Einleitung
Der Brief, auf den wir sogleich eingehen werden, gibt uns mehr als jeder andere eine innere Sicht der Kirche oder Versammlung Gottes. Er legt nicht wie der Römerbrief das Fundament der göttlichen Gerechtigkeit, doch er ist in seinen Themenbereichen keineswegs eingeschränkt. Er befasst sich mit dem praktischen Verhalten des Christen ebenso wie mit dem öffentlichen Wandel der Versammlung. Er hält die Autorität des Dienstes des Paulus als Apostel aufrecht. Er prangert Parteigeist an. Er entlarvt weltliche Weisheit. Er besteht auf der Kraft des Geistes und auf der göttlichen Ordnung sowohl in der Einsetzung des Abendmahls durch den Herrn als auch im Gebrauch der Gaben oder geistlichen Offenbarungen. Er befiehlt heilige Disziplin. Er tadelt die Streitsucht – vor allem vor der Welt. Er besteht auf persönlicher Reinheit und berät die Gläubigen in Bezug auf soziale und familiäre Schwierigkeiten, auf ihre Beziehungen zu den Heiden, auf Anstand, sowohl privat oder öffentlich, bei Männern oder Frauen.
Schließlich begegnet er ihren Spekulationen über den zukünftigen Zustand und zeigt, wie ein Irrtum darüber die Festigkeit des Glaubens an Christus selbst, die Heiligkeit des Lebenswandels in der Zwischenzeit und die Helligkeit und Stärke der Hoffnung des Christen gefährdet. Auch hält er das Licht Gottes nicht von einer scheinbar so unbedeutenden Angelegenheit wie der Art und Weise der Sammlung für die armen Gläubigen zurück, während er auch die gegenseitigen Beziehungen derer regelt, die an dem Ort arbeiteten, und derer, die sie besuchen könnten.
Aus dieser kleinen Skizze sieht man, wie vielfältig und bedeutsam die Themen sind, die im ersten Brief an die Korinther behandelt werden. Und eine Untersuchung der Einzelheiten wird die heilige Weisheit, den brennenden Eifer, die Zartheit der Zuneigung, die bewundernswerte Beweglichkeit offenbaren, mit der der Apostel durch den inspirierenden Geist befähigt wurde, mit Herz, Verstand, Seele und Kraft, aber immer im Namen des Herrn, sich mit ihren kritischsten Umständen zu beschäftigen. Denn er schreibt aus Ephesus, nicht weit vor dem Ende seines dreijährigen Aufenthalts in dieser Stadt, als es für jeden anderen als Paulus hätte scheinen können, dass seine Arbeit für anderthalb Jahre in Korinth fatal gefährdet war. Aber das war nicht so: Der Herr, der ihn schon bald nach seiner Ankunft in Korinth ermuntert hatte, stärkte seinen Glauben, der jetzt in Ephesus so schwer geprüft wurde: „Ich habe ein großes Volk in dieser Stadt“ (Apg 18,10) waren Worte, die ihn damals anspornten, jetzt seine Hoffnung auf Gott trotz vieler Ängste und inmitten der tiefsten Herzensübungen aufrechtzuerhalten. Von alledem und mehr trägt der Brief den Eindruck, und immer wieder drückt er das aus.
Kapitel 1
Paulus, berufener Apostel Christi Jesu durch Gottes Willen, und Sosthenes, der Bruder (1,1).
Den Brüdern in Rom gegenüber begann Paulus den Brief, indem er sich als „ein Knecht Jesu Christi“ vorstellte. Dies unterlässt er gegenüber den Korinthern, zu denen er von sich gleich als „berufener Apostel Christi Jesu“ spricht. Der Unterschied liegt in den vor ihm liegenden Tatsachen begründet. In Rom, wo er in der Tat persönlich ein Fremder war, hatte es keine Untergrabung seines Dienstes gegeben. In Korinth war es den Gläubigen bekannt, wie wahrhaftig er ein Knecht Jesu Christi war. Hatten nicht seine eigenen Hände davon Zeugnis abgelegt, da er sich Tag und Nacht geistlich um die Gläubigen kümmerte, mit der Herrlichkeit des Herrn vor Augen, sogar in jener äußeren Arbeit, durch die er es vermieden hatte, ihnen zur Last zu fallen? Beiden schreibt er förmlich als „Apostel“, und zwar nicht durch Geburt, nicht durch Erwerb, nicht durch Erwählung von Menschen, sondern als „berufen“, das heißt durch die Berufung Gottes. Beide erinnert er daran, dass sie selbst Heilige waren, und auch dies durch Berufung. Es war die Gnade, die sie als Heilige erwählte, die Gnade, die ihn nicht nur als Heiligen, sondern als Apostel erwählte.
Das ist das Prinzip des christlichen Dienstes, wie auch des Heils der Gläubigen oder des Christentums selbst. Es ist „durch Gottes Willen“, wie er hinzufügt: ein „berufener Apostel Christi Jesu durch Gottes Willen“, nicht durch seine eigene Fähigkeit oder sein Verdienst, noch durch die Wahl anderer Menschen. Gottes souveräne Güte ist in jeder Hinsicht die Quelle. Was kann mehr gesegnet sein?
Wir tun gut daran, darüber nachzudenken und alles abzulehnen, was damit unvereinbar ist. Es ist also Gott, es ist die Gnade, die, wie sie Gläubige beruft, so auch zu seinen Dienst beruft. Wie anders als das kirchliche Denken und der kirchliche Stil der alten Zeit! Paulus ist nicht das, was er in der Versammlung war, „durch göttliche Vorsehung“ oder „durch göttliche Zustimmung“, denn das könnte dort sein, wo die Person seinem Sinn oder Willen fremd war, und Gott nur zu seinem eigenen geheimen Zweck herrschte. Es wird nicht geleugnet, dass solche Fälle, wie einst bei Bileam, auch unter dem Christentum vorkommen können; aber wie schrecklich für all jene, die sich so unaufgefordert anmaßen, im Namen des Herrn zu reden! Denn viele werden an jenem Tag zu dem Richter sagen: „Herr, Herr, haben wir nicht durch deinen Namen geweissagt und durch deinen Namen Dämonen ausgetrieben und durch deinen Namen viele Wunderwerke getan? Und dann werde ich ihnen erklären: Ich habe euch niemals gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter!“ (Mt 7,22.23).
Unbestritten ist es Gott, nicht der Mensch, der in der Versammlung einsetzt, wie uns in 1. Korinther 12,28 ausdrücklich gesagt wird, und das gilt für „Lehrer“ ebenso eindeutig wie für „Apostel“. Sie werden in der Heiligen Schrift nie von Menschen berufen. Die Versammlung wählte sie nie aus, so wie sie die auswählte, die mit ihren Geldern für die Armen betraut waren. Auch wählten die Apostel oder ihre Abgesandten keine Lehrer oder Prediger aus, wie sie es bei Ältesten taten; denn diese waren eine örtliche Aufgabe, jene sind Gaben, die als Glieder in den Leib Christi als Ganzes gesetzt sind. Das sind die biblischen Tatsachen, und das Prinzip, auf dem diese Unterscheidung beruht.
Es ist eine grobe Unwissenheit, Amt mit Priestertum zu verwechseln und für das Amt das zu zitieren, was der Hebräerbrief (Heb 5,4) über das Priestertum sagt, wie es von Aaron auf Christus übertragen wird. Doch wenn es zuträfe, würde es beweisen, dass es nicht die Berufung von Menschen zum Amt ist, wie sie es nennen, sondern die ausschließliche Berufung Gottes; denn im Priestertum hat Gott allein erwählt, wenn auch nach Aaron (und wir können vielleicht Pinehas hinzufügen) von Geburt an der Reihe nach, während die Weihe im Blick auf die ganze Gemeinde geschah. Im Amt wie in der Versammlung, wo der Heilige Geist wohnt und wirkt, der ein Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit ist, haben wir das Recht, nach der Wirklichkeit Ausschau zu halten;1 im Fleisch oder in der Welt muss man sich oft damit begnügen, die bloßen Formen vorübergehen zu lassen, verpflichtet, jedem die Ehre zu erweisen, die ihm gebührt, auch wenn der Gegenstand es nicht persönlich verdient hat, wie es in Römer 13 und 1. Petrus 2 festgelegt ist. Die Versammlung ist und soll der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit sein, der Brief Christi, der von allen Menschen erkannt und gelesen wird; und in ihr ist kraft des Heiligen Geistes, der in ihr wohnt, die Macht und die Pflicht, nach dem Wort Gottes zu richten, was immer mit ihrem Bekenntnis sowohl gemeinschaftlich als auch individuell unvereinbar ist.
Danach sehen wir, dass der Apostel hier mit sich selbst „Sosthenes“, den Bruder, verbindet, wie im zweiten Timotheusbrief. Wenn der soeben genannte Sosthenes der Synagogenvorsteher war, der bei seiner Bekehrung die Nachfolge des Krispus angetreten zu haben scheint, wenn er selbst bekehrt war, nachdem er schändlich versagt hatte, Paulus vor Gallion, dem Prokonsul von Achaja, in Korinth zu verletzen, dann können wir sehen, mit welchem Recht er, nicht mehr der jüdische Widersacher, sondern der Bruder in Christus, den Apostel in diesem Gruß an die Gläubigen in Korinth begleiten sollte. Aber ich behaupte nichts, denn es gibt keine direkten Beweise, und der Name war nicht ungewöhnlich. Er war sicherlich in Korinth bekannt und war dann mit dem Apostel in Ephesus.
1 So Calvin (in loco, Comment. Halis Sax. 1831,) ed. Tholuck, I. S. 213, 214. „Re ipsa talem se exhibeat necesse est ... Sed notandum est, non satis esse, siquis tam vocationis titulum, quam suam in exercendo officio fidelitatem obtendat, nisi utrumque de ipsa probet. Nam saepe contingit ut nulli fastuosius titulis superbiant quam qui veritate sunt destituti; quemadmodum olim alto supercilio pseudoprophetas se a Domino missos gloriabantur. Et hodie quid aliud crepant Romanenses, quam Dei ordinationem et sacrosanctam successionem ab ipsis usque Apostolis? sed postea apparet, inanes esse earum rerum quibus insolescunt. Hic ergo non iactantia, sed veritatis quaeritur.“ Dies ist gut und wahr. Aber es ist völlig verunstaltet in der Institt. IV. iii, § 14, 15, wo, nicht zufrieden mit der Behauptung, dass die Ältesten oder Bischöfe von Männern ernannt wurden, die befugt waren, sie zu wählen, Calvins Republikanismus ihn dazu führt, kühn zu behaupten, dass Paulus in Apostelgeschichte 13 der Disziplin einer kirchlichen Berufung unterworfen war, und dass dasselbe in der Wahl des Matthias gesehen wird. Wer sieht nicht im Gegenteil, dass das Los (das keine Wahl war) über letzteren entschied, und dass Apostelgeschichte 13 in keiner Weise eine Ordination, noch weniger eine Wahl durch einen Menschen war, sondern eine Aussonderung von Männern (die bereits in der höchsten Stellung waren) zu einem bestimmten Werk, das der Geist ihnen anvertraute, obwohl er sie darin mit der feierlichen Empfehlung ihrer Brüder an die Gnade Gottes beauftragte (vgl. Apg 14,26).↩︎