches Werk sichtbar. Zunächst kommt der Verlorene „zu sich selbst“, das heißt er tut Buße. Er verurteilt sich selbst als Sünder. Er anerkennt, dass er gegen den Himmel und vor seinem Vater gesündigt hat, wie es die Worte des Gleichnisses ausdrücken. Er befindet sich damit auf dem rechten Weg, er sucht Gott. Vorher hatte er die Befriedigung seiner Lüste und Begierden gesucht. Jetzt, nachdem er zu sich selbst gekommen ist, „machte er sich auf und ging zu seinem Vater“. Doch besaß er noch keinen Frieden. Er befand sich innerlich noch unter den Forderungen des Gesetzes: „mache mich wie einen deiner Tagelöhner!“ Das ist genau die Sprache des Gesetzes; anstatt zur Freiheit zu führen, kann es den Menschen nur in Knechtschaft bringen. Nur das Evangelium kann bezeugen, dass alle Bande durch den Heiland zerbrochen worden sind und dass der Sklave sich jetzt in der Freiheit des Christus befindet.
Beachte dieses in der Art, wie die Gnade dem verlorenen Sohn begegnet: „Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und wurde innerlich bewegt und lief hin und fiel ihm um den Hals und küsste ihn sehr.“ Der Sohn war zweifellos sehr betrübt über sich selbst und malte sich den Empfang aus, den der Vater ihm bereiten würde. Doch der Vater ist es, der dem Sohn entgegenläuft, nicht umgekehrt. Es ist auch der Vater, der ihn umarmt, trotz seines bösen Wandels und seiner Lumpen. Welch einen traurigen Anblick bietet der Sohn in dem Zustand, in den ihn seine Torheit und seine Sünden gebracht haben! In dem Vater sehen wir die alles überwindende Liebe. Er lässt den Sohn gar nicht so weit kommen zu sagen: „Mache mich wie einen deiner Tagelöhner!“ Er lässt das beste Kleid für ihn herausbringen, einen Ring an seinen Finger stecken und seine Füße mit Sandalen bekleiden. Das gemästete Kalb wird geschlachtet und ein Fest gefeiert, wie es noch nie in jenem Hause stattgefunden hatte. Das alles geschah für einen Sohn, der tot, aber nun wieder lebendig war, der verloren gewesen, aber nun gefunden worden war.
Durch dieses Gleichnis lernen wir anschaulich das, was die Schrift auch als Tatsache lehrt: Die Güte Gottes, die zur Buße leitet, die vom bösen auf den rechten Weg führt und das Selbstgericht in einem Menschen bewirkt, alles Kennzeichen des göttlichen Lebens. Der Sohn war von der Furcht und dem Gesetz erst befreit, als er in den Armen des Vaters lag und die durch Gnade geschenkte Sohnschaft völlig empfand. Erst dann und auf diese Weise erhielt er die Gewissheit, dass alles geordnet war. Die Umarmung des Vaters gab ihm völlige Klarheit, und alle weiteren Handlungen des Vaters an ihm waren das entsprechende Ergebnis. Genauso verhält es sich mit dem Evangelium, aber viele machen bereits an der Schwelle halt. Sie haben zwar das Land verlassen, in dem nicht einmal den nötigsten Bedürfnissen entsprochen wurde, sind aber noch nicht in den Bereich eingetreten, wo der Vater und der Sohn alles reichlich darreichen. Das sehen wir auch in dem Gegenstand unserer Betrachtung. „Hierin ist die Liebe“, dass den Toten Leben gegeben und Sühnung für die Schuldigen bewirkt wird. Ist das nicht ein größerer Segen, als wenn man nie ein Sünder gewesen wäre? Adam genoss im Paradies so etwas nicht. Er besaß kein Leben aus Christus. Dieses wurde im Paradies nicht geschenkt. Er mag es später aufgrund des Glaubens erlangt haben, wie auch die übrigen alttestamentlichen Gläubigen. Doch während seines Aufenthaltes im Paradies besaß er es nicht. Es ist tatsächlich so, dass Gott das Beste gab, als der Mensch sich zum Schlimmsten entwickelt hatte. Seine Gabe war Christus, der nicht nur herniederkam, um uns Leben zu geben, sondern um als eine Sühnung für unsere Sünden zu sterben.
Wenn wir an die Herrlichkeit dessen denken, der diesen Tod erduldete, an alle seine Leiden, besonders unter Gottes Gericht, an die Sünden und Missetaten, die Er stellvertretend auf sich nahm, so stehen wir voll Bewunderung vor Ihm, der den Riss zwischen Gott und dem Sünder in so wunderbarer Weise überbrückte, wie niemand anderes es hätte tun können. Das finden wir hier ausgedrückt: „Nicht, dass wir Gott geliebt haben“; wir hätten das versuchen können, hätten aber kläglich versagt. Das war das Gesetz. Hier aber finden wir das Evangelium: „sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden.“ Mit einem Werk, mit seinem einmaligen Leiden hat Er alles vollbracht. „Denn es hat ja Christus hat einmal [das genügte] für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit er uns zu Gott führe“ (1Pet 3,18). Er war Mensch, aber zugleich Gott. Er war der Sohn, und Er ist der Auferstandene. Damit ist der herrliche Beweis erbracht, dass Er den Sieg errungen hat. Tatsächlich konnte Er nicht versagen; wie konnte Gott etwas misslingen? Und war Er nicht der eingeborene Sohn Gottes? Wenn wir der Schrift glauben, dürfen wir sie nicht anzweifeln. Furcht und Versagen kennzeichnen den gefallenen Menschen. Er ist ein Sünder und fürchtet daher das Gericht Gottes. Gott verlangt aber nicht, dass der Mensch sich selbst vertrauen sollte; Er gebietet ihm, an den Herrn Jesus Christus zu glauben. Er weiß nur zu gut, dass der Mensch Ihn nicht liebt. Aber Er fordert dich auf, an seine Liebe zu glauben, die sich in Christus und in seinem Tod als Sühnung für den Menschen offenbarte. Sage nicht, du wärest zu schlecht dafür. Zwar bist du so schlecht, wie du nur sein kannst, und viel schlechter, als du es selbst glaubst. Aber sei so ehrlich, den Platz des Verlorenen einzunehmen, dann wird alles Gerede über deine Schlechtigkeit ein Ende finden. Denn allein für die Verlorenen kam und starb Er auf dieser Erde.
Der verlorene Sohn meinte, sich tief zu demütigen, als er sich vornahm, um den Platz eines Tagelöhners zu bitten. Doch in Wirklichkeit war er gar nicht in der Lage, den Platz eines Knechtes einzunehmen. Meinst du, man würde einen Menschen mit einer solchen Vergangenheit als Knecht oder Diener einstellen? Aber es geht tatsächlich gar nicht um unseren Charakter, denn die unumschränkte Gnade erhebt sich über alle Sünde und Ungerechtigkeit. Jemand muss den Platz einnehmen, dass er nichts als ein Sünder ist und es Gott überlassen, ihm nichts als seine Liebe zuzuwenden. Er gibt mir nicht nur das Leben, durch das ich empfinde, was Gott zukommt und was sich für sein Kind geziemt, sondern auch die Sühnung, die die Frage aller meiner Sünden ordnet und sie austilgt. Aber beachte: alle Sünden oder gar keine! Wenn Vergebung der Sünden, dann aller Sünden! Das ist der im Evangelium aufgezeigte Weg, wie Gott die Sündenfrage ordnet. Jeder Gläubige ist berufen, darin zu ruhen.
Liebe Brüder, seid ihr auf diese Weise in Christus zur Ruhe gekommen? Oder sagt noch einer von euch, der an Jesus, den Sohn Gottes, den Eingeborenen, glaubt: „mache mich wie einen deiner Tagelöhner“? Er kam als Mensch, aber brachte uns ewiges Leben. Gerade durch diese Gabe des Lebens werden uns unsere Sünden bewusst, und wir können glauben, dass Er die Sühnung ist für unsere Sünden. Im jüdischen System wurden fortwährend Opfer dargebracht, insbesondere immer wieder Sündopfer. Jetzt aber, da der Sohn sich selbst zum Opfer dargebracht hat, wird die Vergebung der Sünden angeboten, es ist kein Opfer für Sünden mehr nötig (Heb 10,18). „Denn mit einem Opfer hat er auf immerdar [oder: ununterbrochen, ein noch stärkerer Ausdruck] die vollkommen gemacht, die geheiligt werden.“ Als „geheiligt“ sind die zu verstehen, die durch das Blut Christi, nicht durch das Gesetz, für Gott abgesondert sind.
Geliebte Brüder, ist das auch euer Glaube? Der Herr schenke, dass dies der Fall ist und dass ihr euch der Liebe Gottes erfreut, die Er durch die Sendung seines Sohnes kundgetan hat, wie sie der Apostel Johannes hier in dem zweifachen Zweck seines Kommens vor uns stellt (vgl. V. 9.10). Könnte irgendetwas anderes den wahren Charakter der Liebe Gottes vollkommener zur Darstellung bringen und zugleich die Tatsache, dass sie nicht das Geringste mit unseren eigenen Anstrengungen zu tun hat? Sie ist völlig aus Gott entsprungen. Sind wir aber aus Gott geboren, so haben wir auch an seiner Natur teil. Sind wir Teilhaber seiner göttlichen Natur, so hat Er auch Vorsorge getroffen, alles wegzuräumen, was der richtigen Entfaltung dieser Natur im Wege steht. Es ist eine Tatsache, dass unser alter Mensch noch vorhanden ist, doch wir wissen ihn mit Christus gekreuzigt, damit der Leib der Sünde abgetan sei und wir der Sünde nicht mehr dienen.
Wendet sich unser Blick jedoch von Christus ab, dann stellt sich unsere alte Natur mit Sicherheit wieder hindernd in den Weg. Wir müssen daher Klarheit darüber besitzen, in welcher Weise Gott mit unseren Sünden und mit ihrer Wurzel, der Sünde, gehandelt hat. Es mag auch ein Hindernis dadurch entstehen, dass wir nicht in Übereinstimmung mit Ihm vorangehen, so dass seine Liebe in uns nicht seinem Wesen gemäß zu denen ausströmen kann, die wir nach seinen Gedanken lieben sollten. Seine Liebe bewirkt in uns die Liebe zu allen, die sein sind, zu allen seinen Kindern. Die Voraussetzung dazu ist uns durch unseren Glauben, durch das neue Leben und durch den innewohnenden Geist gegeben. Es geht nicht darum, ob wir diese Eigenschaft oder jenes Verhalten unserer Geschwister schätzen und so weiter. Gott rechnet damit, dass wir sie angesichts aller Schwierigkeiten mit der Liebe lieben, die aus Gott ist. Dazu stellt Er uns die beiden gewaltigen Offenbarungen göttlicher Liebe vor Augen, denen wir unsere neue Beziehung zu Ihm und die Tilgung unserer Sünden verdanken. Dadurch versetzt Er uns in den Stand, einander als Glieder der Familie Gottes zu lieben.
Das ist keineswegs alles, doch wir wollen an dieser Stelle das Kapitel abschließen. So der Herr will, werden wir später sehen, dass Er uns noch mehr zu sagen hat, und zwar Mitteilungen von überragender Bedeutung als Krönung seiner Liebe. Wir haben gesehen, dass die Liebe in der Person des Sohnes aus den himmlischen Höhen herniederkam und für uns in unergründliche Tiefen hinabstieg. Nun werden wir sehen, wie sie uns zu jenen Höhen hinaufträgt. Ich möchte abschließend das kleine Lied eines berühmten Agnostikers9 zitieren, der sich vor seinem Tod zu Gott bekehrte. Wie schade, dass er niemand kannte, der ihm aus dem Wort die Versicherung der in Christus offenbarten Liebe Gottes geben und dadurch alle seine Zweifel zerstreuen konnte! Dieser Mann, J. G. R., bedurfte mehr des Trostes aus Lukas 15 als der Worte aus Psalm 27.
Ich bitte nicht um deine Liebe, Herr.
Nie können Schmerzen sühnen, was ich tat.
Ach, wenn Du mir nur dein Erbarmen zeigst, dem heimgesuchten Schaf, das sich verirrt; desʼ Klage über unvergessene Wege niemals verstummt. O sende mich zurück zu jenen Weiden, die ich einst gekannt; wenn nicht, lass in der Wüste mich allein, und töte mich mit der barmherzigen Hand.
Ich bitte nicht um deine Liebe Dich, noch darum, Herr, dass Du mich hoffen lassest, jemals an deiner teuren Brust zu ruhn.
Doch bleibe Du mein Hirt, dessen Erbarmen das Herz mir labt, und der sein Schäflein ruft, damit ich höre deiner Füße Schritte, und fühle die Berührung deiner Hand, mit mattem Auge noch dein Antlitz sehe, ehʼ ich vom Leben hin zum Tode gehe.
9 Agnostizismus ist die Lehre, dass man über Gott und ein absolutes Sein nichts wissen könne und die Frage nach Gottes Dasein daher unentschieden lassen müsse.↩︎