Die Not, von der der Prophet am Anfang dieses Kapitels spricht, ist nicht eine Sache, die lange nach den Konflikten liegt, die am Ende des vorhergehenden Kapitels beschrieben wurden, sondern, wie er selbst sagt, „in jener Zeit.“ Damit sind wir nun wirklich zu den letzten Ereignissen gekommen, wenn wir die abschließenden Ereignisse von Kapitel 11 betrachten, die Daniel uns vor Augen führt. Denn es ist schon oft bemerkt worden, dass Daniel nie auf das Reich der Herrlichkeit eingeht, sondern uns nur bis zu diesem Punkt bringt. Er zeigt uns die Ereignisse, die dazu führen werden: Es geht um die Ausführung des Gerichts, das dem Reich vorausgeht, ohne viele Einzelheiten zu erwähnen. Er weist zwar auf das Reich der Himmel hin, das die ganze Erde erfüllen soll, aber er beschreibt es nicht. Das „Volk der Heiligen des Höchsten“ (Dan 7,27), wie er die Juden nennt, wird das ganze Reich unter dem Himmel besitzen. Die Wahrheit ist, dass der Geist Gottes bereits durch andere die Herrschaft des Messias über Israel und die Glückseligkeit ihres Anteils am ausführlichsten dargelegt hatte; und Er stand im Begriff, dasselbe Thema durch andere nach der Gefangenschaft vorauszusagen. Und dieses Letzte war von Bedeutung. Denn Er wusste sehr wohl, dass viele annehmen würden, dass die Rückkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft die Erfüllung der Prophezeiung sei. Deshalb wurden in einigen der letzten Prophezeiungen große Anstrengungen unternommen, um zu zeigen, dass dies bei weitem nicht der Tatsache entsprach, und dass der Segen Israels noch in der Zukunft lag. Sie werden als in einem elenden Zustand befindlich beschrieben, nachdem sie aus Babylon zurückgekehrt sind; und der Geist Gottes führt in eine ferne Zukunft, in eine Zeit, in der Israel wirklich befreit und nach Gottes Gedanken gesegnet werden soll. Die vergangene Rückkehr war nur ein Unterpfand für die völlige Wiederherstellung, die Gott für sie vorgesehen hat. Aber Daniel geht nicht auf diese Zeit der Glückseligkeit ein. Er bringt sie bis zu diesem Zeitpunkt und schließt dann ab. Sein besonderer Gegenstand war „die Zeiten der Nationen“ (Lk 21,24). Das erklärt den bemerkenswerten Charakter seiner Prophezeiung. Er ist einfach ein Prophet der Gefangenschaft und ihres Endes.
In Kapitel 12 sehen wir, was in der Zeit zwischen dem Gericht über die Nationen und der Einführung der Juden in ihren Segen geschieht. Wir haben „den König“ und seine Bosheit im heiligen Land gesehen, und wir haben auch von den Königen aus dem Norden und dem Süden gehört. Was auch immer die vorübergehende Macht des großen Führers des Nordens gegen das heilige Land gewesen sein mag, so wird er doch „zu seinem Ende kommen, und niemand wird ihm helfen“. Das war sein klägliches Ende.
Aber jetzt kommt eine interessante Frage: Wie wird der Zustand Israels zu dieser Zeit sein? Die Antwort wird in diesen ersten Versen gegeben:
Und in jener Zeit wird Michael aufstehen, der große Fürst, der für die Kinder deines Volkes steht (12,1a).
Das war das Volk, um das es Daniel ging. Er hatte keine Vorstellung von dem, was wir heute Christen oder ein christliches Volk nennen. Er wusste nicht, dass eine Zeit kommen würde, die bereits im Ratschluss Gottes festgelegt war, in der es keinen Unterschied mehr zwischen Juden und Heiden geben würde und in der beide durch den Glauben an einen gekreuzigten Christus zu einem Leib gebildet würden, durch den Heiligen Geist, der vom Himmel herabgesandt wurde. All dies war Daniel unbekannt, und der Herr lässt ihn nicht einmal einen solchen Zustand vorausahnen. Keine einzige Prophezeiung im Buch Daniel, noch in irgendeinem anderen, offenbart es, obwohl viele bestimmte Einzelheiten andeuten, die jetzt in Ihm verwirklicht werden, wie wir in Römer 9 und 10 und dergleichen sehen. „Dein Volk“ bedeutet einfach und ausschließlich das jüdische Volk. Daniel war zurecht und sehr an ihnen interessiert, wie es ein wahrer Israelit Gottes sein sollte, der ein Empfinden für die mit seinem Volk verbundene Herrlichkeit Gottes hatte. Daher teilt ihm der Geist Gottes mit, dass es zu dieser Zeit einen Wendepunkt in der Geschichte Israels geben würde. Statt bloßer Vorsehung – Michael widersteht diesem oder jenem Fürsten – wird er für sie eintreten, sich ihrer Sache annehmen und ihre Widersacher endgültig niederwerfen; aber auch dann nicht ohne einen furchtbaren Kampf (Off 12,7-12). Ihre Verteidigung war seine gewohnte Aufgabe. Aber jetzt wird er aufstehen, um die großen irdischen Absichten Gottes in der Befreiung der Juden zu vollenden. und es wird eine Zeit der Drangsal sein, wie sie nicht gewesen ist, seitdem eine Nation besteht bis zu jener Zeit. Und in jener Zeit wird dein Volk errettet werden, jeder, der im Buch geschrieben gefunden wird (12,1b).
Da haben wir die wichtige Information, die dieses Aufstehen Michaels sofort von allen Zeiten unterscheidet, die je gewesen sind. So weit von einer Erlösung entfernt, war die Not, die über die Juden unter Titus hereinbrach, schrecklicher als die, die sie unter Nebukadnezar getroffen hatte. Was folgt daraus? Dass diese Zeit der Not noch kommen wird. Der Geist Gottes beschreibt hier das, was, da es in der Vergangenheit keine Entsprechung gab, in der Zukunft erwartet werden muss. Und in der Tat müssen wir nur auf Jerusalem und den gegenwärtigen Zustand der Juden schauen, um zu sehen, dass dies so ist. Sind sie erlöst? Im Gegenteil, es gibt kein Land unter der Sonne, das nicht auf die eine oder andere Weise bezeugt, dass sie gedemütigt sind und nicht mehr im Land ihrer Herrlichkeit leben, auf dem die Augen des Herrn ständig ruhen. Aber ihr Elend soll dem, der Ohren hat zu hören, sagen, dass Jerusalem noch der Thron des Herrn genannt werden muss; und alle Nationen werden zu ihm versammelt werden, zu dem Namen des Herrn, zu Jerusalem. Wenn die Heiden nicht mehr nach dem Starrsinn ihres bösen Herzens wandeln werden, und das Haus Juda mit dem Haus Israel wandeln wird, beide sesshaft und vereint in Frieden und Liebe in dem Land, das ihren Vätern von Gott zum Erbe gegeben wurde.
Es gibt solche, die das, wovon hier gesprochen wird, für die Zukunft halten, die aber sagen, dass es geistlich verstanden werden muss und auf die Versammlung oder das Volk Gottes jetzt ausgelegt werden muss. Aber erstens ist es genug, um zu antworten, dass wir eine lange Prophezeiung hatten, die vom Engel an Daniel mit der positiven Ankündigung eingeleitet wurde, dass es das war, was seinem Volk in den letzten Tagen widerfahren sollte. Das schließt solche Vorstellungen aus. Beachte als Nächstes, dass in der gesamten Prophezeiung bis zu diesem Zeitpunkt nur von Juden als denen, an denen Gott Interesse hat, gesprochen wird. Es ging um das heilige Land und die Konflikte im Norden und Süden um dieses Land. Unter dem Christentum gibt es so etwas wie ein heiliges Land nicht. Es ist bloßes Judentum oder Heidentum, einen Ort als heiliger zu betrachten als einen anderen, jetzt, wo das volle Licht des Christentums scheint. Aber wenn es ein Land gibt, das in Gottes Absicht herrlich ist, dann ist es das Land Israel. Nur verliert es diesen Charakter während der heidnischen Berufung. Es gibt jetzt die Offenbarung der himmlischen Dinge – nicht der irdischen. Und deshalb ist das, was vorher aus rein irdischer Sicht heilig war, für die Gegenwart vergangen und wird von etwas Hellerem überstrahlt. Gott hat jetzt andere Pläne im Blick. Das alte Volk hat sich als falsch und unheilig erwiesen, als es seinen eigenen Messias ablehnte. Und bis sie als Nation zu Jesus gebracht werden, oder, in den Worten der Offenbarung, „die die Gebote Gottes halten und das Zeugnis Jesu haben“ (12,17) – bis ein Überrest eine Art göttliche Erkenntnis von Christus bekommen hat, wird Gott sie nicht besitzen. In der Zwischenzeit hat Er sich einem anderen Werk zugewandt, nämlich der Bildung der Versammlung, von der hier nicht die Rede ist. Es ist eine gesegnete Wahrheit, dass Gott sich in reicher Barmherzigkeit den Heiden zugewandt hat; aber was für ein Trost wäre das für das, was so schwer auf dem Herzen des Propheten lag? Wohingegen alles passend und klar ist, wenn wir sehen, dass sein eigenes Volk beschrieben wird, und ihr Erleben der schrecklichen Szene, von der hier gesprochen wird, der Vorabend ihrer Befreiung, und dies von Gott. „... und es wird eine Zeit der Drangsal sein, wie sie nicht gewesen ist, seitdem eine Nation besteht bis zu jener Zeit. Und in jener Zeit wird dein Volk errettet werden“ (V. 1).
Ich will zeigen, dass dies nicht nur das Zeugnis eines einzigen heiligen Schriftstellers ist, sondern von mehreren. Nehmen wir den leidenden Propheten Jeremia. In Jeremia 30 haben wir einen klaren Hinweis auf die große Drangsal Jakobs, auf die seine mächtige Befreiung folgt. „Und dies sind die Worte, die der Herr über Israel und über Juda geredet hat“ (Jer 30,4). Wer wird die Bedeutung dieser Worte bestreiten? „Denn so spricht der Herr: Eine Stimme des Schreckens haben wir gehört; da ist Furcht und kein Frieden. Fragt doch und seht, ob ein Mann gebiert! Warum sehe ich die Hände eines jeden Mannes auf seinen Lenden, einer Gebärenden gleich, und jedes Angesicht in Blässe verwandelt?“ (V. 5.6). Es ist ein Zustand jenseits von allem, was normalerweise vernünftig ist. Die Menschen sind von größtem Kummer erfüllt, der sich sogar in ihren Gesichtern zeigt, und ihr Mut ist angesichts der furchtbaren Not verschwunden.
Vers 7 erklärt das: „Wehe, denn groß ist jener Tag, ohnegleichen“. Wie bei Daniel ist es eine noch nie dagewesene Zeit. „... und es ist eine Zeit der Drangsal für Jakob! Doch er wird aus ihr gerettet werden.“ Jakob, „der Wurm Jakob“, ist der Name, der für das Volk verwendet wird, das in seiner Schwäche betrachtet wird, so wie Israel (Kämpfer Gottes) der Name der Macht ist. Es ist die Zeit der Drangsal Jakobs, aber er wird daraus gerettet werden. Bis hierher ist es derselbe Gedankengang, im Sinn des Geistes, wie wir ihn in Daniel haben. Es geht um Israel und Juda, die mit dem Namen genannt werden, der ihre Schwäche zum Ausdruck bringt, dass sie jeder Art von Unheil von außen ausgesetzt sind. Es ist ein Tag der unvergleichlichen Not, und das Israel dieses Tages soll daraus befreit werden.
Wenn ich Jesaja durchgehen würde, könnte ich vom Anfang bis zum Ende des Buches dasselbe zeigen, nur noch weit ausgedehnter. Ich brauche nicht auf so bekannte Stellen einzugehen wie Kapitel 1; 2; 10; 14; 17; 22; 24–35; 49–66.
Vielleicht fragt jemand, ob es etwas aus dem Neuen Testament anzuführen gibt. Ich habe Stellen aus dem Alten Testament genannt. Darf ich etwas aus dem Neuen Testament anführen, das das vermehrte und volle Licht Gottes durch seinen geliebten Sohn zeigt? Es könnte der Gedanke aufkommen, und das ist in der Tat der Fall, dass das Christentum die Juden ganz und gar beiseitesetzt, nicht nur während der gegenwärtigen Haushaltung, sondern für immer; so dass wir „das Volk“ nur als das Vorbild derer lesen sollen, die Gott jetzt zu seinem Lob formt. Unser Herr selbst entscheidet diese Frage in Matthäus 24. Er zeigt uns, dass es eine Bestimmung Israels gibt, die Daniel uns vor Augen stellt und die auf kein anderes Volk unter der Sonne anzuwenden ist. Es ist ihr eigenes Teil, sowohl in seinen Leiden als auch in seinen Befreiungen. Die Jünger hatten gesagt: „Sage uns, wann wird das sein, und was ist das Zeichen deiner Ankunft und der Vollendung des Zeitalters?“ (Mt 24,3). Beachten wir hier, dass das Ende „des Zeitalters“ die einzig richtige Bedeutung ist. Es bezieht sich nicht auf die letzte Katastrophe der Welt als materielles System, sondern auf eine bestimmte Haushaltung, die in der Welt endet, wovon der Begriff Äon völlig verschieden ist. Der Herr warnt sie vor Verführung. Personen würden auftreten, die vorgeben, Christus zu sein. Es würde äußere Unruhen geben. Sein Zeugnis würde den gewöhnlichen Verlauf der menschlichen Angelegenheiten in keiner Weise ändern, denn Nation würde sich gegen Nation und Königreich gegen Königreich sich erheben. Und was den physischen Zustand der Welt betrifft, würde es Hungersnöte und Seuchen und Erdbeben geben.
Er bereitet sie dort nur auf eine kommende furchtbare Krise vor. „Dies alles aber ist der Anfang der Wehen. Dann werden sie euch der Drangsal überliefern und euch töten; und ihr werdet von allen Nationen gehasst werden um meines Namens willen“ (Mt 24,9). Bis Vers 14 haben wir allgemeine Aussagen. Dann grenzt Er die Szene sofort auf Jerusalem und das Land Judäa ein. Er fährt nicht mit der Schilderung fort, dass das Evangelium vom Reich die ganze Welt erreicht, sondern richtet seinen Blick auf diesen Streifen Erde, wo Gottes Volk wohnte, und auf die Stadt, in deren Nähe er dann eben diese Prophezeiung aussprach. „Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung, von dem durch Daniel, den Propheten, geredet ist, stehen seht an heiligem Ort – wer es liest, beachte es – und so weiter“ (V. 15). Hier haben wir die positive Anweisung, genau das Buch zu betrachten, das wir gerade untersuchen. Der Herr sprach in diesem Teil seiner Rede über die gleichen Dinge, die Daniel in seiner Prophezeiung vorausgesagt hatte. „... dann sollen die, die in Judäa sind, in die Berge fliehen“ (V. 16).
Ich frage: Kann es eine Frage über die Bedeutung dieser Verse geben? Zweifelt jemand daran, was der heilige Ort bedeutet? Wird es jemals in einem anderen Sinn als dem des Heiligtums Gottes in Jerusalem verwendet? Der heilige Ort, als ein Ort auf der Erde, ist in der Heiligen Schrift immer das jüdische Zentrum für die Anbetung Gottes. „Der Gräuel der Verwüstung“ bedeutet ein Götzenbild, das Verwüstung über die Juden bringen würde. Wenn also dieses, von dem der Prophet Daniel gesprochen hat, im Tempel steht, sollen die, die auf Christus hören, fliehen. Es steht hier kein Wort über Heiden – kein Hinweis auf die Versammlung Gottes als solche. Gottesfürchtige Menschen, die Juden in ihrer eigenen Stadt, werden gewarnt, wenn sie dieses Götzenbild sehen, auf die Berge von Judäa in der Umgebung zu fliehen. „Wehe aber den Schwangeren und den Stillenden in jenen Tagen! Betet aber, dass eure Flucht nicht im Winter stattfinde noch am Sabbat“ (Mt 24,19.20). Es handelt sich keineswegs um ein christliches, sondern um ein jüdisches Ereignis. Der Tag des Herrn ist der Tag, den die Christen beachten. Er ist das große Symbol unserer Anerkennung des auferstandenen Christus und unseres Segens in Ihm; aber der Sabbat war ein Zeichen zwischen Gott und Israel.
Der Herr sagt weiter: „denn dann wird große Drangsal sein, wie sie seit Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nicht wieder sein wird“ (V. 21). Viele, wie ich weiß, beziehen dies auf die Zerstörung Jerusalems durch Titus und auf das große Unglück, das die Juden damals zerriss. Aber es gibt einen wesentlichen Punkt des Unterschieds, der nicht übersehen werden sollte. Das jüdische Volk wurde damals nicht befreit. Wenn aber Daniels Prophezeiung erfüllt ist, sind sie erlöst und müssen es sein – nicht zu einer späteren Zeit, sondern zu diesem Zeitpunkt. Wenn Daniel ein wahrer Prophet ist (und niemand, der den Herrn ehrt und seine Worte richtig abwägt, wird das in Frage stellen), dann ist es nicht so, dass seine Prophezeiung falsch ist, sondern dass sie noch erfüllt werden muss. Unser Herr zitiert deutlich und positiv aus dieser Prophezeiung, und zwar aus genau dem Kapitel (Dan 12), das wir betrachten.
Und was verbindet Er mit Israels Befreiung? Sein eigenes Kommen als der Sohn des Menschen vom Himmel. Wer kann sagen, dass dies geschehen ist? Zur Zeit des Titus wurden die Römer nicht niedergerungen, sondern sie versklavten die Juden vielmehr. Weder wurden diese damals befreit, noch sind sie bis zum jetzigen Zeitpunkt jemals die Herren ihres eigenen Tempels gewesen, noch wurde ihnen erlaubt, in ihrem eigenen Land zu sein, sogar nicht als normale Menschen. Wenn es eine Rasse gibt, die im heiligen Land geächtet ist, dann sind es die Juden. Die Türken, die gegenwärtigen Besitzer des Landes, besitzen es seit vielen Jahren; und alle, ob Kreuzfahrer oder Sarazenen, haben sich darauf geeinigt, die Juden auszuschließen. So hat es nichts in der Art gegeben, dass der Sohn des Menschen gekommen wäre, um Israel zu befreien. Michael ist noch nicht in diesem Sinne für sie aufgestanden.
Was ich also aus dem Alten Testament gezeigt habe, wird durch das Neue reichlich bestätigt. Propheten nach Propheten liefern alle deutlich denselben Umriss, nämlich eine Zeit der Drangsal, wie es sie noch nie gegeben hat, unmittelbar gefolgt von einer Befreiung, wie sie Israel ebenfalls noch nie erlebt hat. Es ist völlig klar, wie wir alle glauben, dass diese Prophezeiungen von Gott sind, dass es nur darum geht, auf Gottes Zeit zu warten, wenn Er sie buchstabengetreu erfüllt. Wie unser Herr in demselben Kapitel Matthäus 24 sagt: „Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen“ (V. 35). Es ist nicht nur so, dass der allgemeine Satz wahr ist, sondern kein Jota und kein Strichlein wird vergehen, bis alles erfüllt ist. Die Vorstellung, dass Gott sein Volk Israel verstoßen hat, weil Er jetzt in seiner Barmherzigkeit die leere Zeit ihrer Verwerfung des Herrn Jesus und des Evangeliums ausfüllt, wird in Römer 11 deutlich als Auswuchs heidnischer Einbildung behandelt. Denn Gott ist nicht nur in der Lage, die natürlichen Zweige in ihren eigenen Ölbaum einzupfropfen, sondern wenn die Vollzahl der Nationen eingegangen ist, wird ganz Israel gemäß der klaren Prophezeiung gerettet werden. Sie sollen am Ende Gegenstände der göttlichen rettenden Barmherzigkeit werden, wie wir jetzt; nur wird es in ihrem Fall in ihrem Land sein. „Aus Zion wird der Erretter kommen“ (Röm 11,26; Jes 59,20.21).
Wenn das so ist, haben wir einen wichtigen Schlüssel zu der Prophezeiung Daniels. Obwohl die Zerstörung Jerusalems durch die Römer so nahe war, blickt der Herr doch deutlich auf eine andere Zeit. Und was es noch bemerkenswerter macht: Ein Evangelist nennt uns zwar die Zerstörung Jerusalems durch die Römer, unterscheidet sie aber auch von dieser zukünftigen Zeit der Drangsal. In Lukas 21 findet sich der wichtigste positive Hinweis prophetischer Art auf die Zerstörung Jerusalems durch die Römer. Und beachte den Unterschied in der Sprache: „Wenn ihr aber Jerusalem von Heerlagern umzingelt seht“ (Lk 21,20). Kein Wort über den Gräuel der Verwüstung, der an heiliger Stätte steht. Lukas übergeht das völlig und führt ein, was Matthäus nicht erwähnt – Jerusalem von Heerlagern umzingelt. „Wenn ihr aber Jerusalem von Heerlagern umzingelt seht, dann erkennt, dass ihre Verwüstung nahegekommen ist. Dann sollen die, die in Judäa sind, in die Berge fliehen, und die, die in ihrer Mitte sind, sollen hinausziehen“ (Lk 21,20.21a). Das bedeutet, dass der Herr den Juden in Jerusalem genau dasselbe Verhalten vorschreibt, sei es bei der bevorstehenden Plünderung der Stadt durch die Römer (wie bei Lukas), sei es bei der zukünftigen Verwüstung, die über sie hereinbrechen würde (wie bei Matthäus). Insofern gab es eine Analogie zwischen den beiden Dingen: Die Frommen sollten fliehen; sie sollten nicht auf eitle Hoffnungen der Erlösung durch einen angeblichen Messias vertrauen, sondern sollten aus dem Mund des Herrn selbst wissen, dass Jerusalem unter die Hand der Heiden fallen würde. Wenn jemand entkommen wollte, musste er außerhalb Jerusalems sein. „... und die, die auf dem Land sind, sollen nicht in sie hineingehen“ (V. 21b). Ganz gleich, was die Leute über die Notwendigkeit sagen, dass irgendjemand ihr Fest halten muss, ihr Weg der Sicherheit ist, Jerusalem zu meiden. Es gibt noch keine Erlösung für Israel. „Denn dies sind Tage der Rache, damit alles erfüllt werde, was geschrieben steht“ (V. 23).
Lukas sagt nicht: Dies ist die Zeit der Drangsal, wie sie seit Anfang der Welt nicht gewesen ist. Das ist die erstaunlichste Vollkommenheit des Ausdrucks. Lukas greift zuerst die Zerstörung Jerusalems durch Titus auf, und Matthäus beschreibt die letzte Belagerung, bevor die Juden befreit werden. In Lukas 21 heißt es: „Denn dies sind Tage der Rache, damit alles erfüllt werde, was geschrieben steht. Wehe den Schwangeren und den Stillenden in jenen Tagen! Denn große Not wird in dem Land sein und Zorn über dieses Volk. Und sie werden fallen durch die Schärfe des Schwertes und gefangen weggeführt werden unter alle Nationen; und Jerusalem wird von den Nationen zertreten werden, bis die Zeiten der Nationen erfüllt sind“ (V. 22‒24). Dies war also nicht die Zeit der Drangsal Jakobs, in der er erlöst werden sollte. Zu der Zeit, von der Lukas spricht, wurden sie nicht erlöst, sondern erlebten sie nur die Not der Gefangenschaft, nach der Not des Krieges. „Jerusalem wird von den Heiden zertreten werden, bis die Zeiten der Nationen erfüllt sind“ (V. 24). Das erfüllt sich in der jetzigen Zeit. „Die Zeiten der Nationen“ dauern noch an. Die Nationen üben bis jetzt immer noch die Herrschaft aus. Die Juden haben kein Land und keine Stadt auf der Erde, die sie ihren Besitz nennen können. Wer hat ihre Stadt und ihr Land? Die Heiden. „Die Zeiten der Nationen“ sind noch nicht abgelaufen. „Jerusalem wird von den Nationen zertreten werden, bis die Zeiten der Nationen erfüllt sind“ (V. 24). Sie sind seine Herren, und als solche werden sie es zertreten, bis die zugeteilten Zeiten erfüllt sind – nicht für immer. Nirgends wird gesagt, dass dies bis zum Ende der Zeit andauern soll. Im Gegenteil, die heidnische Herrschaft über die Juden ist bald zu Ende. Das finden wir im nächsten Vers.
Wir haben bereits eine sehr regelmäßige, geordnete Darstellung der Schwierigkeiten gesehen, die Jerusalem heimsuchen werden. Und die Zeiten der Nationen sind seit den Tagen des Titus bis zum jetzigen Zeitpunkt weitergegangen. Aber in Vers 25 beginnt die Schlussszene, die das Einzige ist, was in Matthäus 24 ab Vers 15 erwähnt wird – und zwar wegen der Frage der Jünger: „und was ist das Zeichen deiner Ankunft und der Vollendung des Zeitalters?“ Bei Lukas aber fragen sie einfach: „und was ist das Zeichen, wann dieses [d. h. die Zerstörung des Tempels] geschehen soll?“ (V. 7). Daher spricht der Herr zu ihnen über das Heraufkommen der Römer; und dann geht Er weiter, den heidnischen Strom der Zeit hinunter, bis zum Ende. Aber Matthäus beschränkt sich auf das Ende als Antwort auf die Frage, die er aufzeichnet. Das ist der einfache Grund, und nichts kann schöner sein als die Art und Weise, in der die Wahrheit vorgestellt wird. Danach haben wir bei Lukas die großen Ereignisse, wenn die „Zeiten der Nationen“ enden. „Und es werden Zeichen sein an Sonne und Mond und Sternen, und auf der Erde Bedrängnis der Nationen in Ratlosigkeit bei dem Tosen und Wogen des Meeres; indem die Menschen vergehen vor Furcht und Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen, denn die Kräfte der Himmel werden erschüttert werden. Und dann werden sie den Sohn des Menschen kommen sehen in einer Wolke mit Macht und großer Herrlichkeit“ (V. 25‒27). All dies wird von der früheren Belagerung unterschieden.
Diejenigen, die Matthäus 24 bildlich auf die Zerstörung Jerusalems durch Titus anwenden, sind gezwungen, das Kommen des Sohnes des Menschen vom Himmel als ein bloßes Bild darzustellen, das das Handeln Gottes in seiner Vorsehung durch Titus zur Niederwerfung der Juden darstellt. Aber Lukas 21 widerlegt diese Vorstellung vollständig. Denn hier zeigt der Geist Gottes, dass Jerusalem erobert wurde und die Zeiten der Nationen fortbestehen: Wenn sie zu Ende gehen, kommt der Sohn des Menschen in den Wolken des Himmels mit Macht und großer Herrlichkeit – Hunderte von Jahren nach Titus. Die Schlussszene wird als Abschluss oder Folge der Zeiten der Nationen vorgestellt.
Aber da ist noch mehr. „Wenn aber diese Dinge anfangen zu geschehen, so blickt auf und hebt eure Häupter empor, weil eure Erlösung naht“ (V. 28). Und dann, ein wenig weiter finden wir diesen bemerkenswerten Ausdruck: „Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis alles geschehen ist“ (V. 32). Es ist ein falscher Gebrauch dieses Begriffs, der zu einem großen Teil der Verwirrung zu diesem Thema geführt hat. Wann kommt die Formulierung „dieses Geschlecht“ ins Spiel? Nachdem der Menschensohn bereits in Macht und Herrlichkeit gekommen ist – nicht, als sie Jerusalem von Heerlagern umzingelt sahen. Das ist ein wichtiger Punkt, der bei der Bestimmung der wahren Bedeutung hilft. Wenn „dieses Geschlecht“ wirklich die Lebenszeit eines Menschen bedeuten würde, wäre eine solche Stelle in der Prophezeiung unpassend. Die allgemeine Vorstellung mag vernünftig gewesen sein, wenn der Satz unmittelbar bei der Einnahme Jerusalems durch Armeen gesagt wäre. Aber er hat keinen Sinn, wenn er nach der Vollendung der „Zeiten der Nationen“ eingefügt wird. So dass „dieses Geschlecht“, wenn es zeitlich gesehen wird, eindeutig einen Bereich von mindestens achtzehn Jahrhunderten umfassen muss.
Was ist dann seine wahre Bedeutung? Es bedeutet – was sehr oft in der Schrift der Fall ist – dieses Christus ablehnende Geschlecht Israels, und nicht eine bloße Zeitspanne. Es wird in einem moralischen Sinn verwendet, um einen Volksstamm zu beschreiben, der nach einer bestimmten Art und Weise handelt, gut oder böse. Mose sagt, indem er dem Volk Vorwürfe macht: „Es hat sich gegen ihn verdorben – nicht seine Kinder, sondern ihr Schandfleck – ein verkehrtes und verdrehtes Geschlecht ... Ich will mein Angesicht vor ihnen verbergen, will sehen, was ihr Ende sein wird; denn ein Geschlecht voll Verkehrtheit sind sie, Kinder, in denen keine Treue ist“ (5Mo 32,5.20). Hier ist ganz klar ihr moralischer Zustand als Volk gemeint und nicht die Zeit, in der sich dieser gezeigt hat.
In den Psalmen haben wir einen weiteren Schlüssel zur richtigen Bedeutung. So heißt es in Psalm 12,8: „Du, Herr, wirst sie bewahren, wirst sie behüten vor diesem Geschlecht bis in Ewigkeit.“ Wenn mit „Geschlecht“ lediglich ein Zeitraum von dreißig oder vierzig Jahren gemeint wäre, welchen Sinn hätten dann die Worte „für immer“? Dies bezieht sich keineswegs auf eine Zeitspanne von einigen Jahren, sondern auf den moralischen Zustand eines Volkes, und zwar des Volkes Israel. In ähnlicher Weise ist die Aussagekraft der Worte bei Lukas ganz klar. „Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis alles geschehen ist“ (V. 32). Das Volk Israels, die immer noch im Unglauben und in der Verwerfung von Christus fortbesteht, ist das, was der Herr meint. Er sagt sozusagen: Ich will euch auf die schreckliche Wahrheit vorbereiten, dass dieses Christus verwerfende Geschlecht fortbestehen wird, bis alles erfüllt ist. Wie hätte man ohne die Prophezeiung ein solches Ereignis vorhersehen können? Denn man hätte annehmen können, dass das Christentum, während es sich über die ganze Erde erstreckte und überall Eroberungen machte, wenn eine Nation mehr als eine andere unter die Macht Christi gebracht werden sollte, es Israel sein musste, das um der Väter willen geliebt wurde. Aber nein. Die Juden sollen in demselben Unglauben fortfahren. Es mag eine Reihe von Gläubigen unter ihnen geben, aber das böse Geschlecht, das Christus damals verwarf, wird nicht vergehen, bis alles erfüllt ist. Und was wird dann folgen? So wie es in den Psalmen heißt: „das künftige Geschlecht“. Israel wird wiedergeboren werden – es wird ihm ein neues Herz gegeben werden. Dann werden sie das Volk sein, das den Herrn preisen wird.
Dies, so muss ich hinzufügen, stimmt völlig mit dem Rest der Schrift überein. Denn der Herr hatte unter dem Bild eines unfruchtbaren Feigenbaums das damalige Israel beschrieben. Über diesen Baum sprach er folglich einen Fluch aus. Wenn es in einem der Evangelien heißt, die Zeit der Feigen sei noch nicht gekommen, so bedeutet das, dass die Zeit ihrer Reife oder ihrer Wiederherstellung noch nicht gekommen war. Folglich konnten die Feigen nicht vom Baum gepflückt werden. Hätte er welche getragen, hätten sie da sein müssen. Nur als die Feigen noch unreif waren, kam unser Herr, um Früchte zu suchen; aber es waren keine da. Es gab reichlich Bekenntnis – Blätter, aber keine Frucht. Deshalb sagte Er: „Nie mehr komme Frucht von dir in Ewigkeit!“ (Mt 21,19). Das ist, in Zahlen ausgedrückt, „dieses Geschlecht“. Aber wie ist das damit zu vereinbaren, dass Israel im Lauf der Zeit den Herrn loben wird? Israel muss wiedergeboren werden. „Dieses Geschlecht“ wird niemals Frucht für den Herrn bringen. Es wird unter dem Gericht Gottes vernichtet werden; und ein neues Geschlecht wird geboren werden. Das Beispiel der Vergangenheit macht Platz für ein eindrucksvolles Bild der Zukunft.
Aus diesen Prophezeiungen, die wir betrachtet haben, zwei aus dem Alten und zwei aus dem Neuen Testament, geht klar hervor, dass die Zeit der Drangsal, von der Daniel spricht, völlig in der Zukunft liegt; und dass Lukas ausdrücklich die Zeit der großen Drangsal, die kurz bevorstand und die in der Tat über Jerusalem hereingebrochen ist, sich von einer abschließenden Zeit weitaus intensiverer Drangsal unterscheidet, die noch kommen wird. Wir kehren nun zu Daniel zurück, mit dem klaren Licht anderer Schriften aus beiden Testamenten, die zeigen, dass Gottes Wort eindeutig und präzise ist, dass Israel durch ein unerhörtes Meer von Schwierigkeiten gehen muss, aus dem es aber erlöst werden wird. Es ist in der Tat der Vorläufer ihrer großen Rettung durch Gott.