Behandelter Abschnitt 1Joh 4,11-16
Geliebte, wenn Gott uns also geliebt hat, so sind auch wir schuldig, einander zu lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir einander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet. Hieran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns von seinem Geist gegeben hat. Und wir haben gesehen und bezeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat als Heiland der Welt.
Wer irgend bekennt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, in ihm bleibt Gott und er in Gott. Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat.
Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.
Wie wir bereits sahen, bringt der Apostel in den betrachteten Versen 9 und 10 die Offenbarung der Liebe Gottes in Christus in Erinnerung, um den wahren Charakter dieser Liebe, zu der wir berufen sind, darzustellen. Die Liebe Gottes äußert sich in zweifacher Weise. Zunächst gab Er uns Leben, als wir geistlich tot waren. Als wir Leben empfangen hatten und die Last und Verwerflichkeit unserer Sünden empfanden, wie wir sie nie zuvor empfunden hatten, da lernten wir das Sühnungswerk schätzen, das seine Liebe vollbracht hat, um alle unsere Sünden wegzutun. Das ist die Reihenfolge, in der Gott an einem Menschen handelt. Wir ersehen daraus, wie wichtig der Empfang des neuen Lebens für uns ist; denn ohne dieses Leben können wir die Dinge Gottes weder vernehmen noch recht darauf eingehen. Der Mensch ist dann immer noch in einem toten Zustand, und die Vorstellung, dass der Heilige Geist sich bei einem solchen Zustand des Menschen dort lebendig betätigen kann, wo es kein Leben gibt, ist einfach unhaltbar. Er kann nur da in Übereinstimmung mit dem Leben wirken, wo dieses vorhanden ist.
Christus ist ohne Zweifel das Leben des Gläubigen, und durch den Glauben wird das alte Ich als vor Gott nicht mehr vorhanden betrachtet. Es existiert zwar noch, doch besitzt es durch die Gnade Christi keinerlei Rechte mehr. Als Gläubige verleugnen wir es in seinem Namen und erkennen an, dass es völlig wertlos ist. Wir sagen uns völlig von ihm los, da wir es jetzt so sehen, wie Gott es schon immer gesehen hat, nämlich als durch und durch böse.
Diese Erkenntnis ist ganz unabhängig davon, wie andere Menschen uns einschätzen. Jemand mag als ein genialer Mensch gelten und über große Fähigkeiten verfügen. Doch sein altes Ich ist völlig losgelöst von Gott und auch völlig gegen Gott eingestellt, so dass es niemals in seiner Gegenwart bestehen könnte. Wie könnte der alte Mensch somit durch den Heiligen Geist jemals gebraucht und für Gott geheiligt werden? Die Schrift redet daher auch nicht von einer Heiligung des verderbten alten Lebens, sondern von der Kreuzigung des alten Menschen mit Christus. Sie zeigt uns, dass Gott in Christus, dem Sündopfer, die Sünde im Fleisch verurteilte, damit der Leib der Sünde abgetan sei und wir der Sünde nicht mehr dienen. Nicht mehr lebt das sündige Ich, sondern „Christus lebt in mir“ (Röm 6,6; Gal 2,20).
Es ist somit ein neues Leben vorhanden, an das der Heilige Geist aufgrund des Erlösungswerkes anknüpfen kann. Da ohne neues Leben nur der alte Mensch vorhanden ist, ist die Notwendigkeit des neuen Lebens in Christus klar erwiesen. Selbstverständlich besaßen alle Gläubigen des Alten Testaments, wie auch jeder Gläubige unserer Zeit, das Leben. Und welcher Gläubige wüsste von einem anderen Leben, das der sündige Mensch benötigt, als nur das Leben Christi? Wie die Unverweslichkeit des Leibes wird auch das Leben im Evangelium bald ans Licht gebracht, obwohl es bereits vor der Zeit des Evangeliums in allen Gläubigen wirksam war. Ohne dieses Leben hätten sie gar keine Gläubigen sein können. Wie unterschiedlich dieses Leben sich auch nach außen hin auswirkte, in denen, die dem Herrn nachfolgten, nachdem Er Mensch geworden war, konnte es sich jedenfalls besser offenbaren. Damals wurde so deutlich gemacht wie nie zuvor, was das neue Leben ist und wer die sind, denen Er aufgrund des Glaubens das Leben zuteilt. Es war für die Menschen, nicht für die Engel. „Und das Leben war das Licht der Menschen“ (Joh 1,4); soweit die Schrift es uns sehen lässt, wurde es nur diesen zugeteilt. Die auserwählten Engel sind niemals gefallen; da sie vor Sünde bewahrt blieben, benötigten sie kein neues Leben. Für die gefallenen Engel dagegen ist weder Buße noch Gnade möglich. Die Engel haben ein Leben, wie es nun auch gestaltet sein mag, über das uns nichts weiter mitgeteilt wird. Es ist auch nicht unsere Sache, das ergründen zu wollen. Was haben wir mit solchen Fragen zu tun (vgl. Kol 2,18)? Es ist stets ein vergebliches Bemühen, wenn der Mensch sich mit den Engeln beschäftigen will. Ich kannte einen Christen, der sich so eingehend mit den Engeln beschäftigte, dass er sich einbildete, Visionen sowohl von guten wie auch von bösen Engeln zu haben, die Nacht für Nacht auf ihn blickten; er meinte sogar, ihre Namen zu kennen. Es waren jedoch reine Einbildungen und Gefühle, obwohl es sich um einen wahren Gläubigen handelte. Es gibt wohl kaum eine größere Torheit, als sich auf derartige Spekulationen über die unsichtbare Welt einzulassen.
Hier aber haben wir es mit der gesegneten Realität der innigen Anteilnahme Gottes und seiner tätigen Liebe gegenüber dem Menschen zu tun. Zunächst zeigte sich seine Liebe in ihrem souveränen Charakter darin, dass sie uns Leben mitteilte, als wir tot waren. Als wir das Leben besaßen, befreite sie uns von all unserer Schuld. Denn derselbe Herr Jesus, der uns das Leben brachte, wurde auch die Sühnung für unsere Sünden. Als wir dieses heilige Leben besaßen, wurde die Sünde zu einer unerträglichen Last für uns. Doch sein einmal vergossenes Blut hat die Sühnung vollbracht. Wir werden nun aufgefordert, die Gnade Gottes im Glauben anzunehmen und uns an der herrlichen Wahrheit, die uns dies alles bekanntmacht, zu erfreuen.
Doch das ist noch nicht alles; Schritt für Schritt kommt der Apostel auf das zu sprechen, was noch verbleibt. Er begann damit im letzten Vers von Kapitel 3: „Und wer seine Gebote hält, bleibt in ihm, und er in ihm“. Wer solchen Segen empfängt, ist gehorsam. Und wer allein kann gehorsam sein? Nur der wahre Christ. Das gilt aber nicht nur für einige, sondern für alle wahrhaft Gläubigen. Sie gehorchen Gott, weil sie seiner Natur teilhaftig sind, des Lebens, das Christus ist und das Er ihnen mitgeteilt hat. In diesem Vers 24 gibt der Apostel keine weitergehenden Erklärungen dazu; er kommt später an geeigneter Stelle wieder darauf zu sprechen. Er fügt lediglich im letzten Teil des Verses eine kurze aber wichtige Andeutung hinzu: „und hieran erkennen wir, dass er in uns bleibt, durch den Geist, den er uns gegeben hat“. Man empfindet, dass der Ausdruck „bleibt“ hier mehr am Platz ist als „wohnt“. Dadurch wird jeder Zweifel ausgeschlossen, und zugleich ist das die richtige Übersetzung. Es gibt noch ein anderes Wort für „wohnen“ (oikei), von dem sich dieses Wort (menei) unterscheidet. Gott „bleibt“ in uns, das ist die klare und richtige Wiedergabe. Es handelt sich nicht um eine vorübergehende Handlung oder einen kurzfristigen Besuch.
In dem Wort „bleiben“ haben wir eins der charakteristischen Wörter der christlichen Lehre, das die ewige Fortdauer zum Ausdruck bringt. Das Volk Israel wusste etwas von dem, was sehr gut war, aber nur für eine Zeit Bestand hatte. Es wurde ihnen später wieder genommen oder, wie den Hebräern geschrieben wurde: „was aber alt wird und veraltet, ist dem Verschwinden nahe“ (Heb 8,13). So geschah es mit den jüdischen Verordnungen und Bräuchen; sie mussten dem, was in sich selbst und in den Gläubigen Bestand haben sollte, dem Christentum Platz machen. Jede christliche Segnung hat den Charakter der Beständigkeit, mit Ausnahme derer, die an Bedingungen geknüpft sind und die es ebenfalls gibt. Doch das Neue trägt den Stempel der Ewigkeit an sich, besonders das Leben, das wir in Christus besitzen. Daher wird es auch mit diesem auffallenden Ausdruck „bleiben“ gekennzeichnet und wir sollten darüber hoch erfreut sein. Das war auch unser Empfinden, als wir gemeinsam mit vielen gleichgesinnten, dieses Leben freimütig verkündeten und dafür lobten; zu unserem Schmerz hüllen viele sich heute bezüglich des „ewigen Lebens“ in Schweigen. Es gibt aber noch mehr als das ewige Leben, obwohl das Wesen unserer Segnungen durch das Leben in Christus gekennzeichnet ist. Christus hat es selbst während seines Erdenlebens fortwährend in jeder seiner Handlungen zum Ausdruck gebracht. Es war seine Abhängigkeit von Gott, die sich in seinem unfehlbaren Gehorsam zeigte. Wenn Er uns auffordert, seinem Gehorsam nachzueifern und Gebote für uns aufstellt, so haben diese nichts mit den Zehn Geboten zu tun.
Das Gesetz war eine Forderung an das Fleisch; es stellte Leben hier auf der Erde in Aussicht, das aber von keinem erworben wurde. Es sagte: „Tu dieses, und du wirst leben!“ Die Gebote Christi dagegen sind wegweisende Vorschriften für die, denen das neue Leben durch Gnade aufgrund des Glaubens bereits mitgeteilt ist. In Christus, der ihr Leben ist, besitzen sie schon jetzt die höchste aller Segnungen. Nichts ist gewisser, als dass Gott den Gläubigen Christus geschenkt und dass Christus sich auch selbst für sie hingegeben hat. Eine wunderbare und zugleich so einfache Wahrheit! Es ist das Wort der Wahrheit, das Evangelium unseres Heils. Doch die Wahrheit des Evangeliums geht den Menschen bald verloren, wenn sie anfangen, zu spekulieren, anstatt zu glauben.
Da nun dieses Leben ein Leben der Abhängigkeit von Gott ist, benötigen wir die Gegenwart und Macht Gottes, da auf unserem Weg gewaltige Gefahren und Schwierigkeiten zu überwinden sind. Wir brauchen in geistlicher Hinsicht außer den Fähigkeiten dieses Lebens auch Kraft. Fehlt diese, so können wir die Hindernisse nicht überwinden. Es stellt sich Trägheit bei uns ein, oder wir stützen uns auf fleischliche Energie. Wie gesegnet die Abhängigkeit auch ist, sie ersetzt aber nicht die Kraft. Die wahre Energie des Christen fließt aus dem Innewohnen des Geistes Gottes, nicht aus dem Leben im abstrakten Sinn, obwohl das Leben in Christus für unsere neue Stellung unbedingt erforderlich ist. Wir brauchen aber den Geist als Quelle der Kraft in uns. Als die Schöpfung ins Dasein gerufen wurde, trat auch der Heilige Geist in Tätigkeit. Als die Schöpfung dann in ein Chaos versank, schwebte der Geist über dem Schauplatz des Durcheinanders und der Finsternis. Als Gott dann eine Wohnung inmitten seines irdischen Volkes haben wollte, gestattete Er es Israel nicht, diese nach ihren eigenen Vorstellungen zu errichten. Alle Einzelheiten ordnete Er selbst an. Außer seinen Vorschriften gab Gott auch den Werkleuten, die mit der Ausführung betreut wurden, durch seinen Geist die nötige Kraft und Weisheit. Nichts blieb menschlichen Überlegungen überlassen, alles bewirkte der Geist Gottes durch die Hand der Menschen.
Jetzt verfolgt der Geist Gottes ein unvergleichlich höheres Ziel. Es geht jetzt nicht mehr um eine irdische Stiftshütte oder ein prächtiges Tempelgebäude, obwohl wir wissen, dass beide damals durch göttliche Inspiration zustandekamen.
Der Geist Gottes lässt sich jetzt dazu herab, in den Gläubigen Wohnung zu machen. Er ist es, der jeden Gläubigen auf den Tag der Erlösung versiegelt. Die alttestamentlichen Gläubigen besaßen dieses Vorrecht nicht. Obwohl sie Leben aus Gott hatten, scheinen sie wenig oder gar nichts darüber gewusst zu haben. Es gehört zu den Vorrechten des Christentums, dass wir heute sagen können: Wir wissen, dass Gott das offenbart hat, was ihnen noch verborgen war. „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und was in keines Menschen Herz gekommen ist“ (1Kor 2,9), offenbart Er jetzt durch seinen Geist. Er ist für uns weniger der Geist der Weissagung, als der Geist der Gemeinschaft. Sicherlich ist Er auch kein Geist knechtischer Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit (2Tim 2,7). Da wir gerade diese Eigenschaften brauchten, hat Gott sie uns auch gegeben. „Hieran erkennen wir, dass er in uns bleibt, durch den Geist, den er uns gegeben hat“ (3,24).
Damit leitet der Apostel zu der erforderlichen Wahrheit über, die er im Zusammenhang mit der Aufforderung zur Liebe in Vers 7 noch nicht behandelt hatte. „Geliebte“, dieses Wort benutzt er auch hier wieder als Anrede, ebenso wie vorher in Vers 1, wo Gott sie vor den falschen Propheten warnte, die durch böse Geister getrieben wurden. Er hatte den Gläubigen in liebevoller Fürsorge vorgestellt, welch große Gefahr in der verführerischen Macht der bösen Geister bestand, die ihnen in dem Selbstvertrauen des ersten Menschen anstatt in dem Glauben des zweiten Adam gegenübertreten würden. Jesus allein ist der Sieger über Satan; der Gläubige kann ebenfalls siegen, aber nur durch Ihn, der ihn geliebt hat und für seine Sünden gestorben ist.
Kein böser Geist bekennt den Herrn Jesus, nur der Heilige Geist bekennt Ihn als im Fleisch gekommen. Darin besteht die Sicherheit gegenüber den falschen Propheten, die den gefallenen Menschen mit aller Macht erhöhen und das fleischgewordene Wort herabsetzen wollen. Doch der Apostel wiederholt die Bezeichnung „Geliebte“, wenn er die Gläubigen von Vers 7 an ermahnt, einander zu lieben; in beiden Fällen ist das Motiv, dass die Liebe aus Gott ist. Offensichtlich ist jeder, der liebt, aus Gott geboren und erkennt Gott; wie auch der, der nicht liebt, Gott nicht erkannt hat, denn Gott ist Liebe. Hier in Vers 11, wo der Apostel das Thema weiter verfolgt, wiederholt er das Wort „Geliebte“. „Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, sind auch wir schuldig, einander zu lieben“ (V. 11). Der Apostel sagt nie, dass wir Gott lieben sollen, denn er setzt stets voraus, dass wir Ihn lieben. Das wird auch bei jedem Gläubigen der Fall sein, der Gottes Liebe erkannt hat, die ihm in seinen Sünden und seiner Feindschaft entgegenkam. Im Evangelium lernten wir die unumschränkte Liebe zu uns in unserem sündigen und verlorenen Zustand kennen, die Christus, Gottes Sohn, für uns in den Tod gab. „Denn Christus ist, da wir noch kraftlos waren, zur bestimmten Zeit für Gottlose gestorben“ (Röm 5,6). Die „bestimmte Zeit“ war für die Liebe, die wir so sehr brauchten und die so unermesslich groß und Gottes und seines Sohnes würdig ist, damals gekommen, als die Menschen, Juden sowohl wie Heiden, sich vereinigten, um den Retter zu kreuzigen. Sie hatten damit jede göttliche Gunsterweisung verscherzt, nur seine grenzenlose Gnade konnte ihnen noch zugewandt werden. Die Juden rühmten sich des Gesetzes, obwohl sie es ständig übertraten, doch nie vorher in so schamloser Weise wie durch die Kreuzigung des Herrn.
Die Römer rühmten sich ihrer eigenen Gesetze und der Beherrschung anderer Völker. Doch bei all ihrer vermeintlichen Überlegenheit und ihrem Stolz verurteilte Pilatus aus Furcht vor der boshaften Drohung des Volkes, er werde die Freundschaft des Kaisers verlieren, einen Unschuldigen zum Tod; denn er war von Jesu Unschuld überzeugt. Juden und Heiden vereinigten sich in jener frevelhaften Ungerechtigkeit gegen Gott. Das waren der Zeitpunkt und die Gelegenheit Gottes, seine Liebe zu uns darin zu erweisen, dass Er, als wir noch Sünder waren, Christus für uns sterben ließ. Wie töricht, sich einzubilden, Gott verlange von dem Sünder, durch gute und große Taten die Gunst Gottes zu erlangen! Das würde die Tatsache übergehen, dass es Gott war, der die einzige, beste und größte Tat vollbrachte, die nur Er vollbringen konnte, indem Er selbst das völlig ausreichende Opfer für den Gläubigen stellte. Wenn dieses Opfer im Glauben angenommen wird, wird selbst das stolzeste und finsterste Herz von Liebe erfüllt.
Das ist aber nicht der einzige Grund, weshalb der Gläubige Gott liebt. Mit der Annahme Christi hat er das ewige Leben empfangen, er ist aus Gott geboren und sein Kind geworden. Er liebt Gott nun als seinen Vater. Schon in den irdischen, normalen Umständen liebt ein Kind seine Eltern, obwohl auf beiden Seiten viele Fehler sind. Wie viel mehr treibt die neue Natur den Gläubigen dazu an, nicht nur seinen völlig gütigen und gnädigen Vater zu lieben, sondern auch alle, die das gleiche Leben und den gleichen Geist besitzen. „Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, sind auch wir schuldig, einander zu lieben.“ Man erkennt unschwer in der Schrift, dass bei allen an die Gläubigen gerichteten Ermahnungen der Besitz der göttlichen Gnade bereits vorausgesetzt wird. Gott forderte uns erst dann zum Lieben auf, als Er selbst seine Liebe zu uns in Christus unter Beweis gestellt und sie uns kundgemacht hatte. Wie diese Liebe dem zweifachen Bedürfnis des Sünders begegnete, ist bereits kurz zuvor anhand anderer Schriftstellen gezeigt worden. Wir fanden sie hier in kurzen, aber bewegenden Worten in den Versen 9 und 10 von Kapitel 4 angedeutet. Es ist keine Übertreibung, dass der, der aus Gott geboren und durch Christi Blut erlöst ist, nicht anders kann, als Gott zu lieben. Das ist auch der klare und ausreichende Grund dafür, dass der Apostel uns nie ermahnt, Gott oder Christus zu lieben.
Der natürliche Mensch verhält sich darin völlig anders, wie es auch bei uns in unserem umgekehrten Zustand der Fall war. Diejenigen unter uns, die das Vorrecht besaßen, gläubige Eltern zu haben und von Kindheit an mit Gottes Wort und dem Gebet vertraut zu sein, hatten solange ein schlechtes Gewissen, bis ihre Herzen die Wahrheit aufnahmen. Wir fürchteten uns vor Gott, vernachlässigten aber eine so große Errettung. Wir zitterten bei dem Gedanken an Tod und Gericht, wenn solche Bilder unvermittelt vor uns auftauchten. In diesem Zustand war es uns unmöglich, den zu lieben, vor dessen ewigem Gericht unsere schuldbewussten Gewissen ab und zu mit Unruhe erfüllt wurden. Wir waren immer noch auf der Jagd nach Vergnügen, Aufstieg in dieser Welt, Reichtum und all den anderen nichtigen Dingen, die uns vorschwebten. Wenn Liebe vorhanden war, so war es bestenfalls natürliche Liebe ohne irgendwelche Beziehung des Herzens zu Gott. Eine derartige Liebe überstieg die Zuneigungen, die auch Hunde und Katzen zeigen, lediglich in dem gleichen Maß, wie ja auch die Stellung des Menschen die der unvernünftigen Kreatur übersteigt. Doch die Liebe der neuen Natur ist übernatürlichen Ursprungs. Sie hat ihr Wesen, ihre Beweggründe und ihre Quelle in Christus. Es ist falsch und gefährlich, natürliches Wohlwollen auf die Gnade zurückzuführen.
Die christliche Liebe trägt dieselben Wesenszüge wie die Liebe Gottes, die Er uns entgegenbrachte, als in uns nichts Liebenswertes war. Wir lesen: „Denn einst waren auch wir unverständig, ungehorsam, irregehend, dienten mancherlei Begierden und Vergnügungen, führten unser Leben in Bosheit und Neid, verhasst und einander hassend“ (Tit 3,3). Das sagte der, dessen Gerechtigkeit, die nach dem Gesetz ist, tadellos war. Doch das Licht der Herrlichkeit Christi, das in sein Herz geleuchtet hatte, machte seine Verderbtheit offenbar. Seither achtete er die aufgezählten Dinge sowie alles, was zur Verherrlichung des Menschen dient, im Vergleich zur Person Christi als Dreck. Er scheute daher in seinem Bestreben, zur Auferstehung aus den Toten, das heißt zur Herrlichkeit Christi, zu gelangen, keine Leiden.
Der Apostel Johannes sagt uns: Wenn Gott uns so geliebt hat, dann sollen auch wir einander lieben. Denn wenn wir auch an demselben Leben in Christus und an derselben Sühnung für unsere Sünden teilhaben, so bereiten uns das Fleisch und die Welt doch Schwierigkeiten verschiedenster Art. Es ist nichts als Unglaube, wenn wir dann vor unserem Gott zurückschrecken und uns scheuen, unsere Herzen vor Ihm bezüglich der Torheiten und Verkehrtheiten, in die wir hineingeraten sind, auszuschütten. Er steht nach wie vor zu seiner Beziehung als Vater und zu uns als seinen Kindern, während der Feind sich bemüht, uns Ihm zu entfremden. Die Kinder Gottes sind in Gefahr, durch das Fleisch in Schlingen hineinzugeraten. Sind sie nicht auf der Hut, so zeigt sich die Neigung, Fehler bei ihren Brüdern zu suchen und die eigenen Fehler zu verbergen oder zu beschönigen. Das zeugt aber keineswegs von gegenseitiger Liebe und noch viel weniger von der Liebe, mit der Christus uns geliebt hat. Er ist der Maßstab für den Christen, so wie das Gesetz der Maßstab für den Israeliten war, der seinen Nächsten lieben sollte wie sich selbst.
Dieser Unterschied sollte erkannt und empfunden werden. Israel war ein Volk nach dem Fleisch und stand unter Gesetz; wir sind im Geist (Röm 8,9) und stehen unter Gnade (Röm 6,14), wenn der Geist Gottes wirklich in uns wohnt. Dann liebt man auch die Familie Gottes als Folge der Gnade, die von Gott zu uns strömt. Das Gesetz brachte nichts zur Vollkommenheit (Heb 7,19). Es wurde auch nicht für Gerechte gegeben, sondern für Gesetzlose, Zügellose und so weiter, um sie zu verurteilen und zu der einzigen Zuflucht für Sünder hinzuführen. In der abgeirrten Christenheit war es von jeher und ist es auch noch heute üblich, Gerechte unter das Gesetz zu stellen. Der Apostel erklärt diese Anwendung aber für nicht gesetzmäßig. Wir stehen ausdrücklich unter der Gnade, die uns trotz aller Hindernisse befähigt, einander zu lieben.
Wir können nicht anders, als Ihn zu lieben, der uns zuerst geliebt hat, als wir uns noch in Lumpen bei den Schweinen aufhielten. Die, die sich vielleicht über unsere Ausschweifung in Sünden und Torheiten gefreut hatten, erzeigten uns dann keinerlei Mitleid und waren nicht bereit, uns in unserer Not zu helfen. Das ist das Wesen dieser Welt; doch wie anders handelt der Vater! Als der verlorene Sohn seine bösen Wege und ihre schmerzlichen Folgen in etwa verurteilte, wandte sich sein Herz wieder dem zu, den er so lange verlassen und vergessen hatte: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und will zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen; mache mich wie einen deiner Tagelöhner. Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und wurde innerlich bewegt und lief hin und fiel ihm um den Hals und küsste ihn sehr“ (Lk 15,18-20). Das ist Gottes Liebe, dargestellt von dem, der sie am besten kannte. Er entfaltete sie selbst gegenüber den Zöllnern und Sündern, die sich ungeachtet der murrenden Pharisäer und Schriftgelehrten um Ihn drängten, um die wunderbare Botschaft der Gnade zu hören.
Der Vater gab sich nicht damit zufrieden, dem Sohn zu vergeben, noch gestattete er ihm, um einen Platz unter den Tagelöhnern zu bitten. Wir hören die Worte: „Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und tut einen Ring an seine Hand und Sandalen an seine Füße; und bringt das gemästete Kalb her und schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein; denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, war verloren und ist gefunden worden“ (Lk 15,22-24). Das ist die Gnade, im Gegensatz zum Gesetz; sie zeigt uns das Wesen Gottes als Vater in den kostbaren Worten seines Sohnes. Wenn Er sich in solch gnädiger Weise zu dem verlassensten Sünder herablässt, der zu Ihm umkehrt, wie traurig ist es dann, die Gnade, in der der Gläubige steht, in Frage zu stellen oder seine erbarmende Liebe gegenüber einem irrenden Gläubigen, der ja sein Kind ist, anzuzweifeln!
Doch wenn Er sich auch niemals verändert, so wird doch bei seinen Kindern leider viel Unbeständigkeit gefunden. Daher war es durchaus richtig und notwendig, sie zu gegenseitiger Liebe aufzufordern, wie der Apostel das in Demut mit den Worten tut: „Wir sind schuldig, einander zu lieben“. Er stellt sich damit mit den übrigen auf den gleichen Boden, denen diese Pflicht auferlegt ist, deren Einhaltung gar nicht immer so einfach ist, wie manche annehmen mögen. Gottgemäße Liebe besteht nicht aus „brüderlicher Zuneigung“, wie vortrefflich diese auch sein kann, wenn sie in Wahrheit ausgeübt wird. In 2. Petrus 1,7 wird der Trennungsstrich gezogen und uns gezeigt, dass die Liebe tiefer geht und über der Bruderliebe steht. Wo die brüderliche Zuneigung bereit ist, die Hand zu reichen, wird die wahre Liebe dies vielleicht verweigern, da sie einen gefährlichen Fallstrick oder eine offenbare Sünde erblickt, die die Zuneigung allein nicht im Licht Gottes erkannte. Göttliche Liebe betrachtet die Dinge von der göttlichen Seite, anstatt sich nur durch Gemütsbewegungen leiten zu lassen.
Wir müssen sozusagen an der Quelle stehen, um selbst erfrischt zu sein und andere erfrischen zu können; mit einfältigem Auge müssen wir Täter der Liebe sein, die aus Gott ist. Nichts steht dem mehr entgegen als die menschliche Liebenswürdigkeit, die kein Gewissen erreicht und jedermanns Willen akzeptiert. Von Gott dagegen heißt es: „Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er geißelt aber jeden Sohn, den er aufnimmt“ (Heb 12,6). Das muss sich auch in unserer Liebe zeigen, wenn sie mit Gottes Liebe übereinstimmen soll. Da die Liebe von Gott gewirkt ist, fühlt und handelt sie auch stets für Gott. Wenn Er uns so geliebt hat, so sind „auch wir schuldig, einander zu lieben“. Er kannte alles Versagen und alle Rückfälle seiner Kinder im Voraus, ebenso wie Er unsere Sünden und Missetaten kannte und empfand, als wir noch Kinder des Zornes waren; und dennoch liebte Er uns so, dass Er seinen Sohn für uns dahingab. Als Gegenstände solcher Liebe sollten wir sicherlich auch einander lieben.
Der Apostel Paulus schreibt den Gläubigen zu Ephesus: „Seid nun Nachahmer Gottes, als geliebte Kinder, und wandelt in Liebe, wie auch der Christus uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch“ (Eph 5,1.2). Es gibt nichts, was die Liebe in so starkem Maß hervorruft wie die Liebe selbst; und nichts schafft in uns eine so wirkungsvolle und fruchtbare Liebe wie die in Christus offenbarte Liebe Gottes, die Krönung seiner Liebe. Das können wir bezeugen, nicht nur als Zuschauer wie die Engel, sondern als solche, die selbst Gegenstände dieser Liebe sind in einem Maß, das selbst die Engel in Staunen versetzt. Denn wir befanden uns ja in tiefem Verderben, mit schwerer Schuld beladen, in ohnmächtigem Streben nach dem, was wir nicht erlangen konnten. Doch Christus, sein geliebter Sohn, erniedrigte sich beladen mit unseren Sünden unter das Gericht Gottes am Kreuz. Er ist dann auferstanden und in himmlischer Herrlichkeit über alles erhöht worden, so dass Engel und Fürstentümer und Gewalten Ihm unterworfen sind. Auch wir sind nun mit Ihm durch den Heiligen Geist vereinigt und ein Geist mit Ihm.
Vers 12 ist aller Beachtung wert; er erinnert uns an Johannes 1,18: „Niemand hat Gott jemals gesehen.“ Wie konnte einem so großen Bedürfnis des Menschen entsprochen werden? Hatte der Gott aller Gnade kein Empfinden für dieses Bedürfnis? Er tat sich in einer für Ihn und seinen Sohn höchst herrlichen Weise kund. Dieser Weg war äußerst wirkungsvoll, göttlich vollkommen und bezeugte seine große Liebe zum Menschen. Er sandte seinen eigenen Sohn und ließ Ihn Mensch unter Menschen werden. Johannes fügt hinzu: „Der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht.“ Auf die Frage, wie Gott sich dem in Not und Elend befindlichen Menschen am besten und eindrucksvollsten in seiner göttlichen Liebe offenbaren könnte, hätte wohl kein Mensch, von Adam an, gewagt, eine Lösung vorzuschlagen, die mit Gottes Plan vergleichbar wäre. Doch Satan gelang es, den Menschen durch seine Begierden und Leidenschaften, durch seinen Eigenwillen, die Wahrnehmung seiner vermeintlichen Interessen und besonders durch seine eigenwillige Religion dahin zu bringen, den Sohn Gottes zu seinem eigenen Verderben zu missachten und zu verwerfen.
Der Sohn Gottes, der in göttlicher Liebe herniederkam, ist zu seinem Vater zurückgekehrt. Und der Apostel sagt wiederum: „Niemand hat Gott jemals gesehen“, unter offensichtlicher Bezugnahme auf die gleiche Aussage im Evangelium. Der Sohn, der von der Welt verworfen wurde, ist nicht mehr hier, um Ihn kundzumachen. Wie lautet daher die Antwort auf dasselbe Bedürfnis des Menschen? „Wenn wir einander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet.“ In welch überraschender und ernster Weise wird dadurch dem menschlichen Bedürfnis entsprochen. Empfiehlt sich diese Antwort nicht in persönlicher und machtvoller Weise euch, meinen lieben Brüdern, mir und jedem Kind Gottes? Wir sind jetzt bereits durch den Sohn nicht nur von unseren Sünden reingewaschen, sondern zu Söhnen Gottes gemacht und sollen durch die gegenseitige Liebe, die aus Gott ist, Ihn kennen und Ihn in einer Welt bezeugen, die Ihn nicht kennt. Die Liebe Gottes soll jetzt in dieser Welt von seinen Kindern widergespiegelt werden. Der Herr hat dieses in Vollkommenheit getan, als Er über diese Erde ging. Doch kennen wir seine Liebe wirklich in dieser Weise, und bleiben wir in ihr.
Wir haben bisher nur die ersten Worte der Antwort betrachtet, die der Apostel hier gibt. Hören wir, was er noch sagt: „Wenn wir einander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet“ (V. 12). Die gegenseitige Liebe unter den Gläubigen ist die Kraft der Gemeinschaft und der Beweis, dass Er in uns bleibt und seine Liebe in uns vollendet ist, anstatt durch das Fleisch erstickt oder durch die Verlockungen der Welt abgelenkt zu werden. Die Verkündigung des Evangeliums an die ungläubigen und umkommenden Sünder ist nicht die Antwort auf die gestellte Frage. Wo und wie kann Gott jetzt gesehen werden? Angesichts aller Anstrengungen Satans, die Kinder Gottes untereinander zu entzweien, soll ihre Liebe zueinander gemäß der in Christus offenbarten Liebe Gottes beweisen, dass Gott in uns bleibt und seine Liebe in uns vollendet ist. Welch eine Ermunterung, in einer demütigen, stillen Weise in der Liebe zu wandeln, die aus Gott stammt! Welch eine Zurechtweisung auch für jeden, der den Wert und den Segen einer solchen Liebe geringschätzt! Doch die Aussage von 1. Johannes 4,12 hätte nicht gemacht werden können, wenn ihr nicht Johannes 1,18 vorausgegangen wäre, ja, wenn Christus nicht für uns gestorben und die Gabe des Geistes uns nicht gegeben worden wäre. Das Leben muss Christus sein, wenn Gottes Liebe in uns dargestellt werden soll. Als die Jünger die vollkommene Darstellung der göttlichen Liebe in Christus sahen, erkannten sie doch nur wenig davon, dass Gott in Ihm offenbart wurde. Nachdem Er gestorben und auferstanden war, verstanden sie schon mehr davon. Doch nach der Salbung mit dem Heiligen Geist traten sie in den vollen Genuss; ihr Wandel war nun mit dem Bleiben in dieser Liebe verbunden, die das Prinzip der göttlichen Natur ist. Dem Grundsatz nach gilt dasselbe für uns heute, und der Praxis nach insoweit, wie wir uns in einem geistlichen Zustand befinden.
Viele sogenannte Evangelikale vertreten die Meinung, dass ihre Liebe hauptsächlich in dem Bemühen, Menschen zu retten, zum Ausdruck kommen müsse. Das ist sicher ein guter Dienst, wenn er im Glauben und in der Liebe zu Christus ausgeübt wird. Doch das ist nicht die dem Herrn so am Herzen liegende Liebe, die er den Seinen auftrug. Auch kann es nicht geleugnet werden, dass eifrige Evangelisten nebst ihren Mitarbeitern oft sehr wenig Empfinden für das neue Gebot zeigen, dass wir einander lieben sollen. Sie neigen dazu, in ihrem eigenen Werk so aufzugehen, dass sie die Liebe großenteils nach der Unterstützung einschätzen, die ihren Interessen entgegengebracht wird. Ebenso verlangt das moderne System von besonderen Vereinigungen nach neuen Methoden, als wären die Worte des Herrn heute veraltet. Es liegt mir völlig fern, ein unfreundliches Wort über irgendjemand zu äußern; doch müssen wir die Tatsachen so sehen, wie sie sind, und ich denke dabei an Beziehungen, die niemand leugnen kann.
Es ist leicht zu erkennen, wie weit die Liebe aus Gott, die wir zu unseren Brüdern haben, die rein moralischen Pflichten übersteigt. Hätte der Heilige Geist durch den Apostel uns nicht dieses niederschreiben lassen, so könnten wir es für eine schlimme Übertreibung halten, von der Liebe zueinander das Bleiben Gottes und die Vollendung seiner Liebe in uns abhängig zu machen. Mögen wir seinem Wort einfältigen und völligen Glauben entgegenbringen, damit wir befähigt werden, so zu lieben. Dann werden wir überzeugt sein, dass, wie die Liebe aus Gott ist, auch Er in uns bleibt, damit wir getrennt von der Welt wandeln. Die Welt kann diese Liebe durch Vermischung nur in ihrem Wesen zerstören, anstatt dazu beizutragen, dass sie in uns vollendet wird. Niemand kann an dieser Liebe teilhaben noch sie verstehen, der nicht aus Gott geboren ist, und auch dann nur insofern, wie er im Glauben an Christus wandelt und so das Unsichtbare und Ewige anschaut. Das Anschauen mit unseren natürlichen Augen und Sinnen kann ihren Charakter nur zerstören.
Wir sind dafür verantwortlich, Gott zu erkennen, und als solche, die an Christus glauben, wird uns die Freude dieses Vorrechtes auch zuteil. Jedes seiner Worte und Werke, jeder seiner Blicke, von denen das Wort uns berichtet, führt uns in diesen vertrauten Umgang ein; denn die inspirierten Männer haben uns in all diesen Einzelheiten des Lebens Christi viel über Gott zu berichten. Die geringsten Einzelheiten wie die größten Herrlichkeiten machen uns Christus in den Schriften offenbar. Doch der Herr weilt jetzt nicht mehr hier; Er, der Gott kundgemacht hat, ist in den Himmel zurückgekehrt. Gibt es daher kein gegenwärtiges, lebendiges Zeugnis über Gott? Der Apostel wiederholt in seinem Brief: „Niemand hat Gott jemals gesehen.“ Er hat seine Liebe in Christus vollkommen kundgemacht; Er wurde im Gegensatz zu aller menschlichen Unvollkommenheit in seiner göttlichen Vollkommenheit geschaut. Wo ist nun dieses Zeugnis in unserer heutigen Zeit? „Wenn wir einander lieben“. Wie ernst sollten wir es nehmen, dass Gott die Christen beauftragt, Ihn in dieser verfinsterten Welt darzustellen! Wir sind berufen, insbesondere durch das Betätigen der göttlichen Liebe in unseren Herzen und in unseren Wegen, Zeugen Gottes in der Welt zu sein, die jede Gewissheit über Ihn leugnet. Als Christus Gott offenbarte, da war Er vollkommen wie Gott selbst. Doch wie steht es mit uns, die wir von jeder Schwachheit umgeben sind? „Wenn wir einander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet.“ Auch hier hebt der Apostel den Grundsatz hervor und schaut nicht auf das Versagen der Gläubigen. Wie wir bereits früher feststellen konnten, ist dies die Art des Johannes, uns die Dinge vor Augen zu stellen. Er vergisst nie, dass Gott die Quelle und Christus der Kanal ist, der sie uns kundgetan hat. Er stellt den Gläubigen den Ausfluss der göttlichen Gnade in Übereinstimmung mit der neuen Natur vor.
Warum sollten wir fortwährend bei dem Bekenntnis stehenbleiben, dass wir nicht nach der Wahrheit wandeln? Wenn Christen dabei verharren, wird dann der Geist Gottes nicht betrübt? Wir tun gut, wenn wir den Grund ausfindig machen und vor Gott verurteilen; denn wir werden davor gewarnt, den Geist Gottes zu betrüben. Es ist in erster Linie das Fleisch, das sich dem Geist widersetzt. Der Apostel Paulus schreibt den Galatern: „Wandelt im Geist, und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen. Denn das Fleisch begehrt gegen den Geist, der Geist aber gegen das Fleisch; denn diese sind einander entgegengesetzt, damit ihr nicht das tut, was ihr wollt“ (5,16.17). Das Fleisch ist stets der große Widersacher des Geistes. Manchmal benimmt es sich auf liebenswürdige Weise, die aber keine wahre Liebe ist; manchmal zeigt es sich in seiner ganzen Grobheit und Unverschämtheit, so dass von Liebe keine Rede sein kann. Wenn wir uns jedoch untereinander lieben, all den raffinierten Bemühungen des Geistes der Falschheit und Bosheit zum Trotz, dann erweist sich die Liebe Gottes umso stärker und sichtbarer; sie gründet sich nicht auf etwas in uns, sondern auf das, was Gott selbst uns allen in Christus geschenkt hat. Denken wir daran, was wir einst waren, die wir jetzt Kinder Gottes sind: Wir sind ebenso böse wie die, die immer noch diese große Errettung vernachlässigen, einige von uns vielleicht noch anmaßender und verwerflicher als die meisten von ihnen. Das war unser wahrer Zustand. Falls wir moralische Vorzüge oder eine Religion des Fleisches aufzuweisen hatten und stolz auf etwas waren, was nichts weiter als ein Deckmantel war, so war dies wegen seiner Heuchelei noch schlimmer in Gottes Augen, als offenkundiges Böses. „Aber ihr seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt worden in dem Namen des Herrn Jesus und durch den Geist unseres Gottes“ (1Kor 6,11). So schreibt der Apostel den Korinthern und erkannte damit an, was die Liebe Gottes bei vielen in jener verdorbenen Stadt Korinth gewirkt hatte. Zugleich war es ein scharfer Tadel wegen ihrer mangelhaften Übereinstimmung mit der neuen Stellung. Er konnte jedoch zu seiner großen Freude feststellen, dass seine treuen Liebesbemühungen (die ihm selbst mehr Schmerzen verursachten als ihnen) nicht vergeblich waren. Sie hatten eine Betrübnis zur Buße bewirkt, einer nie zu bereuenden Buße zum Heil. Im Widerstreit seiner Gefühle hatte er zwar seinen eigenen ersten Brief bedauert, durfte sich aber nun durch die Gnade in bleibender Freude seiner erinnern. Die große Liebe des Apostels drang durch das Gewissen und die Wahrheit bis zu ihrem geringen Maß an Liebe durch. Welch einen Fleiß bewirkte sie nun in ihnen, welchen Unwillen, welche Furcht und Sehnsucht, welchen Eifer, welche Vergeltung! Sie erwiesen sich dadurch in allem, worin sie mit Recht scharf zu tadeln gewesen waren, nunmehr als rein. In diesem Beispiel sehen wir eine Form der gegenseitigen Liebe, die mit Übungen und Schmerzen verbunden ist. Aber sie ist wirkliche Liebe. Bei weitem glücklicher ist man allerdings, wenn man sein Wort beachtet und so vor allem Bösen bewahrt bleibt. „Wenn wir einander lieben, so bleibt Gott in uns“. Das ist der normale Zustand, wenn der Glaube und nicht das Fleisch tätig ist. Damit leitet der Apostel zu der großen Wahrheit der Gabe des Heiligen Geistes über, durch den Gott in uns bleibt. Das ist noch nicht alles, denn er fügt hinzu: „Und seine Liebe ist in uns vollendet“. Das hatte er an einer früheren Stelle und in einem anderen Zusammenhang schon einmal gesagt. In Kapitel 2,5 lesen wir: „Wer aber irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet.“ Durch das Halten seines Wortes wird die höchste und tiefste Form des Gehorsams bewiesen. Wer nicht nur seine Gebote in allen ihren Einzelheiten, sondern sein Wort als Ganzes hält, „in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet“.
Diese Vollendung soll nicht dem verhängnisvollen Irrtum Raum geben, dass der Mensch in sich selbst eine Vollkommenheit erreicht. Solange wir leben, erweist sich das Fleisch als unausrottbar. Doch Gott hat es am Kreuz Christi gerichtet, und wir, die wir Leben in Christus haben, töten unsere Glieder, die auf der Erde sind. Das Fleisch ist noch in uns, obwohl wir nicht mehr im Fleisch sind. Das Fleisch kann nie in Geist verwandelt werden, es wird auch niemals verschwinden, solange wir uns in diesem Leib befinden. Wir sind aber durch die Gnade gehalten, es niemals wirken zu lassen, sondern es im Glauben unter der Macht des Todes Christi zu halten. Auf diese Weise wird in uns seine Liebe vollendet, sowohl durch das Halten seines Wortes als auch durch die Liebe, die wir untereinander haben. Wir sind seinem Wort unterworfen und wandeln miteinander in Liebe, trotz aller Schwierigkeiten. Auf diese Weise wird seine Liebe nach den Gedanken Gottes in uns vollendet. Dabei haben wir nichts zu rühmen; wir gehorchen und lieben von Herzen durch die Macht seiner Liebe zu uns und in uns. Das hat zweifellos zur Voraussetzung, dass wir ständig zu Gott aufgeschaut haben und Er unsere Gebete erhört hat. So wird seine Liebe in uns vollendet, Gehorsam und Liebe werden nach seinen Gedanken verwirklicht.
Johannes kommt nun auf die Gabe des Heiligen Geistes zu sprechen. „Hieran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns von seinem Geist gegeben hat“ (V. 13). Diese Aussage geht merklich über die in Kapitel 3,24 hinaus. Dort wird nur „der Geist“ genannt. Gott hat in manchen Menschen durch den Geist gewirkt, obwohl nicht gesagt werden konnte, dass er ihnen „von seinem Geist“ gegeben hatte. Wir hören oft von der Wirksamkeit des Geistes im Alten Testament und noch häufiger im Neuen Testament. In Hebräer 6,4-6 finden wir sogar Menschen, die des Heiligen Geistes teilhaftig geworden waren und die Wunderwerke des zukünftigen Zeitalters geschmeckt hatten und die doch von Gott endgültig abgefallen waren. Von diesen wird niemals gesagt, dass sie aus dem Geist geboren waren, und noch weniger, dass Gott ihnen „von seinem Geist“ gegeben hatte. Denn das setzt wahre Gemeinschaft mit Gott voraus. Das Neue Testament verleiht den Worten „von seinem Geist“ eine tiefergehende Bedeutung als das Alte Testament; die Gabe seines Geistes ist der Weg, auf dem Gott in dem Christen bleibt. Doch auch wenn Gott äußerliche Absichten verfolgte, wirkte Er auf verschiedene Art durch die Kraft des Geistes. Da es in jedem Fall der Geist Gottes war, der ein Geist der Kraft ist, entstanden auch übernatürliche Wirkungen, die jedes Vermögen des Menschen überstiegen, ja selbst die Kraft des ewigen Lebens ohne die Wirkung des Geistes.
Johannes schreibt, dass Gott in uns bleibt und wir in Ihm bleiben. Er spricht zunächst von Gottes Bleiben in uns, nicht umgekehrt. Es wird sich sogleich zeigen, dass es wichtig ist, diesen Unterschied zu erkennen. Dass Gott in uns bleibt, ist ein Akt seiner Gnade uns gegenüber, die wir auf dem Erlösungswerk Christi ruhen. Dass wir in Ihm bleiben ist ein Ergebnis unseres Vertrauens auf Gott, das durch seine Gnade in uns gewirkt wird. Wir ziehen uns gleichsam von uns selbst und von allem, was uns hier an Erschaffenem umgibt, zurück und finden in Gott den Ruhepunkt für unser Herz, während wir uns noch auf der Erde befinden. Das heißt es, in Gott zu bleiben; und um dies zu verwirklichen, müssen wir ständig zu Ihm aufblicken, um durch seine Gnade diese Stellung zu bewahren. Bleiben wir in Ihm, dann bewirkt Er in uns, aus der Gemeinschaft mit Ihm heraus, die nötige Kraft. In Übereinstimmung damit heißt es daher, dass Er uns von seinem Geist gegeben hat. „Von seinem Geist“ ist ein Ausdruck von besonderer Bedeutung. Er lässt klar erkennen, dass wir mit Ihm selbst an seinem Geist teilhaben.
Es besteht jedoch keine geringe Gefahr, dass wir ein so hohes Vorrecht falsch verstehen. Viele gottesfürchtige Menschen verwechseln gewisse Gefühle der Freude in ihren Herzen mit dem Bleiben Gottes in ihnen. Solche Gedanken tragen gewöhnlich einen mystischen Zug; man ist mit sich selbst beschäftigt und lebt in Gefühlsstimmungen.
Wer einmal gelesen hat, was der berühmte William Law über die Seele geschrieben hat, weiß, was ich hiermit sagen will. Er war einer dieser Mystiker, der aber der Wirksamkeit der sogenannten Gnadenmittel und den innerlichen Gefühlen des Menschen große Bedeutung beimaß und dadurch die Gnade Gottes in Christus verdeckte oder gar preisgab. Er hatte das gänzliche Verderben des Menschen nicht im Geringesten erfasst, aber auch nicht die ganze Reichweite der Erlösung oder gar das Leben in Christus. Es ging ihm um ein Bemühen, Gott zu lieben und diesem Bestreben Anerkennung zu verschaffen. Der Glaube an Gottes erlösende Liebe und an sein schonungsloses Gericht über das Fleisch fehlte. Durch diesen Glauben allein hätte er ein unendlich besseres Teil in Christus, dem Herrn, finden können. Es gibt seither eine Gemeinschaft, deren Unterscheidungsmerkmal es ist, sich um die sogenannte christliche Heiligung zu bemühen. Es handelt sich dabei nicht um die schriftgemäße Heiligung, sondern mehr um eine gute Meinung über den eigenen Seelenzustand, der sich auf glückliche Gefühle des Herzens gründet. Die Ursache und zugleich Auswirkung dieser Bemühungen ist eine übermäßige Beschäftigung mit sich selbst und mit den persönlichen Erfahrungen, die sie untereinander zur gegenseitigen Erbauung austauschen. Dieser Austausch nimmt einen wichtigen und festen Platz in ihren Zusammenkünften ein, so dass sie regelmäßig in Gruppen, jeweils unter der Führung eines Leiters, wöchentlich zusammenkommen, um sich gegenseitig mitzuteilen, was der Heilige Geist ihrer Meinung nach in ihnen hervorgebracht hat. Sie können sich dabei natürlich auf keinerlei Anordnung oder Institution dieser Art im Neuen Testament berufen.
Der Geist Gottes verherrlicht Christus, indem Er von dem Seinen empfängt und es uns verkündigt. Er ist es, der in die ganze Wahrheit leitet. Die erwähnte Art von Mystizismus dagegen verherrlicht das eigene Ich. Der Mensch beschäftigt sich mit seinen eigenen Gefühlen. Er ist damit direkt der Gefahr der Selbstvergötterung ausgesetzt, während wieder in anderen Seelen eine Depression ausgelöst wird, wenn sie mit dem durch ihre Anstrengungen Erreichten nicht zufrieden sind. Es ist heilsam für uns zu erkennen, dass uns nichts in uns selbst geistliche Befriedigung verschaffen kann, so dass wir Christus zu unserem ein und alles machen, was Er ja auch tatsächlich ist.
Die Beschäftigung mit unseren eigenen Herzen, es sei denn, um uns deswegen zu demütigen, verunehrt Ihn und bringt uns selbst in Gefahr. Die Selbstbeschäftigung ist nicht nur nutzlos, sie hindert uns auch, in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus zu wachsen. Zweifellos sind aber viele wahre Christen in diese menschlich erfundene Selbstbeschäftigung hineingezogen worden, die notwendigerweise die Beschäftigung mit dem Herrn Jesus verdrängt. Anstatt sich allezeit im Herrn zu erfreuen, sucht man die Freude in sich selbst.
Beachten wir die Sorgfalt, mit der das inspirierte Wort im folgenden Vers gegen die Lehre des Mystizismus Vorsorge getroffen hat. Die gesegnete Wahrheit des Christus und die Tatsachen, die uns in den Evangelien über Ihn mitgeteilt werden, sind das beste Heilmittel für diesen Missbrauch der Selbstbetrachtung. Sie stellen das Herz auf die göttliche Grundlage, und die ungeschmälerte Freude in Christus schließt die Beschäftigung mit uns selbst und unserem vermeintlichen guten Zustand aus. So führt uns der Heilige Geist an dieser Stelle zu dem Ruhen auf dem zurück, was Gott für uns gewirkt hat, zu dem Evangelium selbst. Was wäre geeigneter, uns gründlicher von den Blicken in das eigene Herz zu befreien? „Und wir haben gesehen und bezeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat als Heiland der Welt.“ – „Wir haben gesehen“, so können die inspirierten Zeugen mit Nachdruck bestätigen. Ganz gleich, womit sich andere beschäftigen mögen und wie vieler hoher Dinge sie sich rühmen mögen.
Wie wirkt sich nun eine solche Wahrheit aus, wie sollte sie sich auswirken? Erfüllt sie uns nicht mit dem Lob des Vaters und des Sohnes? Lässt sie uns nicht beschämt unsere eigene Nichtigkeit erkennen? Es wird uns gezeigt, dass wir nichts als Sünder waren, aber mittels des Glaubens durch seine Gnade nun völlig errettet sind. Der Kleinglaube zweifelt daran, ob wir wirklich so schlecht waren und Gott wirklich so gütig ist. Doch der durch den Heiligen Geist gewirkte einfältige Glaube findet sicher nichts in uns selbst, was wert ist, mit einer so reichen und immerwährenden Gnade verglichen zu werden. Auf diese Weise befreit uns Gott von der Beschäftigung mit uns selbst, der Welt und allem anderen um uns her, damit wir unsere Wonne an Ihm und seinem Sohn finden mögen. Die Erkenntnis vermag uns sogar aufzublähen; aber die göttliche Liebe des Vaters und des Sohnes bewirken unsere Auferbauung.
Die Wahrheit macht auch von einer anderen, entgegengesetzten Lehre frei. Manche beschäftigen sich mit sich selbst in einer gesetzlichen Weise. Sie suchen nicht nach dem vermeintlich Guten in sich selbst, sondern meinen, durch einen hoffnungslosen Pessimismus Gott wohlzugefallen und dadurch umso besser zu sein. Ihre Herzen können sich kaum über die Feststellung erheben: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erretten von diesem Leib des Todes?“ (Röm 7,24). Sie übersehen dabei völlig, was der Apostel Paulus den Gläubigen kraft des Werkes Christi verkündet. Anstatt wie Tagelöhner mit finsteren, verunreinigten Herzen sich niederzubeugen, hat ihnen der Heiland ja ein Anrecht auf das „beste Kleid“ und das „gemästete Kalb“ verschafft, und sie sind berufen, an der Freude des Vaters, zur Verherrlichung seines Sohnes, teilzunehmen. „Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes“ (Röm 8,2). Der Trost dieser Befreiung wird umso eindrucksvoller, wenn wir bedenken, dass das durch die Hinwendung zu Christus freigewordene Ich dasselbe ist, das kurz zuvor noch unter dem Gesetz seufzte. Anstatt sich auf so verschiedene Weise, teils durch Gefühlswallungen, teils durch Trübsinn, mit sich selbst zu beschäftigen, ist es viel besser, das Fleisch schonungslos und vollständig zu verurteilen, wie es auch Gott am Kreuz getan hat, und Christus als würdigen Gegenstand unserer Betrachtung und als Quelle unvergänglichen Friedens und ständiger Freude zu ergreifen. Damit bestätigen wir unsere Berufung, den Willen des Vaters, das Werk des Sohnes und das Zeugnis des Heiligen Geistes als Gegenstand unserer Freude zu besitzen, wie es ja auch in der Ewigkeit unser Teil sein wird.
In diesem Zusammenhang ist die Tatsache interessant, dass Samaria der erste Ort war, in dem der Herr als Heiland der Welt anerkannt wurde. Diese Anerkennung folgte auf die wunderbare Begebenheit am Jakobsbrunnen, wo der armen Sünderin, die fünf Männer gehabt und jetzt einen hatte, der nicht ihr Mann war, durch den Glauben an den Herrn Jesus ewiges Leben geschenkt wurde. Der Herr sagte ihr auch, dass die rivalisierenden Religionen Jerusalems und Samarias weggetan werden würden. Von nun an würde die Anbetung einen völlig anderen Charakter annehmen. Das Wesen dieser Anbetung wurde bereits damals vom Herrn angezeigt: „Es kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die wahrhaftigen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn auch der Vater sucht solche als seine Anbeter“ (Joh 4,23).
So wurde einer armen Samariterin, in deren Herz die Wahrheit zu wirken angefangen hatte, die Fülle der Gnade offenbart. Ihr Gewissen war getroffen und sie war zum Schuldbewusstsein erwacht. Erst hernach erfuhr sie, wer es war, der (davon war sie überzeugt) in göttlicher Kraft zu ihrem Herzen geredet hatte. In aller Einfalt des Glaubens nahm sie sein Wort an und wurde anderen eine Zeugin von dem, an den sie glaubte. Der Herr nahm sich in Gnaden auch der anderen Samariter an. Er tat dort, was wir sonst während seines Dienstes auf der Erde nirgends finden: Er verweilte zwei Tage bei ihnen. Die Samariter konnten danach bezeugen, dass sie an Ihn glaubten, nicht wegen des Zeugnisses der Frau, der der Herr „alles gesagt“ hatte, was irgend sie getan hatte, sondern: „Denn wir selbst haben gehört und wissen, dass dieser wahrhaftig der Heiland der Welt ist“ (V. 42).
Es ging in jenen Tagen um das Bekenntnis dieses Titels „Heiland der Welt“, wobei das Zeugnis, dass der Vater den Sohn gesandt hatte, den Umständen entsprechend noch fehlte. Diese Tatsache kannten die Samariter noch nicht und konnten auch nicht wagen, sie vorauszusetzen. Weder ihnen noch irgendeinem anderen Gläubigen war bis dahin der Heilige Geist gegeben worden, „in dem wir rufen: Abba, Vater!“ (Röm 8,15). Sie waren aber die ersten Gläubigen, die bezeugten, dass der Herr Jesus der „Heiland der Welt“ ist. Es ging dabei nicht um Juden, sondern um Sünder und betraf somit die Samariter ebenso gut wie jeden anderen Menschen. Dies ereignete sich, ehe der Herr seinen öffentlichen Dienst antrat. Die ersten Kapitel des Johannesevangeliums berichten uns über die Handlungen des Herrn, ehe Johannes der Täufer überliefert wurde und Er selbst nach Galiläa ging. Diese Ereignisse gewinnen umso mehr an Bedeutung durch die Anerkennung dieser gewaltigen Tatsache, dass Er „der Heiland der Welt“ ist.
Wir finden bei den Samaritern eine Vorwegnahme des Evangeliums, indem sie in Wahrheit die in der Person des Herrn erschienene Gnade erfassten. Er ist nicht nur ein Heiland, auch nicht nur der erwartete Messias des Volkes Israel, sondern Er ist „der Heiland der Welt“. Die Wahrheit brach sich durch die Wolken Bahn, und ihr Licht schien in die Herzen der verachteten und unwissenden Samariter. Sie waren die ersten, die Ihn auf diese Weise anerkannten. Hier, im Johannesbrief, haben wir nun das apostolische Zeugnis: „Und wir haben gesehen und bezeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat als Heiland der Welt“ (V. 14).
Wie können wir aber wissen, dass ein Sünder sich diese Gnade und Wahrheit Christi angeeignet hat? Wie können wir sicher sein, dass die göttliche, rettende Wahrheit in die Seele eines Menschen gedrungen und er nun in diese nahe Verbindung zu Gott gebracht worden ist, von der der Apostel redet? Die Antwort finden wir im nächsten Vers: „Wer irgend bekennt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, in ihm bleibt Gott und er in Gott“ (V. 15).
Empfangen wir damit nicht eine höchst erstaunliche Bestätigung? In Vers 14 haben wir soeben den wahren, einfältigen Gläubigen gesehen, der sich unter die Frohe Botschaft beugte, dass der Vater den Sohn als Heiland der Welt gesandt hat. Es geht aber nicht nur um die Unterwerfung unter den Messias, den kommenden König Israels, sondern um den Glauben, dass Er der Sohn Gottes ist. „Wer irgend bekennt“ heißt es, und dieses „wer irgend“ umfasst alle ohne Ausnahme. Es geht daher um das „Bekennen“, nicht nur um das „Glauben“. Wer Ihn bekannte, hatte alle Hindernisse, Zweifel und Befürchtungen überwunden. Er hat die Wahrheit geprüft, die Gnade empfunden, sich selbst verurteilt und zögert nun nicht länger. Die Folge ist, dass der reiche Segen des Herrn sich über ihn ergießt. So sagt der Apostel Paulus: „wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst“ (Röm 10,9), und legt damit Nachdruck auf die Antwort Gottes auf das Werk Christi.
Hier in unserem Abschnitt verweilt der Apostel Johannes wie gewöhnlich bei der Herrlichkeit der Person des Sohnes, im Evangelium dagegen stellt er Ihn in der ganzen Fülle seiner Gnade zu den Verlorenen heraus. Wenn nun der Sünder sich von sich selbst und von jeder irdischen Stütze abwendet und bekennt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, was ist dann die Folge? „In ihm bleibt Gott und er in Gott“. Ich gehe davon aus, dass wohl niemand Ihn wahrhaftig als den Sohn Gottes bekennt, ohne auch an das Erlösungswerk zu glauben, das Er vollbracht und das Gott anerkannt hat. Für den Unglauben sind das alles zweifelhafte Dinge. Die Menschen mögen die Worte der Schrift gebrauchen, aber sie erkennen gar nicht die Wahrheit, die sie damit ausdrücken. Es ist daher die Voraussetzung, dass das Bekenntnis aufrichtig und in gottgemäßer Weise erfolgt. Es geht um das Bekenntnis, dass der Mensch Christus Jesus, den die großen Massen nur für einen Menschen, wenn auch für einen außergewöhnlichen hielten, der Sohn Gottes ist.
Wer könnte in diesem Fall noch an der Wirksamkeit seines Erlösungswerkes zweifeln? Die hier mitgeteilte auffallende Tatsache ist, dass jeder, der Jesus als den Sohn Gottes bekennt, nicht nur ewiges Leben, Vergebung seiner Sünden und den Heiligen Geist empfängt, sondern auch die höchsten geistlichen Vorrechte besitzt, die wir uns vorstellen können. Denn was könnte größer sein, als dass Gott in ihm bleibt und er in Gott? Zweifellos wird die Größe dieser Segnungen umso tiefer empfunden, je geistlicher der Zustand unseres Herzens ist. Der Apostel versichert aber hier dem Gläubigen, der dieses Bekenntnis ablegt, dass diese Segnungen sein Teil sind. Mögen wir diese Wahrheit wertschätzen und uns daran erfreuen! Möge der Herr alles von uns entfernen, was unseren Sinn und unsere Wertschätzung seiner wunderbaren Segnungen trüben könnte!
Der Apostel bringt in Vers 16 nun die Nutzanwendung dieser Wahrheit: „Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Der Hauptgrundsatz wird auch hier wieder deutlich hervorgehoben: „Wir haben erkannt“. Seine Liebe ist nicht nur „zu uns“, sondern „in uns“ (wörtliche Bedeutung des Grundtextes). Wir schätzen und erfreuen uns umso mehr der Tatsache, dass seine Liebe in uns vorher zu uns ausströmte, als wir noch Kinder des Zorns waren. Auch hier wiederholt Johannes: „Gott ist Liebe“, doch diesmal verbunden mit der Feststellung: „und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott in ihm.“ Das ist eine ganz neue Art, über die Liebe zu sprechen. Wenn ich in der Liebe bleibe, die von Gott kommt, dann kann ich nicht anders als mich bei Gott völlig daheim zu fühlen. Die aus seiner eigenen Güte hervorströmende Liebe hat Christus in den Tod gegeben, um eine vollkommene Grundlage für die Gabe der Gerechtigkeit zu schaffen. Sie hat meine Sünden getilgt und mich zu seinem Kind gemacht, ohne das geringste Verdienst auf meiner Seite. Sie veranlasst Ihn auch, in mir zu bleiben.
Es ist nicht verwunderlich, wenn diese Liebe in Ihm auch bei mir Liebe hervorruft; bleibe ich in dieser Liebe, so bleibe ich in Gott und Gott bleibt in mir. Es handelt sich nicht um gelegentliche Besuche bei Gott, sondern um ein ständiges Bleiben in Ihm. Es ist die Gewohnheit und das Zuhause des Gläubigen, in dieser Liebe zu bleiben. Könnte es eine kostbarere Segnung geben? Und wie einfach ist das alles, wenn wir nur glauben. Das stürzt jede Höhe, die sich gegen die Erkenntnis Gottes erhebt, zu Boden. Der Apostel schreibt hier nicht an Theologen, Philosophen oder an Religionswissenschaftler, sondern an Kinder Gottes. Keins von ihnen soll zu kurz kommen, alle sollen die Liebe Gottes, die schon zu Beginn ihres Glaubensweges ihr Teil war, besser kennenlernen und sich in zunehmendem Maß des Gottes der Liebe erfreuen.
Es wird jedoch gut sein, auf einige wichtige Unterschiede hinzuweisen, die zwischen unserem Bleiben in Gott und dem Bleiben Gottes in uns bestehen. Es sind drei verschiedene Formen dieser Segnung zu unterscheiden. Zeitlich steht an erster Stelle das Bleiben Gottes in dem Gläubigen, und wir haben gerade gesehen, dass jeder, der bekennt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, diese Segnungen in zweifacher Weise besitzt (V. 15): Gott bleibt in ihm und er in Gott. Wie aber bleibt Gott in ihm? Wir wissen, dass dies durch den Geist geschieht, den Er uns gegeben hat (vgl. Kap. 3,24). In Kapitel 4,13 wird dann hinzugefügt: „Hieran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns von seinem Geist gegeben hat.“
Hier finden wir also unser Bleiben in Ihm; dieses kann nur verwirklicht werden, wenn Er sich in seiner unumschränkten Gnade herablässt, durch die Gabe seines Geistes in uns zu bleiben.
Das hat dann wieder zur Folge, dass wir in Ihm bleiben. Wie erklärt sich dann aber die Reihenfolge in Kapitel 4,13? Der Vers deutet an, dass Gott in dem Gläubigen bereits aufgrund des ihm verliehenen Geistes bleibt. Durch die Kraft der Gemeinschaft, die dem Gläubigen durch den Teil an Gottes Geist zufließt, bleibt er jedoch nicht nur in Gott, sondern Gott bleibt auch in ihm in der dritten Form dieses Bleibens, in besonderer Machtentfaltung. Das wird durch die besondere Formulierung in Vers 16 bestätigt: „Und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Wie in Vers 13 wird auch hier der vorherige Segen des Bleibens Gottes angedeutet und werden die beiden weiteren Segnungen hinzugefügt. Das dritte Ergebnis ist die geistliche Kraft als ein weiteres besonderes Vorrecht. In Vers 15 finden wir den allgemeinen Fall: das Bekenntnis, dass Jesus der Sohn Gottes ist, und als Folge nur die erste und zweite Art der Segnung, dass Gott in ihm bleibt und er in Gott. Die dritte Segnung wird nur in den Versen 13 und 16 hinzugefügt. Es heißt hier nicht nur „der Geist“, sondern „von seinem Geist“, was in besonderer Weise auf Gemeinschaft hinweist.
Gott bleibt in dem Gläubigen durch den Geist, den Er ihm gegeben hat; hieran wissen wir, dass Er in uns bleibt. Das ist eine wunderbare Tatsache, sie umfasst aber nicht die gesamte Segnung. Der Apostel ist unser Garant für diese Tatsache, und das genügt uns. Gott bleibt in uns; das übt eine starke Anziehungskraft auf uns aus, und indem wir seine Liebe erkennen, bleiben auch wir in Ihm. Dieses erste Vorrecht können wir als das souveräne Wirken Gottes bezeichnen, das Er zur Verherrlichung des Werkes des Herrn Jesus in denen ausübt, die Ihn als Sohn Gottes bekennen. Er versiegelt uns mit dem Heiligen Geist als die Seinen, die durch Blut erkauft sind (um die Ausdrucksweise des Apostels Petrus in Verbindung damit zu gebrauchen). Das bedeutet, dass Gott in uns bleibt.
Das zweite Vorrecht ist die Antwort aus dem Herzen des Gläubigen, der gewohnheitsmäßig in demütiger und vertrauender Liebe mit Gott rechnet, anstatt bei sich selbst oder bei anderen Hilfe in Schwierigkeiten zu suchen. Darin besteht unser Bleiben in Gott. Wir wenden uns in allen Lagen an Ihn, dessen Liebe in uns eine Wohnung für Ihn bereitet hat. Nachdem wir in solch vertraute Nähe zu Ihm gebracht worden sind, machen wir nach seinem Wunsch auch unser Zuhause in Ihm. Das scheint mir der Unterschied zwischen dem Bleiben Gottes in uns und unserem Bleiben in Ihm zu sein.
Es folgt noch die dritte Form göttlicher Vorrechte; sie besteht in der Kraft, die aus dieser Gemeinschaft fließt.
Die erste Form war das souveräne Wirken Gottes; die zweite ist die in unseren Herzen durch das Vertrauen auf Ihn ausgelöste Gegenliebe; die dritte besteht in der durch den Geist bewirkten geistlichen Kraft als Folge einer so großen Segnung.
Und an dieser Stelle wird unsere Schwäche am meisten offenbar. Wir neigen inmitten einer vergänglichen Welt tatsächlich dazu, nicht in den vollen Genuss dieser Segnung zu treten. Das sollte nicht sein und ist sehr demütigend für uns. Denn wenn wir, du und ich, so wenig Hingabe und geistliche Kraft zeigen, dann ist uns wohl durchaus bewusst, dass die Schuld daran einzig und allein bei uns liegt. Die Fehler anderer sind nicht der Grund und auch keine triftige Entschuldigung, sondern unser eigenes Versagen. Sind wir etwa von anderen gereizt worden, dann war etwas in uns, was sich reizen ließ. Dies wäre aber nicht vorhanden gewesen, wenn wir in Gott geblieben wären und Gott in seiner Macht in uns geblieben wäre.
Der Apostel zeigt uns klar, dass Gottes Bleiben in uns und unser Bleiben in Ihm das glückliche Teil jedes Gläubigen ist. Wie schade dann, wenn dieses Vorrecht nur dem Grundsatz nach anerkannt wird, in der Verwirklichung sich aber ein großes Versagen zeigt!
Lasst uns einander ermuntern, damit dieser Grundsatz bei uns in praktische Frucht umgewandelt werde! Wir werden darin sehr ermuntert, wenn wir in Einfalt und Beständigkeit auf Gott blicken. Möge seine Gnade diese Segnungen in uns verwirklichen und zur Verherrlichung seines Namens auch in Erscheinung treten lassen; ebenso die Bereitschaft zu sofortigem Beugen in den Staub, wenn uns bewusst wird, Ihn verunehrt zu haben. Menschen, die solcher Segnungen teilhaftig geworden sind wie die Gläubigen, steht es schlecht an, nur in Selbstvorwürfen voranzugehen.
Mögen wir zu unserer Freude die Feststellung machen, dass Gott jederzeit zu seinem Wort steht. Er hat uns Vorrechte geschenkt, die so herrlich sind, dass nur wenige Gläubige es erfassen, dass sie uns nicht nur theoretisch gehören, sondern dass wir uns an ihnen erfreuen und sie in unserem Wandel verwirklichen dürfen.