Behandelter Abschnitt Est 4,1-8
Es mag gut sein, hinzuzufügen, dass der Gläubige in keiner Weise verpflichtet ist, das Vorgehen Mordokais zu verteidigen, außer in dem Maß, wie wir seinen wahren Glauben anerkennen. Wir erfahren nicht, dass er gezwungen war, Esther dem Monarchen zu präsentieren, noch wurde er aufgefordert, zu verheimlichen, dass sie eine Jüdin war. Auch kann man sagen, dass er sich nicht in zivilem Respekt vor Haman verbeugen konnte, obwohl er ein Agagiter war. Gewiss lesen wir von Abraham, der sich vor den Söhnen Heths verneigt, obwohl sie aus dem verfluchten Geschlecht Kanaans stammen. Und wir finden Jakob, der den Pharao segnete, obwohl er das Haupt derer war, die seine Nachkommenschaft vierhundert Jahre lang bedrängen und vom Herrn, Herrn gerichtet werden sollten. Es war der unbeugsame Geist des Juden im Exil, der den tödlichen Feind des auserwählten Volkes hasste und an den Tag der Rache seines Gottes glaubte. Das sind die einfachen Tatsachen des Falles, die uns vorgestellt werden und die wir nach den viel tieferen Prinzipien Christi im Evangelium beurteilen können.
Unser Kapitel beginnt mit der tiefen Trauer Mordokais und der Juden, zu denen der Erlass des Königs drang. Die Nachricht davon erreichte bald die Königin, wie es beabsichtigt war; denn Mordokai rechnete fest mit Erleichterung und Befreiung durch ihre Vermittlung und weigerte sich, bis es so weit war, sogar ihr gegenüber, Sack und Asche abzulegen.
Und als Mordokai alles erfuhr, was geschehen war, da zerriss Mordokai seine Kleider und legte Sacktuch an und Asche; und er ging hinaus in die Stadt und erhob ein lautes und bitterliches Geschrei. Und er kam bis vor das Tor des Königs; denn zum Tor des Königs durfte man nicht in einem Sackkleid hineingehen. Und in jeder einzelnen Landschaft, überall, wohin das Wort des Königs und seine Anordnung gelangte, war eine große Trauer bei den Juden und Fasten und Weinen und Wehklage; viele saßen auf Sacktuch und Asche.
Und die Mägde Esthers und ihre Hofbeamten kamen und teilten es ihr mit. Da geriet die Königin sehr in Angst. Und sie sandte Kleider, damit man sie Mordokai anziehe und sein Sacktuch von ihm wegnehme; aber er nahm sie nicht an. Da rief Esther Hatak, einen von den Hofbeamten des Königs, den er zu ihrem Dienst bestellt hatte, und schickte ihn zu Mordokai, um zu erfahren, was das wäre und warum es wäre. Da ging Hatak zu Mordokai hinaus auf den Platz der Stadt, der vor dem Tor des Königs lag. Und Mordokai berichtete ihm alles, was ihm begegnet war, und den Betrag des Silbers, das Haman versprochen hatte, in die Schatzkammern des Königs für die Juden abzuwiegen, um sie umzubringen. Auch gab er ihm eine Abschrift der in Susan erlassenen schriftlichen Anordnung, sie zu vertilgen: um sie Esther zu zeigen und ihr mitzuteilen und um ihr zu gebieten, dass sie zum König hineingehe, ihn um Gnade anzuflehen und vor ihm für ihr Volk zu bitten (V. 1–8).
Behandelter Abschnitt Est 4
Ein großer Aufschrei ging von den Juden aus. Ihr Untergang war besiegelt. So schien es. Zumal es immer eine der Maximen des persischen Reiches war, dass ein einmal erlassenes Gesetz nie wieder aufgehoben wurde ‒ „nach dem Gesetz der Meder und Perser, das unwiderruflich ist“ (Dan 6,9). Nichts, so schien es, hätte das Volk noch retten können. Der Herrscher über 127 Provinzen hatte sein königliches Wort gegeben, mit seinem Siegel unterzeichnet und durch die Post in alle Teile des Reiches geschickt. Der Tag war festgelegt, das Volk genau bezeichnet. Der Untergang schien gewiss zu sein; aber Mordokai zerriss seine Kleider und legte Sacktuch an, ging hinaus in die Stadt und schrie laut und bitterlich (V. 1), und wenn auch Gottes Name nicht geschrieben steht und nicht erscheint, so haben Gottes Ohren doch gehört.
Mordokai kam zum Tor des Königs, denn niemand durfte mit Sacktuch bekleidet durch das Tor gehen. Er kam vor das Tor, nicht hinein, und Esther hörte es. Sie sagten es ihr, und die Königin geriet sehr in Angst, ohne zu wissen, was die Ursache ihres Kummers war. Und Esther sandte durch einen der Kämmerer, und Mordokai erzählte ihm alles, was ihm widerfahren war, und was Haman versprochen hatte zu zahlen, und das Verderben, das den Juden drohte.
Esther, so wird berichtet, gibt daraufhin Mordokai den Befehl durch Hatak, ihm die Aussichtslosigkeit des Falles mitzuteilen. Das Ziel war, dass sie hingehen und den König um Hilfe bitten sollte. Aber wie? Es war eines der Gesetze des persischen Reiches, dass niemand in die Gegenwart des Königs treten durfte. Der König musste jemand rufen, und der König hatte seit dreißig Tagen die Königin nicht mehr gerufen. Es war gegen das Gesetz, sich dorthin zu wagen. Deshalb schickt Mordokai ihr eine deutliche, aber strenge Botschaft. Er sagte: „Denke nicht in deinem Herzen, dass nur du im Haus des Königs von allen Juden entkommen wirst. Denn wenn du in dieser Zeit schweigst, so wird Befreiung und Errettung für die Juden von einem anderen Ort her erstehen“ (V. 13.14a). Kein einziges Wort über Gott. Er ist verborgen. Er meint Gott, aber das Geheimnis Gottes wird so vollständig bewahrt, dass er es nur auf diese bemerkenswerte Weise vage andeutet: „Denn wenn du in dieser Zeit schweigst, so wird Befreiung und Errettung für die Juden von einem anderen Ort her erstehen“ ‒ denn Gott würde vom Himmel herabschauen; aber Mordokai spricht nur von dem Ort und nicht von der Person ‒ „du aber und deines Vaters Haus, ihr werdet umkommen. Und wer weiß, ob du nicht für eine Zeit wie diese zum Königtum gelangt bist“ (V. 14b).
Esther wird also angemessenen über Situation informiert. Sie hat volles Verständnis für Mordokais Mitgefühl mit dem Volk und seine Zuversicht, dass die Befreiung von einem anderen Ort kommen würde. So bittet sie Mordokai: „Geh hin, versammle alle Juden, die sich in Susan befinden; und fastet um meinetwillen, und esst nicht und trinkt nicht drei Tage lang, Nacht und Tag; auch ich werde mit meinen Mägden ebenso fasten. Und dann will ich zum König hineingehen“ (V. 16a). Auch sie wird während der Zeit fasten. Kein Wort mehr über Parfüme, um sich auf die Anwesenheit des Königs vorzubereiten. Dem hatte sie sich unterworfen; es war der Befehl des Königs; aber jetzt, obwohl sie Gott nicht erwähnt, ist es offensichtlich, wo ihr Herz ist. Sie geht mit dieser höchst eigenartigen, aber in dieser Zeit bewundernswerten Vorbereitung ‒ dem Fasten ‒, einem großen Zeichen der Demütigung vor Gott; doch auch hier wird Gott nicht genannt. Man kann nicht daran zweifeln, dass Gott über und hinter den Kulissen ist; aber alles, was erscheint, ist nur das Fasten des Menschen und nicht der Gott, vor dem gefastet wurde. Ihr Entschluss war gefasst: „und wenn ich umkomme, so komme ich um“ (V. 16c).