Behandelter Abschnitt Hld 5
In Kapitel 5 haben wir eine weitere Erfahrung, die sie macht, insbesondere im 2. Vers. Der erste Vers gehört wohl eher zu dem vorherigen Kapitel. „Ich schlief“. Noch derselbe Gedanke; es ist Nacht. „Ich schlief, aber mein Herz wachte. Horch! mein Geliebter, er klopft: Tue mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene“. Er ist nicht wirklich gekommen. Dies spielt sich in ihrer Seele ab; sie sieht es sozusagen als eine Vision in der Nacht. Es ist jedoch nicht Sein Kommen am Morgen, das nicht. Er wird kommen wie ein „Morgen ohne Wolken“ (2Sam 23); aber ich wiederhole, wir müssen immer daran denken, dass der Morgen noch nicht da ist. Dies ist es deshalb, was ihr Herz bewegt; sie verlangt sehnsüchtig nach Seinem Kommen an jenem glänzenden Tage.
Hier hört sie also gleichsam Seine Stimme, und sie zeigt, dass ihr Herz noch immer keineswegs für Seine Wiederkehr in der rechten Verfassung ist. Denn dies ist ihre Entschuldigung: „Ich habe mein Kleid ausgezogen, wie sollte ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen, wie sollte ich sie wieder beschmutzen“? Obwohl nun also Gottes Liebe vor ihre Seele gestellt war, sucht sie, anstatt als Antwort gleich Ihm entgegenzugehen, Ausflüchte, weshalb sie nicht gehen könne, weshalb sie die Mühe nicht auf sich nehmen könne, die Tür zu öffnen; denn das ist alles, was nötig gewesen wäre. „Mein Geliebter streckte seine Hand durch die Öffnung“. Wieder ein Appell an sie, aber diesmal soll er Selbstgericht bei ihr bewirken. Sie sagt, dass Er gleichsam zögerte, dass Er sich nicht sofort von ihr abwendet, obwohl sie Seine Liebe so übel belohnte. „Mein Geliebter streckte seine Hand durch die Öffnung, und mein Inneres ward seinetwegen erregt“ (5,4).
Das war wirkliche Zuneigung, obwohl sie keinerlei rechte Antwort auf Seine Liebe fand. „Ich stand auf, um meinem Geliebten zu öffnen, und meine Hände troffen von Myrrhe und meine Finger von fließender Myrrhe an dem Griffe des Riegels. Ich öffnete meinem Geliebten; aber mein Geliebter hatte sich umgewandt, war weitergegangen. Ich war außer mir, während er redete. Ich suchte ihn und fand ihn nicht; ich rief ihn, und er antwortete mir nicht“. Diese Zurechtweisung war für Israel, für Jerusalem notwendig. Er ließ sie fühlen, dass dieses Beschäftigtsein mit sich selbst oder mit den Umständen, dieser Mangel an Frische des Herzens, um auszugehen, Ihm entgegen, etwas war, was sie sich selber zur Last zu legen hatte. Und nun, da sie zur Besinnung gebracht ist und empfindet, wie sie Seine Liebe verletzt hat, geht sie und ruft; sie sucht Ihn aufs neue. „Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: sie schlugen mich“. Wir sehen, jetzt wird es schlimmer. Bei der ersten Gelegenheit konnten sie ihr keinen Rat geben, wo sie ihren Geliebten finden konnte. Aber nun wurde sie von ihnen geschlagen; denn was hatte sie auch zu solch nächtlicher Stunde auszugehen? So schlug man sie. „Die Wächter der Mauern nahmen mir meinen Schleier weg.“
Über die Echtheit ihrer Zuneigung gab es keinen Zweifel; sie wünschte, den Einen zu finden, den sie liebte. Aber noch war die Zeit nicht gekommen. Sie suchte Ihn am unrechten Ort, und damit mussten sich die Wächter auf jeden Fall befassen. So brachte sie gerade der Wunsch, den Bräutigam zu finden, in eine verkehrte Stellung. So sagt sie: „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten findet, was sollt ihr ihm berichten? Dass ich krank bin vor Liebe“. Und hier finden wir jetzt andere Personen nicht die Wächter, sondern ihre Gefährtinnen Jerusalem wird nicht allein sein. Es wird andere geben. Andere werden zu jener Zeit erwachen, zu denen sie sprechen kann. Diese sagen: „Was ist dein Geliebter vor einem anderen Geliebten, dass du uns also beschwörest“? Nun kommt das, worauf ich schon hinwies: sie bekennt, wie schön ihr Bräutigam ist. Sie spricht nicht zu Ihm. Aber wir sehen, wie ihr ganzes Herz sie drängt, von ihrem Bräutigam zu sprechen. Wie schön spricht Sie vom Herrn! Sie schämt sich nicht, von Ihm zu erzählen. Es geht jetzt nicht mehr nur darum, dass sie Ihn liebte, sondern im letzten Teil des Kapitels kommt zum Ausdruck, wer und was Er war, den sie liebte.