Behandelter Abschnitt Joh 15,9-11
Ein weiteres Element von unschätzbarem Wert für den Weg des Jüngers ist das Bewusstsein der Liebe des Erlösers. Dies wird den Jüngern als Nächstes vor Augen gestellt.
Wie der Vater mich geliebt hat, habe auch ich euch geliebt; bleibt in meiner Liebe. Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. Dies habe ich zu euch geredet, damit meine Freude in euch sei und eure Freude völlig werde (15,9–11).
Wir müssen bedenken, dass das Thema das Fruchtbringen während des Weges des Jüngers durch diese Welt ist. Es ist nicht die ewige Bestimmung, auch nicht die Liebe in der Beziehung, die unfehlbar vom Ersten bis zum Letzten Sicherheit gibt, sondern die Liebe Christi zu jedem auf seinem Weg des täglichen Wandels und der Erprobung. Er wusste, was dies von Seiten seines Vaters zu Ihm selbst als Mensch war, obwohl Er nie aufhörte, hier auf der Erde der Sohn zu sein. So war seine eigene Liebe zu den Jüngern; und nun ruft Er sie auf, in ihr zu bleiben, nicht nur in Ihm, sondern vor allem in seiner Liebe; eine unermessliche und unerschöpfliche Quelle des Trostes in dem notwendigerweise schmerzhaften und sonst enttäuschenden Verlauf der irdischen Umstände, die sich ihnen um seinetwillen so stark entgegenstellen. „Gebt starkes Getränk“, sagt das Buch der Sprüche, „denen, die betrübter Seele sind“ (Spr 31,6). Aber seine Liebe ist besser als Wein, sie erheitert und stärkt ohne fleischliche Erregung. Es gibt also nicht nur die Abhängigkeit von Ihm, sondern auch das Vertrauen auf Ihn, das seine Liebe einflößen soll.
Aber es folgt noch mehr, nämlich der Gehorsam. „Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe“ (V. 10). Es ist offensichtlich, dass wir es hier nicht mit der souveränen Barmherzigkeit Gottes zu tun haben, die zu den Verlorenen ausgeht und die Feinde durch den Tod seines Sohnes versöhnt. Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen (Adam) die vielen zu Sündern wurden, so sollen auch durch den Gehorsam des einen (Christus) die vielen zu Gerechten gemacht werden. Die Gnade in Christus überwindet jedes Hindernis und herrscht in Gerechtigkeit über alles Böse, sei es bei dem Einzelnen oder bei dem Volk. Hier geht es nicht um das Verderben oder die Befreiung des Sünders, sondern um den Weg des Jüngers, und sein Gehorsam ist die Bedingung für das Bleiben in der Liebe seines Meisters. Er, der in allen Dingen den Vorrang hat und haben muss, ging denselben Weg und nahm denselben Zustand an wie der Mensch hier auf der Erde; obwohl Er es nicht für Raub achtete, Gott gleich zu sein, wurde Er gehorsam, und zwar bis zum tiefsten Punkt, zur Ehre Gottes, des Vaters. Er tat in unerschütterlicher Vollkommenheit den Willen dessen, der Ihn gesandt hat, und genoss dessen Frucht in gleicher Vollkommenheit. Wir folgen Ihm nach, wenn auch mit ungleichen Schritten; und gewiss, wer sagt, er bleibe in Ihm, der soll auch selbst so wandeln, wie Er gewandelt ist. Und der Gehorsam ist der Weg. Nichts anderes ziemt uns sittlich; wie dies nur unsere Liebe zu Ihm und unser Empfinden der Beziehung zu Gott beweist. Nichts ist so bescheiden, nichts so fest, wie der Gehorsam. Er befreit einerseits von der Selbstbehauptung und andererseits von der Unterwerfung unter die Meinungen oder Traditionen der Menschen. Er bringt uns von Angesicht zu Angesicht mit dem Wort Gottes und prüft unseren Wunsch, Ihm zu gefallen, inmitten von gegenwärtiger Bequemlichkeit, Ehre, Lust oder Leidenschaft. Auch hier geht es um das Halten der Gebote Christi, als das, was seine Liebe bewirkt, wie wir in Johannes 14 gesehen haben, dass es ihre Liebe zu Ihm bewies.
Das letzte Motiv, das der Herr den Jüngern diesbezüglich vor Augen führt, ist im nächsten Vers enthalten. „Dies habe ich zu euch geredet, damit meine Freude in euch sei und eure Freude völlig werde“ (V. 11). Es gibt auch kein besseres Kriterium für unseren Zustand und folglich für unser Versagen oder unser Gelingen, wenn wir in seine Gedanken eintreten. Denn wenn wir die Worte dieses Kapitels gesetzlich aufnehmen, führen kaum Worte in der Bibel sicherer dazu, eine aufrechte Seele in Kummer und Niedergeschlagenheit zu stürzen; aber wenn wir sie so verstehen, wie Er es beabsichtigte, sind sie ausdrücklich gegeben, um uns seine Freude zu vermitteln und unsere Freude völlig zu machen. Seine Freude, als Er hier war, bestand darin, seinem Vater zu gefallen; seinen Geboten zu gehorchen war nicht schwer. Diese seine Freude, die auf seinem Weg ungebrochen war, wollte Er nun zu unserer machen.
Welch ein Gegensatz zu dem unfruchtbaren Seufzen einer Seele unter dem Gesetz, obwohl sie Leben hat, wie am Ende von Römer 7! Welch eine Gnade, wenn wir solche Bitterkeit geschmeckt haben, jetzt unsere Freude im Gehorsam erfüllt zu wissen! Der letzte Teil von Römer 7 ist ein heilsamer Prozess für uns, den wir durchlaufen müssen, aber ein miserabler Zustand: Dafür hat Gott ihn nie vorgesehen. Römer 8 zeigt uns den Christen, der befreit, heilig und reich an guter Frucht ist. Können wir zugleich auf beiden Grundlagen stehen? Das würde nur der behaupten, der noch nicht befreit ist. Seht darauf, ihr Theologen, und ihr, die ihr ihnen glaubt und die Freude Christi nicht schmeckt.
Dies ist eindeutig sein Wunsch in Bezug auf uns. Diejenigen, die das ignorieren oder leugnen, würden uns seiner Freude berauben, so wie sie ihnen zweifellos selbst fehlt. Wir brauchen uns nicht zu wundern; denn wie die Philosophie niemals die göttliche Liebe begreifen kann, so verfehlt die Theologie, die sich der menschlichen Wissenschaft anbiedert, immer die Freude des Erlösers, indem sie Vergnügen und Beifall in den Schulen der Welt sucht, die den Vater heute nicht mehr kennt als früher. Der Herr sagte wenig später: „Gerechter Vater! – Und die Welt hat dich nicht erkannt; ich aber habe dich erkannt, und diese [die Jünger] haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen“ (17,25.26). Welch unaussprechliche Güte! Erweist sich nicht jeder Gedanke, jedes Empfinden, jedes Wort als göttlich? Ein gefestigter Friede ist eine großartige Sache als Fundament des Gläubigen, die niemals erschüttert werden kann, und Gott möchte, dass wir Ihn einfach und unveränderlich kennen; aber wir dürfen die Freude des Gehorsams und die Gunst des Herrn als eine gegenwärtige Sache in unseren täglichen Wegen nicht vergessen. Das ist von den Kindern Gottes zu sehr übersehen worden, und kaum mehr durch die nachlässige Gleichgültigkeit des Evangelikalismus als durch die mürrische Härte der Legalisten, die sowohl den vollen Grund der Gnade als auch den wahren Charakter der Regierung Gottes, der mit ihr als gegenwärtige Sache verbunden ist, nicht kennen.