Behandelter Abschnitt Phil 3,12-16
Ein Ergriffener (Phil 3,12-16)
Unser Text ist oft missdeutet worden. Wir wollen nun den ehrlichen Versuch machen, eine schriftgemäße Auslegung zu finden.
I. Paulus, ein von Christo Ergriffener.
Zweifellos denkt er hier zunächst an jene Damaskusstunde, als ihn der Herr auf dem Wege plötzlich erfasste. Paulus widerstand keinen Augenblick; er streckte die Waffen sofort. Von Stund an begann etwas ganz Neues in seinem Leben. Ein neuer Lebenszweck und ein neues Ziel standen vor ihm. Er stellte auch gleich die rechte Frage: „Herr, was willst Du, dass ich tun soll?“ Mit festem Entschluss begab sich Paulus auf diesen neuen Weg. Es wird auch bestimmt nicht an Versuchen von seiten früherer Freunde gefehlt haben, ihn ins ehemalige Lager zurückzubringen; aber dieser von Christo Ergriffene ging entschlossen den erkannten Weg. Nichts vermag diesen entschiedenen Mann aufzuhalten; denn was er erlebt hat, ist zu groß und tiefgehend. Wie einem Abraham, dem der Gott der Herrlichkeit erschienen war und der deshalb seine Heimat Ur, in Chaldäa, seine Freunde und sein Vaterhaus verließ, so erging es Paulus. Dennoch redet der Apostel von einem gewissen Etwas, das er noch nicht ergriffen habe.
II. Was hatte Paulus denn noch nicht ergriffen?
Wir antworten: Die Vollendung! Beachten wir folgendes: Es gibt viele Gläubige, die ihr ganzes Leben lang arme, verlorene Sünder bleiben und das aus Unkenntnis der Schrift. Das Wort Gottes nennt die Gläubigen nicht mehr Sünder, sondern Brüder, Heilige, Geliebte und Auserwählte, Genossen der himmlischen Berufung, Kinder- und Hausgenossen Gottes und Mitbürger der Heiligen. Sie müssen auch nicht mehr der Sünde dienen, weil sie in Christo von ihr befreit sind. „Wer aus Gott geboren ist, sündigt nicht“, schreibt Johannes, d. h. der verharrt nicht mehr in bewussten Sünden. Der Gläubige mag von Fehltritten übereilt werden, aber Sünde ist nicht mehr sein Element. Der Gläubige kann zwar, muss aber nicht sündigen. Sehr deutlich beleuchtet Paulus diese Frage in Röm 6,2: „Wir, die wir der Sünde gestorben sind, wie sollten wir noch in derselben leben?“ In Vers 4 sagt der Apostel, dass wir mit Christo begraben sind durch die Taufe in den Tod, auf dass, gleichwie Christus aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit des Vaters, also auch wir in Neuheit des Lebens wandeln. Nur mit dieser grundlegenden Erfahrung im Glaubensleben können wir Gott dienen.
Zugleich aber muss hervorgehoben werden, dass es irrig ist zu behaupten, der Mensch sei frei von der innerwohnenden Sünde. Das wird er erst sein, wenn er den Leib der Sünde abgelegt hat. Es ist nicht nur gefährlich, sondern Selbstbetrug, zu sagen: „Ich sündige nicht mehr“, wie es von Seiten gewisser Kreise geschieht. Der geringste Widerspruch gegen diese These wird von ihren Anhängern infolge mangelhafter Kenntnis des Schriftgedankens und in Verblendung gegen den eigenen, unvollkommenen Zustand, mit Lieblosigkeit, ja sogar mit Verleumdung beantwortet. Das ist dann die praktische Seite der vermeintlichen Sündlosigkeit! Paulus selber bekennt, dass er den Zustand der Auferstehungsvollkommenheit noch nicht erlangt habe; er strebte aber darnach und wusste, dass dies einst bei Jesu Kommen der Fall sein werde.
III. Ein bedauerlicher Fehler.
Viele sagen, auf Grund von Vers 11, dass Paulus alles anwandte, um an
der ersten Auferstehung teilhaben zu können; mithin würde das Teilhaben
von einem besonderen Heiligungsgrad abhängen. Oberflächlich betrachtet
mag das so scheinen. Paulus will sagen: seitdem ich Christus
kennengelernt habe, kommt für mich nichts anderes mehr in Betracht, als
für Ihn zu leben. Jesus hat mich so völlig ergriffen, mein Herz so
gewonnen, dass ich Ihn immer tiefer erkennen und ganz eins mit Ihm
werden möchte. Und wie immer Er mich führt, sei es durch Leben oder Tod,
ich habe in jedem Fall teil an der herrlichen Ausauferstehung
mit allen Heiligen. Wie hätte bei Paulus Unsicherheit bezüglich der
ersten Auferstehung bzw. der Entrückung sein können? Dies widerspräche
völlig vielen andern von ihm geprägten Worten. Niemals befürchtete
Paulus, dass er durch Untreue oder Unwachsamkeit der Anteilnahme an der
ersten Auferstehung verlustig gehe. Manche Schriftforscher meinen, dass
die Auferstehung aus den Toten und die Entrückung einander nichts
angehen. Der Lehre der Schrift nach gehören sie zusammen. Erst stehen
die Leiber der in Christo Entschlafenen aus den Toten auf und zugleich
werden die dann lebenden Gotteskinder verwandelt und entrückt werden (1Thes 4,13-18). Die unselig Verstorbenen bleiben
liegen bis zum Endgericht und werden vor dem Weißen Thron erscheinen
(Off 20,11 ff.). Die Schrift kennt nur zwei Auferstehungen: die der
Gerechten, oder Auferstehung des Lebens genannt, und die der Gottlosen,
oder Auferstehung des Gerichts (Joh 5,28,29). Zu lehren, dass Paulus
damals noch unsicher war, oder, dass nur eine gewisse, besonders
gereifte Klasse an der Entrückung teilhaben werde, widerspricht dem
Schriftganzen; denn der Apostel sagt deutlich und klar, dass die, die
des Christus sind (nicht nur die besonders heilig waren),
auferstehen werden. Man beachte die Verse 20-21 und Stellen wie
IV. Ein bescheidenes Urteil.
Paulus bekennt „noch nicht vollendet“ zu sein, aber er jagt danach. Er weiß, dass selbst Väter in Christo noch Schwachheiten unterworfen sind. Sie können im Urteil fehlen oder zu hart sein, wie das Paulus einem Markus und Barnabas gegenüber war. Da ist Raum zu weiterer Erkenntnis. Alles ist im Fortschritt begriffen. Schaut Paulus auf Christus und Sein Werk, so ist er voller Ruhm und Sicherheit, blickt er aber auf sich, so sieht er Unvollkommenheit, und lebt uns sein Sichausstrecken nach Vollkommenheit vor. Paulus, der im Genuss reicher göttlicher Segnungen stand, wusste, dass er nur ein unwürdiger Empfänger derselben war. Er sah die unfassbare, göttliche Heiligkeit, und sie bewahrte ihn vor der groben Verirrung, dass er in sich heilig sei, trotz der vielen empfangenen Segnungen und Vorzüge. Der Apostel war sich der Vollkommenheit Christi so bewusst, dass es ihm unmöglich war, sich vollkommen zu nennen. Dabei aber benützte er jedes Mittel, wie Gebet, Glaube, Wachsamkeit, Gehorsam und anderes mehr, um eine engere Gemeinschaft und eine innigere Gleichheit mit seinem Herrn herbeizuführen.