Behandelter Abschnitt Dan 2,1-13
Bevor ich auf mein jetziges Thema eingehe, möchte ich die Aufmerksamkeit auf einen offensichtlichen Beweis richten, dass Kapitel 1 einen vorbereitenden Charakter hat. Der letzte Vers des Kapitels informiert uns darüber, dass Daniel „bis zum ersten Jahr des Königs Kores“ blieb (Dan 1,21). Es ist nicht nur ein Bericht über bestimmte Umstände, bevor wir in die verschiedenen Offenbarungen oder Tatsachen eingeführt werden, die nacheinander im Buch gegeben werden; sondern wir haben die Vorbereitung für den Platz, den Daniel einnehmen sollte. Und dann werden wir sozusagen bis zum Ende weitergeführt. Das Bleiben Daniels wird durch die gesamte Dauer der babylonischen Monarchie und sogar bis zum Beginn der persischen gezeigt. Es ist nicht gemeint, dass Daniel nur bis zum ersten Jahr des Königs Kores lebte; denn der letzte Teil des Buches zeigt uns eine Vision nach diesem Datum. Es wird einfach gesagt, dass er am Anfang einer neuen Dynastie lebte. Und es wird sich zeigen, dass das Ende des letzten Kapitels ein ebenso passender Abschluss des Buches ist; als solcher entspricht es dem ersten Kapitel als Vorwort.
Doch bevor ich weitergehe, möchte ich eine allgemeine Bemerkung machen. Das Buch gliedert sich in zwei fast gleich große Teile oder Abschnitte. Erstens in den Teil, der sich auf die großen heidnischen Mächte und die Merkmale bezieht, die ihr äußeres Verhalten kennzeichnen, und schließlich in den Teil, der sich auf das Gericht über all das bezieht. Dies wird bis zum Ende von Kapitel 6 fortgesetzt. Dann, von Kapitel 7 bis zum Schluss haben wir nicht die äußere Geschichte der vier heidnischen Reiche, sondern das, was für das Volk Gottes von besonderem Interesse ist. Dies wurde offensichtlich durch den Umstand angezeigt, dass der erste Teil des Buches nicht aus Visionen besteht, die Daniel sah; denn die einzige Vision, die richtig so genannt wird, sah Nebukadnezar. Es gibt eine in Kapitel 2, und dann eine andere mit einem anderen Charakter in Kapitel 4. Die Kapitel 3 und 5 und 6 sind Tatsachen, die mit dem moralischen Zustand der ersten beiden Monarchien zu tun haben, aber überhaupt nichts, was Daniel in erster Linie bekanntgemacht wurde, oder Visionen, die der Prophet selbst gesehen hat; während der letzte Teil des Buches ausschließlich mit Mitteilungen an den Propheten selbst beschäftigt ist. Und dort finden wir nicht nur das, was dem natürlichen Verstand auffallen sollte, sondern die Geheimnisse Gottes, die sein Volk besonders betreffen und interessieren, und daher auch Einzelheiten. Der äußere Beweis dafür ist, dass Kapitel 6, das das abschließt, was ich den ersten Teil von Daniel genannt habe, uns wieder zum Schluss bringt. „Und dieser Daniel hatte Gelingen unter der Regierung des Darius und unter der Regierung Kores’, des Persers“ (6,29). Das ist bemerkenswert, denn das nächste Kapitel 7 geht wieder zurück zu Belsazar: „Im ersten Jahr Belsazars, des Königs von Babel, sah Daniel einen Traum und Gesichte seines Hauptes“ und so weiter (V. 1).
Das war lange vor Kores, dem Perser. Dann in Kapitel 8,1: „Im dritten Jahr der Regierung des Königs Belsazar“. Und in Kapitel 9,1: „Im ersten Jahr des Dariusʼ, des Sohnes des Ahasverosʼ.“ So weit ist alles regulär. Als Nächstes kommen wir zu Kapitel 10–12. „Im dritten Jahr Kores’, des Königs von Persien, wurde Daniel, der Beltsazar genannt wird, eine Sache offenbart“ und so weiter. Der erste Teil (Dan 1-6) bringt uns in allgemeiner Weise zum Schluss, und der zweite (Dan 7-12) in gleicher Ordnung; geteilt, nicht bloß in dieser äußerlichen Weise, sondern mit dem schon erläuterten moralischen Unterschied, das heißt dem einen äußerlich und dem anderen innerlich. Dass dies im Wort Gottes nichts Ungewöhnliches ist, weiß der Leser aus Matthäus 13. Dort haben wir eine geordnete Darstellung des Reiches der Himmel mit bestimmten Gleichnissen – das erste davon ist ein einleitendes Gleichnis. Nimmt man nun die anderen sechs Gleichnisse (denn es sind insgesamt genau 7), so hat man eine Aufteilung in zwei Dreiergruppen, von denen sich das erste auf die äußere Seite des Reiches bezieht und das letzte auf mehr innere und verborgene Beziehungen.
Dies entspricht genau dem, was wir in Daniel haben. Zuerst geht die äußere Geschichte zu Ende, und dann folgt die innere, oder das, was von besonderem Interesse für die war, die Verständnis für die Wege Gottes hatten. Dies reicht aus, um zu zeigen, dass das Buch von jener göttlichen Methode geprägt ist, die wir im Wort Gottes erwarten sollten. Es gibt einen tiefgründigen Plan, der sich durch die Werke Gottes zieht, und ganz besonders durch sein Wort. Der Finger Gottes selbst ist in der Tat offensichtlich auf dem, was Er gemacht hat; doch der Tod ist hineingekommen, und das Geschöpf ist der Eitelkeit unterworfen. Daher hören wir das Seufzen der niederen Schöpfung; und je höher man auf der Skala des tierischen Lebens steigt, desto intensiver ist das Elend. Der Mensch ist sich der Erbärmlichkeit, die seine eigene Sünde über die Welt und über die Schöpfung, deren Herr er ist, gebracht hat, bewusster und fähiger zu fühlen. Aber im Wort Gottes, obwohl es Ausrutscher und Irrtümer von Schriftgelehrten geben mag, sind sie zum größten Teil nur Flecken. Sie mögen sein volles Licht verdunkeln; aber sie sind unbedeutend im Vergleich zu der offensichtlichen Helligkeit dessen, was Gott gibt, selbst durch die unvollkommenste Version. Wenn wir durch die Hände von Menschen gehen, entdecken wir mehr oder weniger von der Schwäche, die dem irdenen Gefäß anhaftet; aber durch die große Barmherzigkeit Gottes gibt es reichlich Licht für jeden ehrlichen Menschen.
Aber wenn wir uns dieser ersten großen Begebenheit zuwenden, haben wir das völlige Versagen der Weisheit der Welt. Am Hof in Babylon wurde ungewöhnlich viel Wert darauf gelegt, dass die Menschen in aller Weisheit und Erkenntnis geschult wurden. Nun war die Zeit gekommen, in der dies auf die Probe gestellt werden sollte. Während der große heidnische König auf seinem Bett meditierte, gefiel es Gott, ihm eine Vision der zukünftigen Weltgeschichte zu geben: Einerseits befriedigte er seinen Wunsch, den weiteren Verlauf der Welt offen zu sehen, andererseits wurde ihm die völlige Ohnmacht aller menschlichen Mittel vor Augen geführt. Es war Gottes Gelegenheit, seine eigene Macht zu zeigen, und die vollkommene Weisheit, zu deren Kanal sogar ein armer Gefangener gemacht wurde. Dies ist ein deutliches Beispiel für Gottes Wege. Hier waren diese Juden; und der stolze König hätte annehmen können, dass, wenn Gott für sie war, sie unmöglich unter seine Hand hätten kommen können. Aber wenn Gottes Volk schuldig ist, gibt es keines, dessen Fehler Er so sehr aufdeckt. Woher wissen wir das Unrecht, das Abraham oder David getan haben? Nur von Gott. Er liebt sein Volk zu sehr, um seine Fehler zu verbergen. Es ist ein Teil seiner moralischen Regierung, dass Er der allerletzte ist, der einen Schleier über das legt oder zulässt, was Ihm missfällt, selbst bei denen, die Er am meisten liebt. Nehmen wir eine gut geführte Familie. Ist es die Art der Liebe, den Fehler des Kindes zu überdecken, wenn das Kind ihn fühlen sollte? – es muss ihn vielmehr fühlen, wenn es glücklich sein will. So ist es mit Gottes Volk. Israel hatte Ihn verlassen – hatte ihre Beziehung zu Ihm verleugnet; und Gott zeigt, dass Er ihre Sünde empfand, und dass sie sie auch empfinden mussten. Er verleugnete sie eine Zeit lang als sein Volk – fegte sie aus dem Land, in das Er sie gepflanzt hatte; und nun waren sie die Sklaven der Heiden.
Aber im Gegenzug muss ihr Eroberer gelehrt werden, dass schließlich der Geist – das Herz Gottes – mit den armen Gefangenen war. Die Macht Gottes mochte eine Zeit lang bei den Heiden sein, aber die Zuneigung Gottes und sein Geheimnis waren bei den Seinen, selbst in der Stunde ihrer Erniedrigung.
Die Umstände, durch die dies zum Vorschein kam, veranschaulichen eindrucksvoll die Wege Gottes. Der König träumt einen Traum: Er vergisst die Sache. Er beruft seine Weisen und fordert sie auf, den Traum und seine Deutung bekanntzumachen. Aber alles ist vergeblich. Sie sind selbst so betroffen von der Unvernunft der Forderung, dass sie sagen: „es gibt keinen anderen, der es vor dem König anzeigen könnte, als nur die Götter, deren Wohnung nicht bei dem Fleisch ist“ (V. 11) Es war unmöglich, die Forderung des Königs zu erfüllen. So durfte alles in seiner Wirklichkeit hervortreten. Ihre Weisheit erwies sich als untauglich für das, was verlangt wurde.
Daniel erfährt von dem Befehl, der ergangen ist, dass die Weisen getötet werden sollen. Er geht zu Arioch und bittet darum, dass ihm Zeit gegeben wird. Aber merke dir das – und das ist das Merkmal des Glaubens: Er hat Vertrauen zu Gott. Er wartet nicht, bis Gott ihm die Antwort gibt, bevor er sagt, dass er die Deutung des Traumes zeigen wird. Er bietet sie sofort an. Er hat Vertrauen zu Gott, und das ist Glaube: eine Überzeugung, die auf dem bekannten Charakter Gottes beruht. „Das Geheimnis des Herrn für die, die ihn fürchten“ (Ps 25,14); und Daniel fürchtete den Herrn. Deshalb war er auch nicht über den Erlass beunruhigt. Er wusste, dass Gott, der gegeben hatte, den Traum zurückrufen konnte. Gleichzeitig gibt er nicht im Geringsten vor, ihn selbst zu beantworten. Wir finden also zwei große Dinge in Daniel vorhanden: (a) erstens sein Vertrauen, dass Gott dem König die Sache offenbaren würde; (b) zweitens sein Bekenntnis, dass er es nicht konnte. Er geht in sein Haus und macht die Sache seinen Freunden bekannt. Er wünscht, dass auch sie „von dem Gott des Himmels Barmherzigkeit erbitten möchten wegen dieses Geheimnisses“ (V. 18). Er legt großen Wert auf die Gebete seiner Brüder – die mit ihm Zeugen des wahren Gottes in Babylon sind. Er bringt sie vor Gott auf die Knie, wie er auch selbst diesen Platz einnimmt. Aber Daniel, der einen besonderen Glauben hatte, war es, den Gott deshalb ehrte. „Hierauf wurde Daniel in einem Nachtgesicht das Geheimnis offenbart“ (V. 14–19).
Weder geht er direkt zum König, noch zu seinen Freunden, um ihnen zu sagen, dass Gott ihm den Traum offenbart hat. Er geht zuerst einmal zu Gott. Der Gott, der das Geheimnis bekanntgemacht hat, ist der, den Daniel aufsucht. Er ist in der Stellung eines Menschen, der Gott anbetet. Und erlaube mir zu sagen, dass dies das große Ziel aller Offenbarungen Gottes ist. Denke nicht, dass es darum geht, mir meine Sünde zu offenbaren und einen Retter, der alle meine Bedürfnisse erfüllt. Was Gott durch seinen Geist in seinen Heiligen wirkt, ist nicht nur, dass sie wissen sollen, dass sie von der Hölle befreit sind, oder dass sie als seine Kinder wandeln sollen. Es gibt noch eine höhere Sache. Gott macht sein Volk zu Anbetern seiner selbst; und wenn es eine Sache gibt, in der Gottes Kinder mehr versagen als in einer anderen, dann ist es die, ihren Platz als Anbeter zu erkennen.