Behandelter Abschnitt Jak 5,1-6
Die Anrede zu Beginn des Briefes trägt nicht wenig dazu bei, die Besonderheit der Anprangerung der Reichen zu erklären, mit der unser Kapitel beginnt, wie auch andere Stellen danach und davor. Da sie an die zwölf Stämme in der Zerstreuung gerichtet ist, gibt es keine Schwierigkeit; wenn sie wie die beiden Petrusbriefe nur die Gläubigen beträfe, würde es nicht wenig hart klingen, um das Mindeste zu sagen. Da aber der inspirierte Schreiber von vornherein einen breiteren Boden einnehmen musste, wird uns damit der wahre Schlüssel der Auslegung in die Hand gegeben.
Wohlan nun, ihr Reichen, weint und heult über euer Elend, das über euch kommt! Euer Reichtum ist verfault, und eure Kleider sind von Motten zerfressen worden. Euer Gold und Silber ist verrostet, und ihr Rost wird zum Zeugnis sein gegen euch und wird euer Fleisch fressen wie Feuer; ihr habt Schätze gesammelt in den letzten Tagen. Siehe, der Lohn der Arbeiter, die eure Felder abgemäht haben, der von euch vorenthalten worden ist, schreit, und das Geschrei der Schnitter ist zu den Ohren des Herrn Zebaoth gekommen. Ihr habt in Üppigkeit gelebt auf der Erde und geschwelgt; ihr habt eure Herzen gepflegt wie an einem Schlachttag. Ihr habt verurteilt, ihr habt getötet den Gerechten; er widersteht euch nicht (5,1–6).
Der Tag des Herrn konnte einem gottesfürchtigen Israeliten, der von den wiederholten Warnungen der Propheten durchdrungen war, nicht entgehen; und er schwebt immer noch über den Menschen auf der Erde. Das alte Bundesvolk neigte dazu, sich selbst als Ausnahme zu betrachten; aber für ihre Täuschung hatten sie keine Rechtfertigung oder gar Entschuldigung aus der Schrift. Die Privilegierteren sind, wenn sie ungläubig sind, umso schuldiger. „Nur euch habe ich von allen Geschlechtern der Erde erkannt; darum werde ich alle eure Ungerechtigkeiten an euch heimsuchen“ (Amos 3,2). Das Evangelium bringt Gnade und durch den Glauben Befreiung; aber die moralischen Prinzipien der göttlichen Regierung sind unveränderlich. „Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen“ (Röm 1,18).
Die Armen sind nicht weniger Sünder als die Reichen; jeder hat seine besonderen Fallstricke und Gefahren. Aber es ist für einen Reichen viel schwerer als für einen Armen, Christus wirklich nachzufolgen. Deshalb sagte Er zu seinen Jüngern: „Wiederum aber sage ich euch: Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurchgehe, als dass ein Reicher in das Reich Gottes eingehe“ (Mt 19,24).
Hier aber werden sie in allgemeiner und schonungsloser Weise ernstlich vor ihrem kommenden Elend gewarnt. Der Leser möge mit Gewinn Jesaja 2,7 bis zum Ende vergleichen: Nur die Götzen werden in dem Brief nicht wie in der Prophezeiung angeführt. Aber an jenem Tag wird mit allen Stolzen und Hochmütigen und mit allen Erhabenen, mit allen hohen Türmen und mit jeder festen Mauer, mit allen Schiffen von Tarsis und mit allen schönen Kunstwerken verfahren. Gott ist gegen ihren geschätzten Reichtum und ihren endlosen Vorrat an Kleidern. Für sein Auge, das unter der Oberfläche sah, war alles verdorben, ihr Gold und Silber verrostet, der Rost ein Zeuge für sie und um ihr Fleisch wie Feuer zu fressen. Der selbstsüchtige Unglaube, der in den letzten Tagen Schätze anhäufte, war in Gottes Augen keine geringe Sache.
Aber sie werden angeklagt wegen mutwilliger Grausamkeit und Betrug im Umgang mit den Arbeitern, die ihre Felder abernteten. Ihr eigener Reichtum verleitet die Reichen dazu, den Armen die Lohnzahlung vorzuenthalten; ihre eigenen Dinge sind in ihren Augen allein von Bedeutung, während sie die Ansprüche derer, die von der Hand in den Mund leben, auf eine günstigere Zeit verschieben. Aber der Lohn der Arbeiter schreit laut zu Ihm, der immer mit den Armen empfindet, wie Er gezeigt hat, der allein Ihn vollständig bekanntgemacht hat. Ja, die Schreie der Schnitter, die die Reichen vielleicht nicht erreichten, drangen in die Ohren des Herrn Zebaoth, und sein Schlag fiel, als er am wenigsten erwartet wurde.
Die Reichen werden als Nächstes für ihr luxuriöses Leben auf der Erde angeklagt, als ob der Gott des Himmels sie nicht beachten würde. In einer Welt des Elends und des Mangels gaben sie sich hin, als wären sie keine Verwalter und hätten keine Rechenschaft abzulegen; sie nährten ihre Herzen an einem Schlachttag, so achtlos wie die Tiere, die zur Nahrung der Menschen erschlagen werden.
Es folgt eine weitere, noch gewaltigere Anklage: „Ihr habt verurteilt, ihr habt getötet den Gerechten; er widersteht euch nicht“ (V. 6). Das machte ihre Schuld weniger entschuldbar. Er tat keine Sünde, „noch wurde Trug in seinem Mund gefunden, der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich dem übergab, der gerecht richtet“ (1Pet 2,22.23).