Behandelter Abschnitt 1Tim 1,12-14
Wo ist denn die Weisheit des Menschen? Für immer zu Schanden gemacht in seinem Kreuz, dessen der Mensch sich schämte. Wo ist der Schuldschein, der in Satzungen geschrieben war, der gegen uns war, der uns zuwider war? Er ist für immer ausgelöscht und aus dem Weg geräumt durch Ihn, der es ans Kreuz genagelt hat, während die Auferstehung ihr herrliches Licht auf die Unverweslichkeit des Leibes wirft, die uns in Ihm, dem Auferstandenen, zugesagt ist. Kein Wunder, dass der Apostel den Gläubigen in Rom lange zuvor sagte, er schäme sich des Evangeliums nicht, das dazu bestimmt war, in der Person seiner Zeugen in dieser Stadt mehr als in jeder anderen, die es bekannte, eingekerkert und geschlagen und verstoßen zu werden, ganz zu schweigen von der abscheulichen Hochstapelei und Hurerei, die es dort verdrängte und noch immer verdrängt. Kein Wunder, dass der Apostel, der dort deshalb eingekerkert war und das baldige Vergießen seines Blutes als Trankopfer erwartete (2Tim 4,6), mit triumphierender Dankbarkeit hinzufügt: „zu dem [Evangelium] ich [ausdrücklich] bestellt worden bin als Herold [o. Prediger] und Apostel und Lehrer [der Nationen3].“
Kaum stellt der Apostel sich selbst und den ihm zugedachten Platz im Dienst vor, nennt er seine Leiden, die mindestens so wunderbar waren wie seine Mühen.
Aus diesem Grund leide ich dies auch; aber ich schäme mich nicht, denn ich weiß, wem ich geglaubt habe, und bin überzeugt, dass er mächtig ist, das ihm von mir anvertraute Gut auf jenen Tag zu bewahren. Halte fest das Bild gesunder Worte, die du von mir gehört hast, in Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind. Bewahre das schöne anvertraute Gut durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt (1,12–14).
Niemand war weiter von abergläubischen Strafen oder selbstgerechten Schmerzen entfernt; doch wo gab es je ein solches lebenslanges Ausharren auf die verschiedensten Arten für das Zeugnis Christi? „In Mühen überreichlicher, in Gefängnissen überreichlicher, in Schlägen übermäßig, in Todesgefahren oft. Von den Juden habe ich fünfmal empfangen vierzig Schläge weniger einen. Dreimal bin ich mit Ruten geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht habe ich in der Tiefe zugebracht; oft auf Reisen, in Gefahren durch Flüsse, in Gefahren durch Räuber, in Gefahren von meinem Volk in Gefahren von den Nationen, in Gefahren in der Stadt, in Gefahren in der Wüste, in Gefahren auf dem Meer, in Gefahren unter falschen Brüdern; in Mühe und Beschwerde, in Wachen oft, in Hunger und Durst, in Fasten oft, in Kälte und Blöße“ (2Kor 11,21-27). Und das ist nur der äußere Teil dessen, was er seine „Torheit“ nennt, nämlich von sich selbst statt von Christus zu reden, wie es ihm von den Verleumdern in Korinth auferlegt wurde. Aber was für ein Leben der Liebe zeigen solche Leiden, welche Hingabe an den, der ihn zum Herold und Apostel und Lehrer ernannt hatte!
Hat er sich denn „geschämt“? Eher rühmte er sich dessen, was menschlich gesehen eine Demütigung ist. Wenn es nötig ist, sich zu rühmen, sagt er: „so will ich mich dessen rühmen, was meine Schwachheit betrifft“ und „Daher will ich mich am allerliebsten viel mehr meiner Schwachheiten rühmen [nicht Fehler oder Sünden, gewiss], damit die Kraft des Christus über mir wohne. Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Schmähungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten für Christus; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“
Wie das, was bei den Menschen hoch angesehen ist, vor Gott ein Gräuel ist, so gibt es für den geistlichen Verstand nichts derartig Herrliches für einen Gläubigen hier unten wie Schmähungen, Verfolgungen und Leiden um Christi willen und um seines Zeugnisses willen. Das war die Sache, für die Paulus damals wie während seines ganzen Weges litt, denn der Herr sagte: „Denn ich werde ihm zeigen, wie viel er für meinen Namen leiden muss“ (Apg 9,16). Aber es war auch eine große Gnade, dass er, statt wie Jeremia zu klagen, in Mut, Freude und Triumph, sich nicht in Scham ergehen sollte.
War Paulus denn ein Mann von eiserner Konstitution, ein Herz aus Eichenholz, das alle Schläge und Wunden abwarf, als wäre es unempfindlich? „Ihr wisst aber“, sagte er zu einigen, die ihn gut gekannt haben sollten, „dass ich euch einst in der Schwachheit des Fleisches das Evangelium verkündigt habe; und die Versuchung für euch, die in meinem Fleisch war, habt ihr nicht verachtet noch verabscheut, sondern wie einen Engel Gottes nahmt ihr mich auf, wie Christus Jesus“ (Gal 4,13.14). Seine Lebensumstände waren so schwierig wie seine Gesundheit gebrechlich war; dennoch ging er jahrelang weiter, Tag und Nacht, ermahnte jeden unter Tränen, begehrte von niemandem Silber oder Gold oder Kleidung, sondern seine Hände dienten den Bedürfnissen anderer wie auch seinen eigenen. Wahrlich, in nichts schämte er sich; sondern mit aller Freimütigkeit der Gnade, wie immer, so auch jetzt, verherrlichte er Christus an seinem Leib, sei es durch Leben oder durch Tod.
Was hat ihn gestützt? „Denn ich weiß, wem ich geglaubt habe.“ Es ist der Glaube, doch es ist die Person, an die geglaubt wird, und ein wirkliches inneres Wissen über Ihn wird dadurch gebildet. Keine andere Erkenntnis hat einen so hohen Wert für die Ewigkeit; und doch gibt es darin Gemeinschaft mit Gott, jetzt, da der Heilige Geist sie durch das Wort mitteilt. Die Stimme Christi wird gehört und geglaubt und erkannt; denn es gibt, auch wenn die Kanäle viele sein mögen, nur diesen einen, und die Stimme irgendeines anderen ist nur die Stimme eines Fremden. Seine Worte sind Geist, und sie sind Leben; und dieses Leben hängt von Ihm ab, der ihre Quelle ist; der das Vertrauen bewirkt, je mehr Er bekannt ist, ohne die Abhängigkeit zu entkräften. In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut; und wie Er ist, so sind wir in dieser Welt: die Annahme ist vollständig und vollkommen, entsprechend der Herrlichkeit seiner Person und der Wirksamkeit seines Werkes.
Daher fügt der Apostel hinzu: „und ich bin überzeugt, dass er mächtig ist, das ihm von mir anvertraut Gut auf jenen Tag zu bewahren.“ Unter dem anvertrauten Gut ist alles zu verstehen, was ich als Gläubiger der sicheren Verwahrung Gottes anvertraue, nicht nur die Sicherheit, sondern auch die Errettung der Seele und des Leibes, des Wandels und der Arbeit, mit allen denkbaren Fragen, die sich in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft stellen. Da die Verantwortung eindeutig in Frage steht, wird wie üblich auf „jenen Tag“ verwiesen, der das Maß der Treue jedes Gläubigen verkünden wird, wenn jeder sein Lob von Gott haben wird. Das Kommen oder die Gegenwart des Herrn ist bekanntlich der Aspekt der reinen Gnade, wenn alle zur Gleichförmigkeit mit dem Leib des Herrn entrückt werden, um für immer bei ihm zu sein (Phil 3,21; 1Thes 4,17).
Dies veranlasst den Apostel, seinem Mitstreiter eine wichtige Ermahnung in Bezug auf seinen eigenen Dienst für Christus mit anderen einzuprägen: „Halte fest das Bild gesunder Worte, die du von mir gehört hast, in Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind“ (V. 13). „Halte fest“ geht weit über die Aussagekraft des ersten Wortes hinaus, da auch die Form „die“ unangemessen ist. Timotheus war gewohnt, die Dinge zu hören, die uns von Gott frei gegeben sind, in Worten, die nicht die Weisheit des Menschen lehrt, sondern die der Geist lehrt, oder, wie sie hier beschrieben werden, „gesunde Worte“. Aber es gab keine Formel, zu deren Einhaltung er berufen und verpflichtet war, sondern nur die in göttlich gelehrten Ausdrücken vermittelte Wahrheit, die er, nachdem er sie zuvor von Paulus gehört hatte, nun, da das Ende dieses mächtigen Zeugnisses nahe war, sorgfältig beherzigen sollte.
Denn der Mensch ist nicht fähig, die Wahrheit in neue Formen zu gießen, ohne sie zu verletzen und damit das Zeugnis Gottes zu beeinträchtigen, wenn nicht gar zu verderben. Es ist nicht genug, die Dinge des Geistes zu haben; die Worte, in denen sie vermittelt werden, müssen auch vom Geist sein, um Gottes Gedanken in Vollkommenheit mitzuteilen; und daher müssen wir das Wort Gottes haben, damit der Glaube ein Fundament hat. Jetzt, da die inspirierten Autoritäten nicht mehr existieren, ist die Schrift allein diese; und sie ist so verschieden vom Amt einerseits wie von der Versammlung andererseits.
Das Amt ist der regelmäßige Dienst Christi durch die Gabe, die Wahrheit mitzuteilen, sei es der Welt im Evangelium, sei es den Gläubigen in der Wahrheit im Allgemeinen. Aber selbst wenn kein Wort falsch wäre (was selten der Fall ist, sondern ganz im Gegenteil), ist es keine Inspiration und daher in keiner Weise ein Fundament des Glaubens.
Noch weniger kann die Versammlung mit Recht so gesehen werden. Sie ist dafür verantwortlich, das Wort Gottes zu empfangen und zu reflektieren. Sie ist der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit, der verantwortliche Bewahrer und gemeinsame Zeuge der Heiligen Schrift; so wie das alte Israel das Gesetz und die Propheten hatte, die lebendigen Aussprüche, die ihnen anvertraut waren. Aber die Schrift selbst bleibt das Fundament des Glaubens.
Und daher haben wir in diesem letzten Brief des Paulus die wiederholten Formen, die auf die Pflicht drängen, auf die vom Apostel gehörten gesunden Worte zu achten. Umrisse oder Muster solcher Worte sollte er haben, deren Autorität ihnen von Gott aufgeprägt war; denn Timotheus war keine solche Autorität, und noch weniger möglicherweise die Gläubigen, die aus ihnen Nutzen ziehen sollten. Doch der Seelenzustand des Timotheus bedeutete viel für den glücklichen Gebrauch durch andere; und deshalb hat „in Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind“ seine Bedeutung. Erinnerung, wie genau auch immer, würde nicht ausreichen. Glaube und Liebe, die ihre Kraft in Jesus Christus haben, würden sie umso eindrucksvoller machen.
Der folgende Vers scheint mir das zusammenzufassen, was der vorhergehende Vers ausführlich anmahnt: „Bewahre das schöne anvertraute Gut durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt“ (V. 14), wobei letzterer eine Art gegensätzlichen Bezug zu Vers 12 hat. Dort war es der Apostel, der mit heiliger Genugtuung darauf ruhte, dass Gott bewahrt, was er Ihm anvertraut hatte. Hier ist die andere Seite, wie Timotheus dazu aufgerufen wird, das zu bewahren, was ihm anvertraut wurde, wozu Gott durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt, behilflich ist. Denn der gegebene Geist bleibt für immer bei uns. Er mag über unsere Sünden und Torheiten betrübt sein; aber er verlässt den Heiligen seit der Erlösung nicht. Er ist da, wenn das Selbstgericht das Hindernis korrigiert, um in seiner eigenen gnädigen Kraft zur Ehre Christi zu wirken, der ihn genau zu diesem Zweck herabgesandt hat.
Es wird auffallen, dass es nicht heißt, dass der Geist „in dir“ wohnt, sondern „in uns“. So ist es allgemein in der Schrift, und es ist unvergleichlich besser, als wenn es von Timotheus allein gesagt würde. Ihm war durch apostolisches Vorrecht eine besondere Gabe verliehen worden; aber er oder irgendein anderer Gläubiger hatte Anteil an dem unaussprechlichen Segen, für dessen Sendung es zweckmäßig war, dass sogar Jesus wegging (Joh 16,7). Dies ist die gemeinsame und charakteristische Kraft des Christen; und deshalb war es passend, dass Timotheus, während er an den erinnert wurde, der so fähig ist, unserer Schwachheit zu helfen, es klar vor seiner Seele haben sollte, dass die Gläubigen im Allgemeinen den göttlichen Geist nicht weniger wahrhaftig in sich wohnen haben. Es war sowohl für ihn als auch für sie gut, den Trost und den Ansporn einer so gesegneten und doch ernsten Tatsache unauslöschlich vor Augen zu haben.
Wir können nicht genug betonen, dass die wertvollen Vorrechte, mit denen Gottes Gnade in Christus die Gläubigen ausgestattet hat, feste Tatsachen sind und nicht bloße Ideen oder flüchtige Gefühle. Sie sind in der Tat so beschaffen, dass sie den Verstand trainieren und das Gemüt voll ausfüllen, und unglücklich ist der Zustand desjenigen, der, da er etwas besitzt, was das menschliche Denken oder die menschliche Zuneigung so weit übersteigt, sie weniger zu schätzen scheint als die vergänglichen Dinge des Tages oder die belanglosen Gegenstände, auf die der Mensch seine Sorge verwendet. Aber das Leben Christi, sein Tod und seine Auferstehung, die Erlösung durch sein Blut, die Vereinigung mit Ihm in der Höhe, seine Fürsprache zur Rechten Gottes, sind Tatsachen, auf denen die Seele ruhen kann, nicht weniger als auf seiner Gottheit und seiner Menschheit in einer Person. Genauso verhält es sich mit der Gegenwart des Heiligen Geistes, der vom Himmel herabgesandt wurde, und seinem vielfältigen Wirken in der Versammlung und im Einzelnen. Der Gläubige steht zu ihnen allen in einer göttlichen, gegenwärtigen Beziehung, die so sicher und unendlich viel wichtiger ist als die Beziehungen der natürlichen Verwandtschaft oder des Landes, die niemand, der bei Sinnen ist, leugnet. Welch eine Zurechtweisung für den gedankenlosen Gläubigen! Und welch ein fester Zuspruch für das zitternde Herz! Wir brauchen nur darüber nachzudenken, was die Gnade uns in Christus geschenkt hat, um vor Dankbarkeit und Lob überzulaufen.
3 Einige wenige hohe und verschiedenartige Autoritäten (ﬡ A 17) lassen „der Nationen“ weg, was mir nach dem Charakter des Briefes wohl richtig erscheint; und zwar um so mehr, als die Abschreiber für einen solchen Zug zutiefst unempfänglich waren, aber geneigt, den zweiten Brief dem ersten anzugleichen, wo „der Heiden“ seinen passenden und sicheren Platz hat.↩︎