Behandelter Abschnitt Röm 9,14-15
Aber der Mensch, der sich selbst und den wahren Gott nicht kennt, bestreitet die Tatsache seiner eigenen völligen und unentschuldbaren Schlechtigkeit und blickt nicht auf Gott, sondern windet sich unter seinem Wort und höhnt über seine Wege. Dies, wie es das Gefühl der natürlichen Menschen im Allgemeinen ist, fand so besonders Ausdruck in dem wahrscheinlichen Einwand, den ein Jude empfinden könnte. Dem widerspricht der Apostel:
Was sollen wir nun sagen? Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott? Das sei ferne! Denn er sagt zu Mose: „Ich werde begnadigen, wen ich begnadige, und ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme“ (9,14.15).
Das heißt, es ist reine Barmherzigkeit und Mitleid von Seiten Gottes, wo immer es sich zeigt, nicht nur im Stich lassen, sondern in voller Anschauung der schwersten und verderblichsten Verfehlungen. Niemand, der sein eigenes wirkliches Unrecht gegen Gott empfindet, stellt jemals seine Gerechtigkeit infrage. Verwirrt beim Anblick seiner schuldhaften Unmündigkeit und seines Ungehorsams, kurz gesagt, seiner Gottlosigkeit, ist er stumm vor dem gleichzeitigen und fortwährenden Beweis der erstaunlichen Güte und Geduld Gottes, und wäre es nur im Umgang mit Israel. So beruft sich der Apostel auf die ernsten und höchst gnädigen Worte des Herrn an seinen Knecht in 2. Mose 33 an den Juden (und natürlich zum Nutzen für uns und die ganze Welt). Ein so treffendes Zeugnis gibt es unter fast unzähligen prinzipiell zutreffenden Stellen in der Bibel nicht.
Betrachtet man die Umstände, so wird die Schlüssigkeit seiner Antwort deutlich, auch wenn es auf den ersten Blick seltsam erscheinen mag, einer solchen Frage mit einem solchen Zitat zu begegnen. Und kann es etwas geben, das charakteristischer für die göttliche Offenbarung ist als dies? Eile verkündet das Unwichtige und Unvernünftige, das sich, wenn es gerecht und vollständig erforscht wird, als allein richtig und wahr erweist, als allein geeignet, dem Menschen so zu begegnen, wie er ist, als allein vereinbar mit dem Charakter und der Herrlichkeit Gottes.
Die Geschichte des Volkes hatte kaum begonnen, als alles moralisch beendet war durch ihren götzendienerischen Abfall von dem Herrn am Fuß des Sinai, wo das Volk mit Aaron an der Spitze entblößt vor dem goldenen Kalb tanzte. Ungerechtigkeit vor Gott! Es gab gewiss die gröbste Ungerechtigkeit in Israel; und was konnte die Gerechtigkeit Gottes anderes tun, als laut nach ihrer unwiderruflichen Verurteilung zu rufen? Auf diesem Grund verschließt sich der widersprechende Jude wie der ungläubige Heide, nur dem sicheren und schonungslosen Gericht; denn es kann keinen Zweifel an der Schuld des Menschen geben, und die Gerechtigkeit auf Gottes Seite hat nur das Urteil des Verderbens auszusprechen und zu vollstrecken.
Ist Gott also an dies und nichts anderes gebunden? Er muss es sein, und zwar nach dem blinden, selbstmörderischen Prinzip des selbstgerechten, aber ungerechten Menschen, der in seiner Eile, Gott Schuld zuzuweisen, vergisst, dass es zu seinem eigenen hilflosen Verderben führen würde. Aber Gott kann einem Narren zwar gerecht antworten, wie es seiner Torheit entspricht, aber wegen seiner Gnade darf Er das nicht. Er hat Mittel in sich selbst, auf die Er zurückgreifen kann.
So leugnete das Volk in dem Abschnitt vor uns, dass der Herr sie aus dem Haus der Knechtschaft befreit hatte, indem es rief: „Denn dieser Mose, der Mann, der uns aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat – wir wissen nicht, was ihm geschehen ist“ (2Mo 32,1) Daraufhin schlug der Herr das Volk nicht nur wegen seines Götzendienstes (V. 35), sondern befahl Mose, von dort hinaufzuziehen, „du und das Volk, das du aus dem Land Ägypten heraufgeführt hast, in das Land, das ich Abraham und Jakob und Isaak zugeschworen habe ...“ (2Mo 33,1). Daraufhin stellt Mose das Zelt der Zusammenkunft außerhalb des Lagers auf, damit jeder, der den Herrn suchte, dorthin hingehen konnte.
Doch er tut noch mehr; er legt dort Fürsprache für das Volk ein, besteht darauf, dass sie das Volk des Herrn sind, und möchte die Zusicherung, dass Er mit ihm geht, in eine ändern: mit ihm und ihnen zu gehen. „Und woran soll es denn erkannt werden, dass ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, ich und dein Volk? Nicht daran, dass du mit uns gehst und wir ausgesondert werden, ich und dein Volk, aus jedem Volk, das auf dem Erdboden ist?“ (2Mo 33,16). Dann, als Mose Ihn anfleht, ihm seine Herrlichkeit zu offenbaren, sagt Er: „Ich werde alle meine Güte vor deinem Angesicht vorübergehen lassen und werde den Namen des Herrn vor dir ausrufen; und ich werde begnadigen, wen ich begnadigen werde, und werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen werde“ (2Mo 33,19).
Damit ist die Tragweite der Erklärung ebenso offensichtlich wie angemessen und unwiderlegbar. Für ein Volk in einem solchen Fall den Gedanken der Ungerechtigkeit vor Gott zu hegen, ist eine ungeheuerliche Vergesslichkeit nicht nur ihres tatsächlichen Zustandes in Bezug auf Ihn, sondern auch ihrer einzigen Hoffnung in seiner souveränen Barmherzigkeit. Einst hatten sie sich auf die Grundlage der Gerechtigkeit gestellt, indem sie das Gesetz annahmen. Doch bevor die Steintafeln niederworden wurden, hatten sie durch ihre Übertretung des grundlegendsten Gebots des Gesetzes alles verwirkt. Daher konnte es keine Hoffnung geben, es sei denn durch seine Barmherzigkeit. Sie hatten gezeigt, was sie waren, und das umso eher wegen ihres Selbstbewusstseins. Nun blieb es, zu lernen, was Gott ist; und dies ist sein Wort, sogar in Gegenwart der üblen Schande, die sie ihm angetan hatten: „ich werde begnadigen, wen ich begnadigen werde, und werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen werde“ (V. 15).
Zur Zeit des Apostels waren die Dinge nicht besser. Denn das Volk war inzwischen in seiner götzendienerischen Rebellion so weit fortgeschritten, dass Gott es schließlich wegfegte, zuerst Israel durch die Assyrer, dann Juda durch die Babylonier. Und nun befand sich der zurückgekehrte Überrest unter römischer Knechtschaft und hatte sich schuldig gemacht, seinen Messias zu verwerfen und auch mit Gottes Gnade für die Heiden zu hadern. Es ist also klar, dass der Mensch dazu neigt, dann am selbstgerechtesten zu sein, wenn er am wenigsten Grund dazu hat. „Nicht diesen Mann, sondern Barabbas“ (Joh 18,40), schrien sie alle. „Wir haben keinen König als nur den Kaiser“ (Joh 19,15), antworteten die Hohenpriester. Ihre moralische Degradierung war vollständig; ihr Glaube war null und nichtig. Es hätte einem solchen Volk nicht zugestanden, zu einer solchen Zeit zu fragen: „Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott?“ Gerade da aber ist der menschliche Geist am ehesten bereit, mit Gott zu streiten.