Behandelter Abschnitt 1Kor 1,1-31
Einleitung
Der erste Brief an die Korinther bietet uns Gegenstände, die von denen, die uns in dem Brief an die Römer beschäftigt haben, sehr verschieden sind. Es handelt sich hier um sittliche Einzelheiten und um die innere Ordnung einer Versammlung (Gemeinde), hinsichtlich welcher der Geist Gottes seine Weisheit hier in unmittelbarer Weise entfaltet: Älteste oder andere Beamte der Versammlung werden nicht erwähnt. Durch die Bemühungen des Apostels Paulus war inmitten einer äußerst verderbten Bevölkerung eine zahlreiche Versammlung entstanden (denn Gott hatte ein großes Volk in dieser Stadt), da wo Reichtum und Luxus sich mit einem derartig fortgeschrittenen sittlichen Verderben verbanden, dass der Name Korinths sprichwörtlich geworden war. Zugleich suchten hier wie anderwärts falsche Lehrer (meist Juden) den Einfluss des Apostels zu untergraben; auch verfehlte der Geist der Philosophie nicht, seinen verderblichen Einfluss geltend zu machen, obwohl Korinth nicht wie Athen ein Hauptsitz derselben war.
Die Sittlichkeit inmitten der Versammlung sowie die Autorität des Apostels waren miteinander gefährdet, und der Zustand der Dinge war höchst bedenklich. Der Brief wurde von Ephesus aus geschrieben, wo die Nachricht von dem traurigen Zustand der Herde zu Korinth den Apostel fast in demselben Augenblick erreichte, als er sich entschlossen hatte, sie auf seinem Weg nach Mazedonien zu besuchen - denn seine Absicht war, über Korinth dorthin zu reisen, anstatt der Küste Kleinasiens entlang zu fahren, wie er nachher tat -, und ihnen auf dem Rückweg einen zweiten Besuch zu machen. Aber diese Nachrichten verhinderten ihn, sein Vorhaben auszuführen, und anstatt die Korinther zu besuchen, um sein Herz in ihrer Mitte auszuschütten, schrieb er ihnen von Ephesus aus den vorliegenden Brief. Der zweite Brief wurde in Mazedonien geschrieben, als Titus dem Apostel die Nachricht von dem günstigen Erfolg des ersten gebracht hatte.
Die natürliche Ordnung und Einteilung der Gegenstände dieses ersten Briefes ergibt sich sehr leicht. Bevor der Apostel die Christen zu Korinth tadelt, erkennt er zunächst die ganze Gnade an, die Gott ihnen verliehen hatte und auch fernerhin verleihen würde (1Kor 1,1-9). Von 1Kor 1,10 - 4,21 werden dann die Spaltungen, die verschiedenen Lehrschulen und die menschliche Weisheit besprochen, im Gegensatz zu der Offenbarung und der göttlichen Weisheit. 1Kor 5 handelt von der Verderbtheit der Sitten und von der Ausübung der Zucht, sei es vermittels apostolischer Machtvollkommenheit oder unter der Verantwortlichkeit der Versammlung. 1Kor 6 redet von zeitlichen Dingen und Rechtsstreitigkeiten, und dann nochmals von der Hurerei, einem Gegenstand von besonderer Wichtigkeit für die Christen zu Korinth. 1Kor 7 beschäftigt sich mit der Ehe: soll man heiraten oder nicht? - ferner mit den Verpflichtungen der bereits Verheirateten, und mit dem Fall eines bekehrten Mannes oder einer bekehrten Frau, wenn der andere Teil nicht bekehrt war. In 1Kor 8 beantwortet der Apostel die Frage, ob man etwas, das den Götzen dargebracht worden war, essen dürfe; in 1Kor 9 spricht er von seinem Apostelamt. 1Kor 10 handelt von dem Zustand der Korinther im allgemeinen, von der Gefahr, in der sie standen, verführt zu werden, sei es durch Hurerei oder durch Götzendienst und Götzenfeste sowie von den sich auf diese Fragen beziehenden Grundsätzen, wodurch der Apostel auf das Abendmahl des Herrn zu sprechen kommt. In 1Kor 11 finden wir Fragen behandelt, die sich auf das Verhalten der Korinther in religiösen Dingen beziehen, zuerst im Blick auf den einzelnen und dann (V. 17) in der Versammlung. In 1Kor 12 spricht der Apostel über die Ausübung der Gaben, über ihren wahren Wert und den Zweck ihrer Anwendung, indem er in 1Kor 13 den höheren Wert der Liebe hervorhebt; bis zum Ende von 1Kor 14 regelt er die Ausübung der Gaben, mit denen die Liebe verglichen wird. In 1Kor 15 wird die Lehre von der Auferstehung, die einige leugneten, besonders von der Auferstehung der Heiligen, entwickelt; und in 1Kor 16 endlich spricht Paulus, unter Beifügung einiger Grüße, von Sammlungen für die Armen in Judäa sowie von den Grundsätzen der Unterordnung unter solche, die der Herr zum Dienst erweckt hat, selbst wenn keine Ältesten vorhanden sind. Es ist von großem Wert, diese Weisungen zu besitzen, die unmittelbar vom Herrn und unabhängig von einer förmlichen Organisation gegeben sind, so dass sich das einzelne Gewissen sowohl wie die Versammlung als Leib dadurch verpflichtet fühlen sollten.
Doch ich möchte noch einige andere Bemerkungen bezüglich des Charakters und der Zusammen- setzung des Briefes hinzufügen. Der Leser wird einen Unterschied zwischen der Anrede an die Korinther und derjenigen an die Epheser bemerken. Bei den Korinthern lautet dieselbe: „Der Versammlung Gottes . . . samt allen, die an jedem Ort den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen.“ Es handelt sich also um die bekennende Kirche, von deren Gliedern angenommen wird, dass sie treu sind (wenigstens dem Charakter nach, bis sie hinweg getan werden), und damit um einen jeden, der Jesum als Herrn anerkennt. Es ist das Haus, daher auch die Ermahnung in 1Kor 10,1-5. Im Epheserbrief dagegen heißt es: „Den Heiligen und Treuen in Christus Jesus“, und wir finden dort die besonderen Vorrechte des Leibes Christi. Dieser Charakter des Briefes an die Korinther, als die ganze bekennende Kirche umfassend und eine örtliche Versammlung als Darstellerin derselben an diesem Ort anerkennend, verleiht dem Brief eine große Wichtigkeit. Ferner wird man, denke ich, finden, dass bis zur Mitte von 1Kor 10 die äußere bekennende Kirche behandelt wird, und dann führt die Natur des Abendmahls des Herrn den einen Leib Christi ein, worüber in 1Kor 12 im Hinblick auf die Gaben des Geistes gesprochen wird. Sodann redet der Apostel in den ersten Versen von 1Kor 11 über das, was hinsichtlich der Tätigkeit der Frau geziemend ist, und von 1Kor 11,17 an über das Verhalten bei dem Zusammenkommen in der Versammlung und beim Abendmahl des Herrn, in Verbindung mit der Regierung Gottes. Die Verse 1Kor 11,1-16 beziehen sich nicht auf die Versammlung. Doch ist die Ordnung in der örtlichen Versammlung überall der Hauptgegenstand; nur ist von 1Kor 1 bis 1Kor 10,14 der Blick auf die bekennende Masse gerichtet (von der jedoch vorausgesetzt wird, dass sie treu ist, obwohl sie es möglicherweise auch nicht ist), während von 1Kor 10,15 bis zum Ende von 1Kor 12 der Leib Christi gesehen wird. Wenden wir uns jetzt zu dem ersten Kapitel zurück, um den Inhalt dieses Briefes im Einzelnen zu betrachten.
Kapitel 1
Paulus war ein Apostel durch Gottes Willen. Darauf gründete sich seine Autorität, mochte es mit anderen stehen, wie es wollte. Außerdem hatte die nämliche Berufung, die die Korinther zu Christen gemacht hatte, ihn zu einem Apostel gemacht. Er redet die korinthischen Gläubigen an als die Versammlung Gottes zu Korinth, indem er einen Charakterzug beifügt, dessen Bedeutung und Anwendung klar ist, wenn wir den Inhalt des Briefes betrachten: er nennt sie „Geheiligte in Christus Jesus“. Ferner wird in der Anrede die allgemeine Anwendung der Lehre und der Unterweisungen des Briefes betont sowie die allgemeine Autorität desselben über alle Christen, wo sich diese auch befinden mögen.
Glücklicherweise konnte der Apostel, wie groß auch sein Schmerz über den Zustand der Korinther sein mochte, seine Zuflucht zu der Gnade Gottes nehmen und so die ganze Fülle der Gnade, die Gott ihnen dargereicht hatte, anerkennen. Indes führte der Umstand, dass er die Korinther so mit Gott in Verbindung brachte, dahin, dass einerseits die Heiligkeit Gottes in ihrer ganzen Macht auf ihre Gewissen einwirkte, während andererseits dem Herzen des Apostels die Ermutigung der vollkommenen Gnade Gottes gegen sie zuteil wurde. Und diese Gnade selbst wurde in den Herzen der Korinther ein mächtiger Hebel für das Wort. Einer solchen Gnade gegenüber mussten sie sich der Sünde schämen. Auch kann es kein bemerkenswerteres Zeugnis für das Rechnen auf die Treue Gottes gegen sein Volk geben, als das, was wir hier finden. Unser Verhältnis zu Gott erfordert Heiligkeit: nur in Heiligkeit kann es genossen werden; aber es beruht auf der Treue Gottes. Der Wandel der Korinther war, wie wir wissen, ein trauriger. Der Apostel übersieht das Böse nach keiner Seite hin; aber dennoch erklärt er, dass Gott treu sei und sie befestigen werde bis ans Ende, damit sie - nicht errettet, sondern untadelig seien an dem Tag unseres Herrn Jesus Christus. Dann erst beginnt er sie zu tadeln! Welch ein wunderbares Zeugnis!
Paulus (der Geist selbst) verband so die Korinther mit Gott; und das, was Gott in dieser Verbindung mit ihnen war, übte seine ganze Kraft auf ihre Herzen und Gewissen aus. Zugleich öffnete der Apostel vermittels dieser Waffe ihr Herz für alles, was er ihnen zu sagen hatte. Man muss sehr nahe beim Herrn sein, um sich mit Christen, die schlecht wandeln, in einer solchen Weise beschäftigen, sie so betrachten zu können. Nicht dass man ihre Sünden schont - der Apostel ist weit davon entfernt, das zu tun; sondern es ist die Gnade, die ihre Gewissen dahin leitet, sich mit ihrer Sünde zu beschäftigen als Personen, die viel zu köstliche Beziehungen zu Gott haben, als dass sie in der Sünde verharren oder sie dulden könnten. Der Brief an die Galater gibt uns ein bemerkenswertes Beispiel von dem Vertrauen, das die Kenntnis der Gnade einflößt (vgl. Gal 4,20 mit Gal 5,10).
Die Korinther waren von Gott durch seine Gaben reich gemacht worden, und sein Zeugnis war dadurch unter ihnen bestätigt worden, so dass sie an keiner Gnadengabe Mangel litten, indem sie auf die Offenbarung des Herrn, die Erfüllung von allem, warteten. Feierlicher Tag! für den Gott, der sie berufen hatte, sie in seiner Treue befestigte, damit sie an diesem Tag untadelig seien, berufen, wie sie waren, zu der Verbindung und Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus. Diese kurze aber köstliche Darstellung der Gnade und Treue Gottes dient dem Apostel als Grundlage (wenn auch der Zustand der Versammlung ihm nicht erlaubte, diesen Gegenstand so zu entwickeln, wie er es im Brief an die Epheser tut) für alle Ermahnungen und Unterweisungen, die er an die Korinther richtet, um ihre wankenden Schritte zu befestigen und zu leiten.
Der Apostel beschäftigt sich zuerst mit der Torheit der Korinther, die sich dahin kundgab, dass sie aus den hervorragendsten christlichen Lehrern und aus Christo selbst Häupter von Schulen machten. Christus war nicht zerteilt. Die Korinther waren nicht auf den Namen Pauli getauft worden; er hatte zwar gelegentlich einige unter ihnen getauft, aber er war gesandt zu predigen, nicht zu taufen1; seine Sendung gründete sich auf Apg 26,16-18 und Apg 13,2ff, nicht aber auf Matthäus 28,19. Übrigens war diese ganze menschliche Weisheit nichts als Torheit, die von Gott zunichte gemacht wurde. Die Predigt vom Kreuz war die Kraft Gottes, und Gott hatte das Schwache, das Nichtige, das Törichte der Welt auserwählt, um die Weisheit und Kraft der Welt zunichte zu machen, damit das Evangelium sich offenbar als Gottes Kraft erwiese. Die Juden forderten ein Zeichen, die Griechen suchten Weisheit; Gott aber ließ Christus, den Gekreuzigten, predigen, den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit, den Berufenen selbst aber Gottes Kraft. Durch das, was nicht ist, machte Gott das, was ist, zunichte, denn seine Schwachheit ist stärker als die Kraft der Welt, seine Torheit weiser als die Weisheit dieses Zeitlaufs. Kein Fleisch soll sich in seiner Gegenwart rühmen. Gott beschäftigte sich mit dem Gewissen, obwohl in Gnade, gemäß der wahren Stellung des verantwortlichen Menschen, und unterwarf sich nicht dem Urteil und den Schlüssen des menschlichen Geistes, zu denen der Mensch auch gar nicht berechtigt ist, und die ihn aus seiner Stellung herausbringen, als ob er Gott beurteilen könnte. Außerdem war der Christ sogar mehr als der bloße Gegenstand der Unterweisungen Gottes; er war selbst von Gott in Jesus Christus: sein Leben, sein Wesen, seine Stellung als Christ hatte er von Gott, und Christus war für ihn Weisheit von Gott, Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung - alles im Gegensatz zu den Anmaßungen des menschlichen Geistes, zu der falschen Gerechtigkeit des Juden unter dem Gesetz, zu den Mitteln und dem Maß der Heiligkeit, die dieses darbot, und endlich zu der menschlichen Schwachheit, deren letzte Spuren Gott bei der Befreiung beseitigen wird, die Er durch seine Kraft in Christus herbeiführt, wenn Er das Werk seiner Gnade vollenden wird. So sind wir von Gott, und Christus ist von Seiten Gottes alles für uns, damit, wer sich rühmt, sich des Herrn rühme - ein kurzes, aber kräftiges Zeugnis von dem, was das Christentum in seinen Grundlagen ist.
1 Diese Bemerkung ist umso beachtenswerter, als er betreffs des Abendmahls des Herrn eine besondere Offenbarung empfangen hatte. Doch diese letzte Verordnung hat Bezug auf die Einheit des Leibes, die in besonderer Weise das Zeugnis des Apostels ausmachte. Die Zwölf dagegen waren gesandt, die Nationen zu taufen (Mt 28).↩︎