„Das Wort des Herrn, das an Joel, den Sohn Pethuels, erging“ (V. 1). Wie Hosea ist Joel einer der frühesten Propheten (sogar früher als Jona), aber er unterscheidet sich im Wesentlichen dadurch, dass Ersterer das ganze Volk im Auge hat, während Letzterer von Gott geführt wurde, sich auf den Teil zu beschränken, der äußerlich mit dem Haus Davids sowie mit den Verordnungen des Gesetzes verbunden war. Das gibt uns daher einen viel eingeschränkteren Bereich, trägt aber gerade deshalb zu einer größeren Bestimmtheit in den behandelten Themen bei, was auch durch eine charakteristische Anschaulichkeit des Stils unterstützt wird. In der Tat ist der Gegensatz zwischen diesen beiden früheren Propheten auffallend: Joel zeichnet sich durch eine glatte Sprache aus, durch eine ausführliche Behandlung und leichte Übergänge, Hosea dagegen durch eine gewisse grobe Nachlässigkeit, bedeutungsvolle Kürze und plötzliche Wendungen, die sehr ausdrucksstark, aber für nicht-jüdische Gemüter etwas undeutlich sind.
Das große Thema unseres Propheten ist der Tag des Herrn, und zwar in seinem ganzen Ausmaß, aber mit besonderer Anwendung auf die Juden und vor allem auf Jerusalem. Gleichzeitig teilt Joel die Gewohnheit aller Propheten, so könnte man sagen, eine gegenwärtige oder naheliegende Tatsache als Grundlage für etwas Zukünftiges zu gebrauchen. So hatte die Prophezeiung eine unmittelbare Auswirkung oder ein nicht weit entferntes praktisches Ziel, während wir gleichzeitig sehen, wie weit der Geist Gottes davon entfernt ist, sich auf das zu beschränken, was entweder gerade geschah oder von vorübergehender Natur war.
Keine Weissagung der Schrift ist von eigener Auslegung (2Pet 1,20); sie ist so gegeben, dass sie es nicht sein kann. Sie auf die Vergangenheit zu beschränken, wäre ein Fehler; die Zukunft beiseitezulassen, würde den bedeutsamsten Inhalt zerstören, den Gott in ihr verliehen hat. Wenn es also ein Fehler ist, die Vergangenheit zu leugnen, so ist es ein noch größerer, die Zukunft zu leugnen. Die eine würde etwas von dem damaligen Interesse und Gewinn abschneiden; die andere schließt ihr dauerhaftes Zeugnis für Gottes Herrlichkeit aus. In beiderlei Hinsicht ist die göttliche Weisheit offensichtlich. Er sorgte für das, was eine Warnung oder Ermutigung für sein Volk war, als der Prophet die ihn umgebenden Umstände vor Augen hatte; aber er wies auf eine Zeit hin, die noch nicht gekommen war, wenn die gerechten Ergebnisse dessen, was in seinem eigenen Sinn war, erfüllt und offenbart werden.
Nun können diese Ergebnisse niemals geschehen, bis das Reich Gottes in Macht und Herrlichkeit kommt. Es ist unmöglich, dass der Geist Gottes mit irgendetwas zufrieden sein könnte, was entweder unter den Menschen stattgefunden hat oder jetzt stattfindet. Alles, was der Mensch erreicht hat, alles, was existiert, obwohl es auf verschiedene Weise ein Zeugnis dessen ist, was Gott dem Menschen gegenüber ist, liefert leider einen noch größeren und beständigeren Beweis für das Versagen des Menschen, das, was Gott ihm gegeben hat, richtig zu nutzen. Wir werden diese allgemeinen Grundsätze nicht nur in Joel, sondern in allen Propheten völlig bestätigt finden; denn sie sind unveränderlich.
Unter den Lesern Joels wurden nicht nur Schwierigkeiten empfunden, sondern man kann sagen, dass es Missverständnisse gab; doch das lag eher an ihrer eigenen mangelnden Wahrnehmung des Themas als an einem Mangel an Deutlichkeit oder an einer reinen und direkten Sprache des Propheten. Einige haben diese Heuschreckenplagen als rein symbolisch betrachtet; andere wiederum leugnen alles, was über die buchstäblichen Schwärme von Insekten hinausgeht, die nacheinander die Früchte und die Vegetation Israels wegfraßen. Aber Gott kann, weil Er groß ist, auf das kleine Dinge Rücksicht nehmen, während Er offensichtlich nicht darauf beschränkt werden kann. Daher ist es ein Irrtum, anzunehmen, dass Gott in irgendeiner Weise herabgesetzt würde, wenn Er die Plünderungen dieser verschiedenen Heuschrecken zur Kenntnis nimmt. Er hat das lebhafteste Interesse an seinem Volk zu dessen Freude und Segen. Er kümmert sich um jede Not, die sie niederdrückt, und lässt sich herab, das, was sie bedrückt, zum Guten zu gebrauchen. Daher hält es der Geist Gottes für angebracht, dem Volk Gottes vor Augen zu führen, was Gott mit diesen aufeinanderfolgenden Verwüstungen beabsichtigte. Sie werden uns in Kapitel 1 vorgestellt; aber der Zusammenhang, der folgt, zeigt, dass sie damals nur zu Mahnungen gebraucht wurden. Es ist zu bezweifeln, dass sie die Feinde darstellen, die sicher zu gegebener Zeit über ein Volk fallen würden, wenn es unbußfertig wäre. Sie könnten dem nachdenklichen Geist durchaus ein solches Ergebnis nahelegen. Sie waren vergangen; Schlimmeres würde kommen und stand bevor.
In Kapitel 2 werden die buchstäblichen Heuschrecken nicht erwähnt (außer natürlich im Segen, Vers 25, der alles umkehrt), und der Prophet geht auf das zu, was die Heuschrecken darstellten. So gibt uns Kapitel 1 tatsächliche Fakten, nichts als die verschiedenen Geschöpfe, die die gesamte Vegetation des Landes wegfraßen. Es sieht nicht so aus, als ob man in ihnen irgendeinen tieferen Sinn erkennen könnte. Die aufeinanderfolgenden Verwüstungen, die durch die Insekten verursacht wurden, werden uns unmissverständlich vor Augen geführt. Ab Vers 15 benutzt Gott sie als Einleitung, um sein Volk vor einer noch größeren und folgenreicheren Bedrohung zu warnen.
Die entsprechenden Einzelheiten werden dann in Kapitel 2 dargelegt, mit einer Verheißung geistlicher Kraft, die so formuliert ist, dass das Neue Testament sie auf das große Vorrecht und die Kraft anwenden könnte, die den gottesfürchtigen Überrest der Juden kennzeichnete, der am Pfingsttag in Jerusalem den Namen des Herrn anrief, aber die in ihrer vollen und kostbaren Bedeutung auf ihre Erfüllung wartet, wenn alle Zusätze der Vorhersage am Ende des Zeitalters verwirklicht werden.
Kapitel 3 beschreibt den vollen Ausgang im Gericht und im Segen, die charakteristischen Merkmale des Tages des Herrn. Auch hier zeigt sich, dass die Prophezeiung nicht aus unsicheren Voraussagen und übertriebenen Begriffen besteht, sondern dass derartige Gedanken nur von Menschen stammen, die ihre Tragweite nicht verstehen. Wäre es nicht angemessener für sie, sich ihrer Meinung zu enthalten, bis sie es verstehen? Meines Erachtens kann nichts weniger ehrfurchtsvoll oder unvereinbar mit Bescheidenheit sein als solche unbedachten und willkürlichen Aussagen über das Wort Gottes. Die Wahrheit ist, dass die Schrift immer vollkommen ist, aber die Menschen sind nicht fähig zu sprechen, wenn sie nicht von Gott gelehrt sind. So gibt es, menschlich gesprochen, solche, die die Wunder des Himmels wertschätzen können, aber stumpf sind, um die göttliche Konstruktion eines Gänseblümchens wahrzunehmen; doch für jeden, der etwas richtig wertschätzt, ist die vollkommene Hand Gottes sogar in einem Gänseblümchen genauso klar und sicher wie im Sonnensystem. Es ist nur eine Frage des Platzes, den jedes Geschöpf Gottes in seinem eigenen bedeutenden Plan einnimmt. Seine Weisheit und Macht zeigen sich nicht weniger im Kleinen als im Großen, Massiven und Erhabenen.
So gibt es keinen Zweifel, dass, wenn das Teleskop dem Menschen manches Wunder eröffnet, das Mikroskop nicht weniger beeindruckend ist. Es sind beides wichtige Instrumente in der Hand des Menschen, und sie sind beide dazu bestimmt, zweifellos in Gottes Vorsehung, dem Menschen aus der natürlichen Welt ein Zeugnis der göttlichen Macht in dem, was im Weltall ist, und auch in dem, was unten auf der Erde ist, zu zeigen. Aber in allen Dingen ist das, was daraus zu entnehmen ist, nicht Weihrauch für den Menschen (ohne die große Würde dessen zu leugnen, der das Haupt oder das natürliche Oberhaupt der Schöpfung ist), sondern die Wunder Gottes in dem, was Er gewirkt hat.
Ein ähnlicher Grundsatz gilt für das Wort Gottes; denn wenn Gott sich darin im Großen zeigt, so zeigt er sich ebenso sehr in Dingen, deren Winzigkeit leicht der Beobachtung entgehen könnte. Überall zeigt sich Gottes vollkommenes Handeln, sei es in dem, was Er gemacht hat, oder vor allem in dem, was Er geschrieben hat, und in dem, was Er geschrieben hat, über das hinaus, was Er gemacht hat, weil sein Sinn und seine Wege über seine äußeren Werke hinausgehen müssen. Denn das Wort Gottes beansprucht den allerhöchsten Platz als Ausdruck seiner Weisheit – seiner inneren Weisheit. Denn das, was mit der Materie zusammenhängt, muss dem weichen, was mit dem Verstand und den Auswirkungen zu tun hat, und vor allem der Entfaltung der göttlichen Natur.
Nun ist die Prophetie ein bemerkenswerter Teil dieses Ausdrucks seines Geistes, obwohl sie weit davon entfernt ist, der höchste zu sein. Aber ich glaube nicht, dass es einen hinreichenden Grund gibt, einen Zusammenhang zwischen den Verwüstungen durch diese verderbenbringenden Insekten und den Gerichten in der Vorsehung vor dem Tag des Herrn anzunehmen, die manche dem ersten Teil der siebzigsten Jahrwoche Woche nach der Aufnahme der Versammlung in den Himmel zuordnen. Dass beide Kapitel auf dieselbe Weise verstanden werden müssen, entweder als Anspielung auf Heuschrecken oder auf ein feindliches Heer, das in Juda einfällt, ist eine unüberlegte und unbegründete Vorstellung, die keine andere Quelle hat als die Einbildung des Menschen, die einer verkürzten Einsicht entspringt. Sie sind zweifellos eng miteinander verbunden, aber es liegt viel Schönheit darin, das vergangene Unheil zum Anlass zu nehmen, die Juden vor einer weitaus schrecklicheren Heimsuchung zu warnen, und es mit dem zukünftigen Tag des Herrn zu verbinden.
Ich sehe auch keinen stichhaltigen Grund dafür, die vier Schwärme als einen Vergleich für Tiglat-Pileser, Salmaneser, Sanherib und Nebukadnezar einerseits und andererseits für die babylonisch-assyrische Macht, die medo-persische, die mazedonische oder syro-mazedonische und die römische zu betrachten, oder für die zuletzt genannte in veränderter Form. Dies sind Spekulationen, die sowohl bei einigen frühchristlichen Schriftstellern als auch bei den Juden ihrer Zeit Anklang fanden. Aber je mehr wir den Wert des prophetischen Wortes erkennen, desto entschiedener sollten wir uns gegen jedes Auslegungsschema stellen, das der Phantasie entspringt. Wir tun gut daran, uns vor Spekulationen in den Dingen Gottes zu hüten. Es sind die unüberlegten Mutmaßungen von Menschen, die sich nicht an seinen in der Schrift offenbarten Gedanken orientieren und voreilige Schlüsse ziehen.
Wenn wir uns nicht sicher sind, ist es weise, auf jemanden zu warten, der uns nicht enttäuscht. Es wäre wünschenswert, die Grundlage der Schrift für solche Ansichten abzuwägen, wenn sie vorgelegt werden kann. Bis jetzt wurde keine vorgelegt, außer der Ähnlichkeit der vier mit den vier Tieren und den vier Werkleuten oder Schmieden, von denen wir in den Visionen in Daniel 2 und 7 und Sacharja 2 lesen. Kann man sich einen unsicheren Beweis vorstellen? Der Prophet zieht eine warnende Lehre aus tatsächlichen Ereignissen, die geschehen waren und vor aller Augen geschahen. Dann fährt er fort, von unvergleichlich schwerwiegenden Ereignissen in Gnade und Gericht zu sprechen, von denen die meisten noch erfüllt werden müssen. Aber wir dürfen die Heuschreckenplage in Offenbarung 9 unter der fünften Posaune nicht mit irgendeinem Teil von Joel 1 verwechseln. Die Verwüstungen im Heiligen Land waren der Anlass für eine bildliche Beschreibung eines mächtigen Feindes in Kapitel 2; die buchstäblichen Heuschrecken waren nur eine vorübergehende Plage Gottes, die sicherlich nicht zu missachten ist, sich aber sehr von der danach beschriebenen Not unterscheidet. Es mag eine Verbindung zwischen Kapitel 2 (nicht 1) und Offenbarung 9 bestehen, aber letztere führt Symbole ein, die weitaus komplizierter sind und auf ein tieferes Übel hinweisen. Beide beziehen sich auf die Menschen, die durch Heuschrecken symbolisiert werden. In der Verwendung der Heuschrecken in Kapitel 1 sehe ich wenig mehr als Gottes Interesse an seinem Volk. Wenn Er einen Schlag verhängt, wollte Er, dass sie sich demütigen und ihn durch den Propheten fragen und erfahren, warum Er verhängt wurde. Er züchtigte das Volk, das Er liebte, damit es seiner Heiligkeit teilhaftig würde und den schwereren Schlägen entging, die sonst ihr Teil wären.