Einleitung
In diesem Kapitel wird der Bericht über den Wiederaufbau der Mauer für einen Augenblick unterbrochen, um kurz bei der internen Situation stehen zu bleiben. Nicht das gemeinsame Auftreten des Volkes gegenüber dem Feind von außen steht hier vor unserem Blick, sondern das Verhalten der Volksgenossen untereinander, oder besser gesagt, das Fehlverhalten. Dieses Kapitel enthält die Warnung, dass es möglich ist, eifrig in der Absonderung von schädlichen Lehren und falschen religiösen Verbindungen zu sein und zugleich Missstände innerhalb der eigenen Reihen fortbestehen zu lassen.
Der Feind ist unermüdlich darin, das Werk Gottes anzugreifen. Wenn es ihm nicht gelingt, das Volk von außen anzugreifen, sucht er andere Wege. In diesem Kapitel kommt der Feind nicht mit einem Angriff von außen. Wir hören nichts von den Feinden, die bisher eine so vorrangige Rolle gespielt haben. Diese Art Handlanger muss der große Feind, unter dessen Leitung alle Angriffe auf Gottes Volk und Gottes Werk geschehen, in diesem Fall auch nicht einsetzen. Er sieht mit Vergnügen, wie dort ein innerer Kampf entsteht. Der Verbündete des Feindes ist hier das Gefühl der Unzufriedenheit, das unter dem Volk herrscht.
Verse 1 | Unfriede unter dem Volk
Und es entstand ein großes Geschrei des Volkes und ihrer Frauen gegen ihre Brüder, die Juden.
Die guten Eigenschaften, die im vorigen Kapitel vorhanden sind, können nicht verhindern, dass das unter der Oberfläche versteckte Unrecht zum Vorschein kommt. Unter dem Befehl Nehemias ist eine kräftige Haltung gegen den Feind von außen eingenommen worden, aber zugleich wuchert im Inneren das Übel der egoistischen Unterdrückung. Die Mauer der Absonderung von der Welt verhindert nicht, dass der Geist des Eigennutzes Besitz von denen nimmt, die innerhalb der Mauer wohnen. Wo eigene Interessen verfolgt werden, ist das immer zum Schaden und zur Verarmung von anderen.
Diese Missstände unter dem Volk sind auch ein effektives Mittel, um das Werk zu verhindern. Führer und Edle legen den Armen des Volkes Lasten auf. Während andere Vornehme das Werk anderen überlassen (Neh 3,5), setzen diese Führer und Edle noch eins obendrauf. Sie helfen nicht nur selbst nicht mit, sondern machen dabei auch noch die Arbeit für andere schwerer. Der Gegensatz zwischen Arm und Reich wird zu einer Sache, durch die Spaltung unter dem Volk droht.
Soziale Fragen können auch heute die Gemeinde lähmen. Als die Gemeinde gerade entstanden ist, teilt man alles miteinander (Apg 4,32-36). Aber schon bald ist die Rede von „Murren der Hellenisten gegen die Hebräer“ (Apg 6,1). Der Unfriede dort wird durch einen weisen Beschluss der Apostel weggenommen. Sie schlagen vor, dass Männer kommen sollen „von gutem Zeugnis, voll [Heiligen] Geistes und Weisheit“ (Apg 6,3). Solche Männer sind auch heute nötig, wenn, aus welchem Grund auch immer, Unfriede unter dem Volk Gottes ist.
Die Wurzel des Bösen ist, dass die Reichen nicht daran denken, dass die Armen ihre Brüder sind. In den brüderlichen Beziehungen gibt es keine Liebe mehr zu den Bedürftigen, sondern im Gegenteil Ausbeutung (1Joh 3,17; Jak 2,15-17).
Es ist eine zutiefst traurige Sache, dass unter denen, die sich rühmen, zu der göttlichen Grundlage zurückgekehrt zu sein, solche Missstände vorkommen. Das gilt sowohl im buchstäblichen Sinn für Israel als auch im geistlichen Sinn für die, die bekennen, als Gemeinde zusammen zu kommen.