Behandelter Abschnitt Hld 5,1-8
Im letzten Kapitel lud die Braut ihren Geliebten ein, in seinen Garten zu kommen und dessen angenehmen Früchte zu essen. Aber sie muss sich selbst noch besser kennenlernen: Was immer sie in seinen Augen war, Er war (leider) nicht alles für sie. Und wenn wir dazu neigen, zu gut von unserem Zustand zu denken, so ist die Gnade da, uns das durch Erfahrung zu lehren. So wird es mit dem gottesfürchtigen jüdischen Überrest nach und nach sein, wie uns hier gezeigt wird.
Ich bin in meinen Garten gekommen, meine Schwester, meine Braut, habe meine Myrrhe gepflückt samt meinem Balsam, habe meine Wabe gegessen samt meinem Honig, meinen Wein getrunken samt meiner Milch. Esst, Freunde; trinkt, und trinkt euch fröhlich, Geliebte!
Ich schlief, aber mein Herz wachte. Horch! Mein Geliebter! Er klopft: Mache mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene! Denn mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der Nacht.
Ich habe mein Kleid ausgezogen, wie sollte ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen, wie sollte ich sie wieder beschmutzen?
Mein Geliebter streckte seine Hand durch die Öffnung, und mein Inneres wurde seinetwegen erregt. Ich stand auf, um meinem Geliebten zu öffnen, und meine Hände troffen von Myrrhe und meine Finger von fließender Myrrhe am Griff des Riegels. Ich öffnete meinem Geliebten; aber mein Geliebter hatte sich umgewandt, war weitergegangen. Ich war außer mir, während er redete. Ich suchte ihn und fand ihn nicht; ich rief ihn, und er antwortete mir nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: Sie schlugen mich, verwundeten mich; die Wächter der Mauern nahmen mir meinen Schleier weg. Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten findet, was sollt ihr ihm berichten? Dass ich krank bin vor Liebe (V. 1–8).
Ach, wie leicht verstehen wir solche Erfahrung! Gerade die völlige Gewissheit der Liebe des Erlösers birgt die Gefahr, Nachlässigkeit in unseren Herzen hervorzurufen. Wenn wir sicher sind, dass wir Ihm wertvoll sind, wenn wir Ihn überhaupt kennen, sind wir ernsthaft und gründlich; aber wenn alles in seiner unvergleichlichen Gnade zu uns geschieht, wie leicht schleicht sich das Fleisch ein und nutzt das aus, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre! Wenn der Glaube in beständiger Übung ist und das Fleisch folglich durch den Geist, der in uns wohnt, gerichtet wird, wirken seine wunderbaren Worte der Liebe kraftvoll, indem sie die Freude und das Lob und die Anbetung der Gläubigen hervorbringen. Aber es besteht für uns immer die Gefahr, so wie die Braut hier zu empfinden und handeln. Sie gab der Trägheit und den Umständen nach, und obwohl sie Ihn wirklich liebte, bereitete sie sich Schwierigkeiten, vernachlässigte seine Liebe und fand zu ihrer Schande und ihrem Kummer heraus, dass Er sich zurückgezogen hatte – Er war einfach weg!
Diese schmerzliche Erfahrung dient zum weiterem Gewinn der Braut. Sie ist nun so bewegt, dass sie die Straßen der Stadt auf der Suche nach Ihm durchstreift, ohne sich der Fremdartigkeit ihres Handelns in den Augen derer bewusst zu sein, die für die Ordnung der Stadt verantwortlich sind und die wenig oder nichts von ihrer Zuneigung oder ihrem Kummer verstehen. Denn dies ist ihr Geheimnis.