„Hört dieses, ihr Alten, und nehmt es zu Ohren, alle ihr Bewohner des Landes! Ist so etwas in euren Tagen geschehen oder in den Tagen eurer Väter?“ (V. 2). Soweit die Ältesten zurückgehen und so sehr jeder Bewohner des Landes auch suchen mochte, es war nichts dergleichen geschehen in ihren Tagen oder denen ihrer Väter. Was damals geschehen war, sollte von einem zum anderen ihrer Nachkommen erzählt werden. Doch war es eine Geißel, die man leicht auf zweite Ursachen zurückführen konnte, und aller Gewinn war verloren, weil Gott ausgeschlossen war. Wenn Er erhört würde, würde das, was gerade über das Land hereingebrochen war, zur Buße auffordern; wenn Er verachtet würde, warnt der Prophet vor größeren Übeln.
Es ist den meisten von uns vertraut, dass Prophetie immer einen Zustand des Verderbens voraussetzt. Sie erfolgt dort, wenn es eine solche Untreue im Volk Gottes gibt, die auf den nahenden oder tatsächlichen Ruin hinweist. Die Prophetie ist dann ein besonderes und außergewöhnliches Eingreifen Gottes, nicht so sehr, weil die Menschen bei der Erfüllung ihrer Pflicht versagt haben, sondern wenn sie sich einem allgemeinen und verhängnisvollen Abweichen von ihrem Platz schuldig gemacht haben. Daher wird man feststellen, dass sie einen zweifachen Charakter hat. Einerseits verurteilt sie den Zustand des Verderbens, indem sie angibt, worin die Menschen gegen Gott gesündigt haben, und sein Gericht verkündet; andererseits aber bezeugt sie einen besseren Zustand der Dinge in Gottes Gnade, der das, was jetzt in Trümmern liegt, beseitigen wird. Ich glaube, dass dies für alle Prophezeiungen gilt. Es gilt sogar für den Garten Eden.
Die Prophetie stellt immer einen Segen durch ein kommendes göttliches Gericht in Aussicht und hat damit einen ernsten Aspekt gegenüber dem Gewissen. Gott gibt die Erfüllung der Hoffnung auf etwas Besseres erst dann, wenn die gegenwärtigen, bereits moralisch erkannten Übel tatsächlich gerichtet werden. Es würde das, was Er bereits gegeben hat, herabsetzen, wenn Er ein System einführen würde, um etwas anderes zu verdrängen. Das Gericht muss also nicht nur in Worten, sondern in Taten und in der Wahrheit erfolgen. Und dieses Gericht ist im Alten Testament zunächst zeitlich – eine spürbare Verhängung von Schlägen über das Böse dieser Welt und besonders über sein eigenes schuldiges Volk. Wenn sich die Dinge zu noch größerem Übel entwickeln, wird ein teilweises gegenwärtiges Gericht als ein Vorgeschmack auf eine viel strengere Zurechtweisung, bis Gottes endgültiges Handeln mit seinem vollständigen, schonungslosen Gericht über die Welt kommt.
Aber wir sollten uns daran erinnern, dass wir in diesen Prophezeiungen, bevor unser Herr kam, nichts von einem Gericht vor dem großen weißen Thron lesen (Off 20). Es ist niemals das Gericht über die Seele und den Körper im auferstandenen Zustand. Mir sind keine alttestamentlichen Prophezeiungen bekannt, die das ewige Gericht des auferweckten und dem Feuersee übergebenen Menschen als den zweiten Tod einführen. Dies ist so charakteristisch für das Christentum, wie das Gericht über die Welt oder die lebenden Menschen auf der Erde (d. h. über die Nationen, Stämme und Sprachen); das ist das eigentliche Thema der alttestamentlichen Prophetie. Die Offenbarung des Johannes, die in ihren Themen ebenso eigenartig ist wie in ihrem Stil, umfasst Themen aus dem Alten und dem Neuen Testament und stellt in hebräisch-griechischer Ausdrucksweise beides in höchst angemessener Weise vor.
Daran erkennen wir, dass die traditionelle Lehre äußerst mangelhaft und doppelt irreführend ist, weil man versucht, in den neutestamentlichen Stand der Dinge bloße Vorsehungsgerichte hineinzubringen, so wie man auch den alttestamentlichen Vorhersagen ein ewiges Gericht aufpfropft. Die Folge ist, dass beide Testamente belastet werden und Verwirrung entsteht; denn der wahre Weg, die Bibel zu verstehen, besteht nicht darin, Dinge, die sich unterscheiden, miteinander zu vermischen, sondern die göttliche Offenbarung so zu akzeptieren, dass sie in jedem ihrer beiden verschiedenen Teile die Aufgabe erfüllt, für die Gott die Erweckten inspiriert hat, um seine Gedanken mitzuteilen.
Das Alte und das Neue Testament sind vollkommen harmonisch, und es gibt nicht eine Zeile oder ein Wort des einen, das dem anderen widerspricht; dennoch sie sind sehr weit davon entfernt, dasselbe zu sein oder dasselbe zu sagen. Gott gibt sich besondere Mühe, den Unterschied deutlich zu machen, indem Er jedes in einer anderen Sprache schreibt – die eine ist Hebräisch, das seine Grundlage in der Familie Abrahams nach dem Fleisch hat, das andere ist Griechisch, das benutzt wurde, als Gott das Evangelium zu den Heiden sandte. So war das Griechische ebenso ein Vertreter der heidnischen Themen, wie das Hebräische seine passende Entsprechung in Israel fand. Aber trotz alledem zeigt Gott seinen Geist in beiden. Nur ist das Unterscheidungsmerkmal des Alten Testaments seine Regierung, während die unterscheidende Wahrheit des Neuen Testaments seine Gnade ist.
Regierung und Gnade sind völlig unterschiedlich; denn Regierung ist immer ein Umgang mit dem Menschen, während Gnade die Offenbarung dessen ist, was Gott ist und tut. Folglich setzt das eine immer Gericht voraus, und das andere ist die volle Entfaltung der Barmherzigkeit und Güte. Beide finden ihren Mittelpunkt in Christus. Da Er der König ist, ist Er folglich auch das Haupt der Regierung. Da Er der Sohn Gottes ist, voller Gnade und Wahrheit, ist Er folglich der einzige Kanal für allen Segen, der dem Neuen Testament eigen ist. Seine Herrlichkeit, nun, da das mächtige Werk der Erlösung vollbracht ist, erklärt all unsere charakteristischen Vorrechte.