Einführung
Es muss auch dem oberflächlichsten Leser des Briefes klar sein, dass wir uns hier auf sehr hohem und heiligem Boden befinden. Niemand möge annehmen, dass damit andere Teile der inspirierten Schriften in Frage gestellt werden sollen. Aber wer kann leugnen, dass es Gott gefallen hat, bei der Offenbarung seiner Gedanken verschiedene Instrumente und Maßnahmen einzusetzen? Er hätte, wenn Er gewollt hätte, alles durch eine einzelne Person niederschreiben lassen können. Er hätte sich durch alles entsprechend der vollen Größe seiner eigenen Herrlichkeit offenbaren können und nichts anderes. Aber wir können ganz sicher sein, dass die Wege Gottes in den Formen, die seine Offenbarung annimmt, ebenso bewundernswert sind, wie in allen anderen Dingen, die Er zu seinem Lob gemacht hat. Diese verschiedenen Arten der Entfaltung seines Wesens und Charakters, seiner Ratschlüsse und Wege, lassen seine Herrlichkeit in einem unendlich gesegneteren Licht erscheinen, als wenn es einen einzigen, gleichbleibenden Glanz gegeben hätte. Und dieselbe Weisheit, die am besten zu seiner Majestät und zu seinem Lob beiträgt, ist genau diejenige, die für die Bedürfnisse seiner Kinder geeignet und zum Segen wirksam ist. Muss ich sagen, dass eine Offenbarung, solange sie von Gott kommt, für sein Volk ist? Zweifellos verherrlicht sie Ihn; aber Gott hat, wenn Er spricht, ein Ziel vor Augen und sorgt gnädig für die, an die Er sich wendet. Die Offenbarungen Gottes setzen also, obwohl sie von Gott kommen und seiner würdig sind, notwendigerweise den Zustand des Menschen voraus und sind ihm angepasst. Das mindert aber nicht im Geringsten die göttliche Herrlichkeit, die sich in den einzelnen Teilen des Wortes Gottes offenbart, sondern erhöht sie im Gegenteil unendlich und beweist, dass sie von Gott ist, durch nichts anderes als durch ihre wunderbare Eignung für arme Sünder, die durch seine reiche Barmherzigkeit aus ihrem niedrigen Stand herausgeführt und durch den Glauben an Christus Jesus in seine Familie aufgenommen wurden.
Nun, von allen Briefen des Paulus ist mir keiner bekannt, der sich zu solcher Höhe erhebt wie dieser an die Epheser; und man kann nicht daran zweifeln, dass es eine Übereinstimmung zwischen dem Zustand dieser Gläubigen und der Art und dem Maß der Mitteilungen des Geistes an sie gab. Wir finden das auch anderswo. In der Anrede der Gläubigen in Rom wurden sie nicht als Versammlung bezeichnet; sie befanden sich in der Tat in einem Zustand von Kindern. Es gab dort gesegnete Heilige Gottes, aber die Versammlung war nicht von einem Apostel gegründet worden. Jahre vergingen, bevor jemals ein Apostel nach Rom kam. Gott sah wohl, dass gerade diese Stadt Rom enorme Ansprüche geistlichen Charakters für sich selbst erheben würde. Deshalb sorgte er dafür, dass unbedeutendere Orte wie Korinth und so weiter einen Apostel haben sollten, der dort Versammlungen gründete und für eine beträchtliche Zeit wirkte; während das große Zentrum der Herrlichkeit der Welt erst von einem Apostel besucht wurde, als sich dort viele versammelt hatten, und zwar durch Personen, die aus dem einen oder anderen Grund dorthin gingen.
Wenn wir die Umstände der Gläubigen in Rom betrachten, können wir verstehen, dass es angemessen war, einen Brief an sie zu richten, der stark einem umfassenden Schema der christlichen Lehre aus dem ABC der Wahrheit ähnelt. Und daher wird in diesem Brief nach der Einleitung zuerst einmal das völlige Verderben des Menschen bewiesen, und zwar in jeder Hinsicht – er wird geprüft und auf der Waage Gottes gewogen, von der Flut an. Nachdem die Menschen eine äußere Gotteserkenntnis besessen hatten, als sie Gott kannten, verherrlichten sie ihn nicht als Gott. In der Tat wird uns der Ursprung des Götzendienstes gezeigt; und auch die Zeit nach der Flut, bevor der Götzendienst begann. Die Verse aus Kapitel 1, auf die ich mich bezogen habe, beziehen sich auf die Zeit, als es einfach Menschen gab, die die Erkenntnis Gottes besaßen. Aber der Mensch wich davon ab und verderbte sich selbst; und wir haben das schreckliche Bild der menschlichen Verderbtheit, das in den ersten Kapiteln gezeichnet wird. Als Nächstes haben wir den philosophischen Menschen; und dann den Menschen unter dem Gesetz – den Menschen in jeder Hinsicht –, bevor das Thema der Erlösung behandelt wird oder irgendetwas über den Weg zur Rechtfertigung gesagt wird. Der Grund ist Folgender: Da der Apostel nie in Rom gewesen war, waren die Gläubigen dort vergleichsweise unwissend und mussten über die Natur und die fatalen Folgen des Sündenfalls unterrichtet werden. Sie mussten die Geschichte des Menschen kennenlernen, wie Gott sie sieht und wie Er denkt. Deshalb sehen wir ihn als in jeder Hinsicht verdorben an, und es gibt keine Hilfe für ihn in der Schöpfung, dem Gesetz oder sonst wo. Daher ist das Ergebnis, dass alle vom Weg abgewichen sind: „Da ist kein Gerechter, auch nicht einer“ (Röm 3,10). Mit einem Wort, jeder Mund ist verstopft, und die ganze Welt wird schuldig vor Gott. Dann, und erst dann, haben wir die Vorkehrungen, die Gott in seiner gerechten Barmherzigkeit in den Kapiteln 3 und 4 für den Menschen getroffen hat; und von Kapitel 5 an werden Konsequenzen aufgezeigt und Schwierigkeiten behandelt, die mit dem triumphalen Schluss von Kapitel 7 enden.
Was für eine bedeutende Zusammenfassung der christlichen Lehre, die mit dem tatsächlichen Zustand des Menschen beginnt, ob Jude oder Heide, und hinführt zu dem festen Stand, den Gott demjenigen in dem gestorbenen und auferstandenen Christus gegeben hat, der glaubt! Doch in alledem haben wir, so wichtig es auch ist, nur das Individuum. Der Mensch mag verlorengehen oder gerettet werden; aber wir haben nichts über die Versammlung. Die Dinge beziehen sich auf die Glieder der Versammlung, nicht aber auf die Versammlung Gottes als solche. Im Römerbrief ist das Thema das Verderben und die Erlösung des Menschen, mit den Auswirkungen der Erlösung und der Ordnung der Haushaltungen und den praktischen Pflichten, die sich aus allem ergeben. Aber wie völlig anders ist das im Epheserbrief! Hier verschwindet der Mensch vergleichsweise, und Gott wird von sich aus handelnd betrachtet.
Daher gibt es keine Vorrede und keinen Beweis, was der Zustand des Menschen ist. Das war nicht nötig und ist auch nicht der Ausgangspunkt der Lehre dort. Im Römerbrief ist es so, und nichts kann einfacher sein. Aber im Epheserbrief spricht der Apostel als Allererstes von Gott im Himmel, statt darüber, dass wir aus der Grube des Verderbens, in der der Mensch begraben liegt, auferweckt werden. Es ist Gott, der Segen über den Menschen ausschüttet, und nicht der Mensch, der zu Gott emporgehoben wird. Es ist Gott, der sich in den Wegen seiner Gnade und den Gedanken seines Herzens zeigt, noch bevor es überhaupt eine Welt gab, völlig unabhängig von allen Fragen der Juden oder der Heiden. Es ist Gott, der einen Plan der Herrlichkeit und des Segens zu seinem eigenen Lob entwirft; Gott, der sich an der Entfaltung seiner Güte erfreut, und das zum Zweck des Segens und des allerhöchsten, völligen Charakters des Segens. Daher werden wir feststellen, dass es nicht einfach Gott als Gott ist, der dem Menschen gegenüber handelt, sondern Er hat Christus vor sich, und daher gibt es keine Begrenzung für den Segen. Er möchte einen Kanal der Gnade zu uns haben, bis zur ganzen Fülle seines eigenen Herzens. Nun gibt es keinen Gegenstand, der das Wohlgefallen Gottes hervorrufen und aufrechterhalten könnte, keinen, der an sich ein passender Gegenstand sein könnte, um ihn mit Wonne zu betrachten, außer einem, nämlich Christus. Was die Engel betrifft, so wirft Er ihnen Torheit vor, und doch waren sie heilig. Wenn Er auf das sieht, was unter den Engeln ist, was gibt es dann anderes als eine in Sünde verlorene Welt? So gibt es nur den einen, der fähig ist, das Herz und die Zuneigung Gottes zu befriedigen – Christus selbst.
Kapitel 1
Nachdem wir also diese große Wahrheit in Händen haben – Gott segnet, und Christus ist der Gegenstand vor Gott, durch den Gott segnen wird, nach allem, was in seinem Herzen ist – finden wir auch, dass Er in zweifacher Weise als Segensspender beschrieben wird. „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus“ (V. 3). Diese beiden Namen sind tatsächlich der Schlüssel zu diesem Brief. Und es muss mir erlaubt sein, die Wichtigkeit von Worten in der Schrift abzuwägen und stark zu betonen. Wenn wir es mit Menschen zu tun haben, dürfen wir sie nicht wegen eines Wortes zu einem Übeltäter machen. Aber Gott braucht keine Entschuldigungen für sein Wort. Wie auch immer wir die Versehen anderer werten mögen, bei der Schrift gibt es sie einfach nie. Wenn wir uns in seine Nähe begeben und Ihm zuhören, ist die einzig richtige Haltung, sich zu verneigen und anzubeten.
Und deshalb beginnt der Apostel diesen Brief, der ein so völliger Ausdruck seiner Liebe ist, mit den Worten: „Gepriesen sei der Gott und Vater …“ Er konnte nicht an die Epheser schreiben, ohne in Lob und Anbetung Gottes auszubrechen. Anderswo findet man, wie er Gott dankt, aber wo er das tut, wie in 2. Korinther 2,14, waren es besondere Umstände, die ihn dazu veranlassten. Doch nicht so hier. In Korinth gab es ein gesegnetes Eingreifen der Gnade Gottes, das dort die stolzen Herzen der eigensinnigen Jünger zerbrach und sie beschämte. Aber bei den Ephesern war es unabhängig von vorübergehenden Umständen. Er sah, dass sie in einem solchen Zustand, ja, dass sie fähig waren, mit Gott voranzugehen und in seine Gedanken und Ratschlüsse einzugehen. „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“ ist nicht begründet in einer besonderen Gnade oder einem besonderen Trost, sondern es fließt aus dem hervor, was Er beständig für uns ist. Genau aus diesem Grund können viele Gläubige das nicht nachvollziehen. Einige neigen dazu, besonders lebendig zu sein und sich von auffälligen Zeichen, von Tag zu Tag, und von Zeit zu Zeit von außergewöhnlichen Eingriffen der Vorsehung Gottes beeindrucken zu lassen. Vielleicht befindest du dich in einer schweren Prüfung, und Gott bringt dir auch daraus einen neuen Segen. Aber hier waren die Epheser so einfältig und willig, mit Gott voranzugehen, dass der Apostel, anstatt bei ihrem Zustand stehenzubleiben, nur in Lob und Dankbarkeit sprechen konnte. Es ist sehr gesegnet, wenn es solch eine glückliche Gemeinschaft im Umgang miteinander gibt.
Es ist wiederum wahr, dass er sich als Apostel vorstellt, bevor er auf das eingeht, was ich darzulegen versuchen werde. Hier sagt er nicht „Knecht“; im Brief an die Römer tut er das: „Paulus, Knecht Jesu Christi.“ Er war in der Tat der Knecht Christi. Warum sollte Paulus an sie schreiben? Er war sein Knecht. Gehörten sie nicht Jesus an? Es gab in jenen Tagen keinen solchen Gedanken wie „Unabhängigkeit“, der gutgeheißen wurde – keine solche Praxis wie kleine Kreise oder Versammlungen, die diesem oder jener Person gehörten; sondern die Versammlung war überall das, was die Knechte des Herrn liebten. Ein wahrer Diener ist derjenige, der zu erkennen vermag, dass er ein Knecht Jesu Christi ist; und der wird den Gläubigen am besten dienen, der am meisten erkennt, was es heißt, dem Herrn zu dienen. „Paulus, Knecht Jesu Christi, berufener Apostel.“ Er war ein Apostel durch die Berufung Gottes. Zu dieser Zeit gab es nicht so etwas wie eine Versammlung, die einen Diener berief. Paulus war ein von Gott berufener Apostel, und sie waren von Gott berufene Heilige, und sie wussten es. Es war sehr lieblich für sie, zu denken, dass sie so berufen worden waren. Sie waren in ihrem Maß auf dem Weg Christi unterwegs, und der Apostel war sein Diener und auch ein Apostel. Sein Ziel war es, sein Apostelamt ins rechte Licht zu rücken. Aber die Korinther standen in Gefahr, an ihm zu zweifeln und zu denken, dass sie nach Jerusalem schauen sollten. Er bekennt sich durchaus zu der allgemeinen Stellung eines Bruders; aber wenn Personen wie die Korinther ihren Kopf zu hoch erhoben, sagt er einfach „Apostel“, ohne „Knecht“ hinzuzufügen. Als ein Streit über den Punkt entstand, beweist er die Realität seiner Berufung. In der Anrede der Galater habe ich an anderer Stelle gezeigt, welche besondere Kraft darin liegt, wie er sich vorstellt: „Paulus, Apostel, nicht von Menschen, noch durch einen Menschen“ (Gal 1,1) und so weiter. Hier gibt es sofort eine Kontroverse, aber von göttlichem Temperament und Kraft. Es gab falsche Prinzipien in Galatien, und deshalb benutzt er eine energische, durchdringende Sprache, wenn er den Gläubigen schreibt. Sie nahmen jüdische Vorstellungen über die irdische Nachfolge an. Der Apostel bezieht sich daher auf die allerhöchste Instanz und zeigt, dass er zwar die Zwölf an ihrem Platz voll anerkennt, aber in dem, was die Wahrheit des Evangeliums angeht, nicht durch Unterwerfung nachgibt, nein, auch nicht für eine Stunde. So trägt der ganze Brief den Stempel der uneingeschränkten Bestätigung seiner Berufung der Gnade und ihres himmlischen Charakters, gegründet auf den Tod und die Auferstehung Christi.
Im Epheserbrief geht es ihm nicht um eine Kontroverse, auch nicht darum, die christlichen Fundamente der Wahrheit zu legen, wie im Fall der Gläubigen in Rom. Aber er legt seine apostolische Funktion dar:
Paulus, Apostel Christi Jesu durch Gottes Willen, den Heiligen und Treuen in Christus Jesus, die in Ephesus sind (1,1).
Er zeigt voll und ganz, woraus sie entsprang: aus demselben Willen Gottes, aus dem ihr eigener Segen floss. Er zeigt zuerst den individuellen Segen auf und dann den gemeinschaftlichen. Es ist ein ziemlicher Irrtum, anzunehmen, dass der erstere Segen eine tiefere Sache ist als der letztere. Im Gegenteil, unsere höchsten Segnungen sind mit dem verbunden, was wir als Einzelne besitzen. Wenn wir den Segen der Gemeinschaft völlig anerkennen, ist das, was wir als Einzelne haben, noch höher; und es ist der Weg des Geistes Gottes, damit zu beginnen, bevor Er zu dem kommt, was wir gemeinschaftlich haben. Daher denke ich, dass er hier die Gläubigen, die in Ephesus waren, und die Gläubigen in Christus Jesus als solche anspricht. Sie waren die Versammlung dort, nicht nur formell versammelt, sondern sie hatten auch das Verständnis darüber. Sie hatten den Apostel Paulus dort gehabt, der Gottes Werkzeug in diesem Werk gewesen war. Es gab zwölf Männer, die glaubten, bevor Paulus dorthin ging; aber sie hatten nie den Heiligen Geist auf die Weise empfangen, wie es am Pfingsttag geschah, bis Paulus sie besuchte. Es ist die persönliche Gegenwart des Heiligen Geistes, gegründet auf unseren Glauben an den gestorbenen und auferstandenen Christus, die die Versammlung charakterisiert. Aber der Heilige Geist macht uns nicht nur zu Gliedern des Leibes Christi, der Versammlung, sondern gibt uns auch das Bewusstsein unserer Beziehung als Söhne zu seinem Gott und Vater. Er spricht „die Versammlung Gottes in Korinth“ als solche an, wenn er über Punkte spricht, die Ordnung und Zucht betreffen. Hier wird er die Versammlung in einem weit höheren Blickwinkel betrachten; dennoch beginnt er mit dem, was individuell ist: