Behandelter Abschnitt Phil 1,21-26
Wir haben die Erwartung und Hoffnung des Apostels gesehen, dass er in nichts zuschanden werden würde, sondern in aller Freimütigkeit, wie allezeit, nun auch Christus an seinem Leib verherrlicht werden würde, sei es durch Leben oder durch Tod. Sein Auge war also auf Christus gerichtet, nicht nur für den Anfang und das Ende, sondern auf dem ganzen Weg.
Im nächsten Vers fährt er fort, die Zuversicht seines Herzens zu rechtfertigen:
Denn das Leben ist für mich Christus, und das Sterben Gewinn (1,21).
Geistlich gesinnt zu sein, sagt uns der Apostel an anderer Stelle, ist Leben und Frieden (Röm 8,6). Hier, wenn er von seiner eigenen täglichen Praxis spricht, zeigt er, dass er nur ein Ziel, einen Beweggrund, einen Gegenstand und eine Aufgabe hatte – Christus. Und dies sagte er nicht zu Beginn seiner Laufbahn, im überwältigenden Gefühl der Gnade des Heilands zu ihm, einem stolzen und selbstgerechten Verfolger, sondern nach vielen Jahren unvergleichlicher Mühen, Gefahren, Bedrängnis von außen und Sorgen innerhalb der Versammlung. „Denn das Leben ist für mich Christus.“ Kein Zweifel, der Grundsatz galt von Anfang an in seinem bewegten Leben als Christ. Doch ebenso wenig bezweifle ich, dass er gerade zu der Zeit, als er schrieb, als Gefangener in der Kaiserstadt, nachdrücklich und mehr denn je bestätigt wurde.
Es ist bemerkenswert, zu welchen Debatten und Schwierigkeiten der Vers Anlass gegeben hat, obwohl die Sprache klar, die Satzstellung eindeutig und der Sinn ebenso wichtig wie klar ist. „Die Ausleger [sagt ein berühmter Mann] haben diesen Abschnitt meiner Meinung nach bisher falsch wiedergegeben und ausgelegt; denn sie machen den Unterschied, dass Christus für Paulus das Leben war und der Tod Gewinn.“ Das ist gewiss nicht der Sinn des Heiligen Geistes, der den Apostel sagen ließ, dass sein Leben (d. h. hier auf der Erde) Christus ist und das Sterben Gewinn. Dass Christus sein Leben war, ist höchst wahr und ist die Lehre des Galater- und Kolosserbriefes in Abschnitten voller Schönheit und Interesse (siehe Gal 2; Kol 3).
Aber hier ist es keine Frage der Lehre, des Zustandes oder des Lebens in Christus. Die ganze Angelegenheit ist der Charakter seines Lebens von Tag zu Tag; und das, so erklärt er, ist Christus, so wie das Ende zu leben oder zu sterben, wie er sagt, Gewinn sein würde. Und was ersetzt dieser Schreiber? „Ich dagegen mache Christus in beiden Sätzen zum Gegenstand der Rede, so dass Er ihm sowohl im Leben als auch im Tod als Gewinn erklärt wird; denn es ist bei den Griechen üblich, das Wort pros verstehen zu lassen. Abgesehen davon, dass diese Bedeutung weniger gezwungen ist, entspricht sie auch besser der vorangehenden Aussage und enthält eine vollständigere Lehre. Er erklärt, dass es ihm gleichgültig ist, ob er lebt oder stirbt, denn da er Christus hat, hält er beides für Gewinn. So Calvin, gefolgt von Beza, der hinzufügt, dass Christus das Subjekt beider Glieder ist und Gewinn das Prädikat, und dass die Ellipse von kata nicht nur tolerierbar, sondern ein Attizismus ist!“
Der Leser kann sich sicher sein, dass selten eine bösartigere und gewalttätigere Wiedergabe angeboten worden ist. Die Wahrheit ist, dass leben das Subjekt und Christus das Prädikat des ersten Satzes ist; sterben ist das Subjekt und gewinnen das Prädikat des zweiten, wie in der Authorised Version. Durch diese merkwürdige Verrenkung der französischen Reformatoren geht die eigentliche Kraft verloren, und der wahre Zusammenhang wird unterbrochen.
Denn das Leben ist für mich Christus, und das Sterben Gewinn. Wenn aber das Leben im Fleisch mein Los ist – das ist für mich der Mühe wert, und was ich erwählen soll, weiß ich nicht. Ich werde aber von beidem bedrängt, indem ich Lust habe, abzuscheiden und bei Christus zu sein, denn es ist weit besser; das Bleiben im Fleisch aber ist nötiger um euretwillen. Und in dieser Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen bleiben werde zu eurer Förderung und Freude im Glauben, damit euer Rühmen in Christus Jesus meinethalben überströme durch meine Wiederkunft zu euch (1,21–26).
So vergleicht der Apostel sein Bleiben im Leben mit dem Sterben; das erstere war ihm wert, und was er wählen sollte, konnte er nicht sagen. So entstand aus den beiden Dingen eine Ratlosigkeit; denn er hatte gewiss den Wunsch, alles, was ihn hier festhielt, abzulegen und bei Christus zu sein; während er andererseits empfand, dass sein Bleiben hier um der Gläubigen willen notwendiger wäre. Kaum hat er dies vor Augen, ist alles klar. Es gibt keinen Druck mehr von zwei Seiten. Er ist zuversichtlich; er weiß, dass er bleiben und bei ihnen allen bleiben wird für ihr Wachstum und ihre Freude im Glauben. Wie wohltuend und uneigennützig ist die Liebe, die der Heilige Geist dem Herzen schenkt, das auf Christus ausgerichtet ist! Ihr geistliches Interesse gibt den Ausschlag, unabhängig von seinem persönlichen Wunsch.
Ich bin sicher, dass die meisten von uns viel verloren haben, weil sie nicht erkannt haben, dass auch für uns dieser Weg offen ist und dass es der Wille unseres Gottes für uns ist. Wir sind uns zu wenig der schwächenden, verdunkelnden, abstumpfenden Wirkung auf unsere geistliche Erfahrung bewusst, wenn wir irgendeine Sache oder einen Wunsch außer Christus zulassen. Wie oft scheint es zum Beispiel selbstverständlich zu sein, dass eine kurze Zeit nach der Bekehrung nicht nur die richtige Zeit für die erste Liebe ist, sondern die einzige Zeit, in der sie zu erwarten ist! In welch hellem Gegensatz zu all solchen Gedanken steht der Bericht, den wir von der Erfahrung des gesegneten Apostels gelesen haben! War er nur für die Philipper bestimmt? Ist es nicht auch für uns geschrieben? Gott deutet in seinem Wort nie an, dass der Gläubige nach der Bekehrung erlahmen muss; dass Liebe, Eifer und Einfalt des Glaubens immer ärmer und schwächer werden müssen. Es gibt zweifellos Gefahren; aber die frühen Tage haben ihre eigenen, ebenso wie die späteren, und vieles scheitert zunächst durch Mangel an Geistlichkeit. Wo man sich mit vollem Herzen an den Herrn klammert, schenkt Er im Gegenteil eine tiefe Vertrautheit mit Ihm selbst.
Es heißt nicht: Das Leben ist für mich das Evangelium oder sogar die Versammlung, sondern: „Das Leben ist für mich Christus.“ Ihn als das einzige, alles beherrschende Motiv des Lebens zu haben, Tag für Tag, ist sowohl die Stärke als auch die Prüfung von allem, was von Gott ist; es gibt, wie nichts anderes, allem seinen göttlichen Platz und seine Proportion. „Denn das Leben ist für mich Christus“ scheint mir viel mehr zu sagen als: Sterben ist Gewinn. Denn das ist die Erfahrung so mancher Gläubigen, die das kaum sagen könnten. Und doch gibt es keinen Satz, der charakteristischer ist; er ist das eigentliche Kernstück unseres Briefes. Es geht um die christliche Erfahrung. Im Philipperbrief ist es vor allen anderen die Entfaltung des großen Problems, wie wir Christus leben sollen. Für Paulus war es das Einzige, was er tat. Und so hat er den Tod, der natürlich mit dem Verlust von diesem und jenem und allen Dingen droht, im Gegenteil als Gewinn erkannt. Das ist die Wahrheit, und er genoss sie.
Jahrelang hatte der Apostel als Gefangener den Tod als eine nicht unwahrscheinliche Möglichkeit vor Augen. Doch gewiss ist sein Blick nur umso heller, seine Kraft nicht geschwunden, sondern gewachsen, seine geübte Bekanntschaft mit Gott, seinem Willen und seinen Wegen, größer denn je. Anstatt zu denken, es sei eine Frage, die der Kaiser zu entscheiden habe, sieht, empfindet und spricht er, als ob Gott alles in seine eigenen Hände gelegt hätte; so wie er in einem anderen Kapitel sagt: „Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt“ (Phil 4,13). Hier sitzt er im Gericht über den Punkt, ob er leben oder sterben soll. Er lässt den Kaiser ganz außer Acht und sieht es so, als ob Gott seinen Diener fragen würde, ob er leben oder sterben möchte. Seine Antwort ist, dass es für ihn selbst viel besser wäre, zu sterben, dass es aber um der Versammlung willen zweckmäßig wäre, dass er etwas länger lebt. So ist die Entscheidung der Frage, ob es Christus entspricht, gegen das eigene starke Verlangen, denn sein Auge war einfältig, und er opferte sich selbst für das Wohl der Versammlung auf. Dementsprechend kommt er mit wunderbarem Glauben und in Selbstlosigkeit zu dem Schluss, dass er leben wird. „Ich werde aber von beidem bedrängt, indem ich Lust habe, abzuscheiden und bei Christus zu sein, denn es ist weit besser; das Bleiben im Fleisch aber ist nötiger um euretwillen“ (1,23.24).