Behandelter Abschnitt Est 4
Die mannigfachen Seelenübungen, wie wir sie in diesen Kapiteln bei Esther und Mordokai wahrnehmen, sind ein Gegenstand von großem Interesse. Die Hand und der Geist Gottes wirken hier miteinander in der Geschichte Israels, und zwar in derselben wunderbaren Weise, wie sie uns in den Psalmen und in den Propheten entgegentritt. Gottes Hand gestaltet die Umstände, der Geist bildet den Sinn. Von diesen beiden Dingen, mit denen sich ein sehr großer Teil des prophetischen Wortes beschäftigt, erhalten wir hier lebendige, persönliche Illustrationen in den Herzensübungen, durch welche wir diese beiden Heiligen Gottes hindurchgehen sehen, sowie in den wunderbaren Umständen, durch welche sie geführt werden.
Nachdem der verhängnisvolle Befehl erlassen ist, zerreißt Mordokai seine Kleider, fastet und legt Sacktuch an. Dabei rechnet er aber doch auf Befreiung. Eine solche Verbindung ist kostbar. Im Leben des Elia finden wir auch ein Beispiel davon. Er wußte, daß der Regen kommen würde; aber trotzdem wirft er sich zur Erde nieder und tut sein Angesicht zwischen seine Kniee, wie einer, der sich in „inbrünstigem Gebet“ befindet (vgl. 1Kön 18; Jak 5,16-18). Der Herr selbst gibt uns ein zweites Beispiel. Er weiß und bezeugt, das Er im Begriff steht, Lazarus vom Todesschlafe aufzuwecken; aber Er weint, wenn Er sich dem Grabe nähert. Ähnlich ist es hier mit Mordokai. Er will von seiner Trauer nicht ablassen. Er weist auch jeden Trost zurück, so lange der Befehl gegen sein Volk bestehen bleibt, obwohl er ganz fest auf Befreiung in der einen oder anderen Weise rechnet. Das ist eine andere jener Verbindungen, welche zur Bildung eines Charakters von sittlicher Schönheit notwendig sind, und wovon wir bereits ein Beispiel in diesem Israeliten „sonder Trug“ wahrgenommen haben.
Esther ist, als das schwächere Gefäß, ebenso schön in ihrem Geschlecht. Wohl mag sie nötig haben, von Mordokai gestärkt zu werden; aber ihr Mitgefühl für die Not ihres Volkes ist zart und tief. Sie sieht Schwierigkeiten und fühlt Gefahren, und eine zeitlang redet sie von ihren Umständen. Aber darin liegt nichts Verkehrtes. Sie sagt Mordokai, welch ein Wagestück es sei, wenn sie unaufgefordert in die Gegenwart des Königs trete. Ich wiederhole, es war nicht verkehrt, so von ihren Umständen zu reden, obwohl Schwachheit sich darin offenbaren mochte. Aber Mordokai tritt ihr, als das stärkere Gefäß, mit einem Rat zur Seite, und er erscheint als einer, der in der Sache Gottes und Seines Volkes über Umständen und menschlichen Gefühlen steht. Er sendet Esther, trotzdem er sie so lieb hatte, eine Antwort, die keinen Einspruch erlaubt; und sein Herz ist ruhig und fest inmitten der Gefahren. Er thront gleichsam auch auf Wasserfluten, in der kostbaren Macht Dessen, der die Wogen für uns betreten hat. Es gibt, wenn ich mich so ausdrücken darf, in dem Opfer, das er darbringt, weder Sauerteig noch Honig. Er geht nicht mit Fleisch und Blut zu Rate, noch blickt er auf die höher und höher steigenden Gewässer. Sein Glaube ist siegreich, und das schwächere Gefäß wird durch ihn gestärkt. Esther entschließt sich, zu dem König hineinzugehen. Wenn sie umkommt, so kommt sie um; aber sie fühlt sich durch die erhaltene Belehrung im Stande, alles für Ihr Volk zu wagen. Dabei „achtet“ sie, obwohl sie unter der Prüfung nicht „ermattet“, dieselbe doch auch nicht „gering“. Sie wünscht, daß Mordokai und alle ihre Volksgenossen in demütigem, abhängigem Geist vor Gott für sie beschäftigt seien, auf daß sie Gnade erlange und ihr Weg in die Gegenwart des Königs seinen Zweck erfülle.