Behandelter Abschnitt Hld 3,1
„Auf meinem Lager in den Nächten suchte ich den meine Seele liebt: ich suchte ihn und fand ihn nicht!“ (Hld 3,1).
Das Herz der Braut fühlt die Einsamkeit der Nacht, während sie darauf wartet, dass der Morgen tagt. Sie denkt an den Einen, der den Morgen mit Sich bringen wird; aber sie hat das Bewusstsein Seiner Nähe verloren. Das ist ein Rückgang, ein Fehler. Das Gewissen ist wach, die Zuneigungen sind lebendig, und doch ist keine Freude da; sie ist in Unruhe. Woher mag das kommen? Ein waches Gewissen, eine brennende Liebe, und doch Finsternis! Für einen solchen Seelenzustand kann es nur eine Ursache geben: das Auge ruht nicht auf dem Geliebten selbst. Scheinbar mag es noch andere Ursachen geben, aber das ist die wirkliche Ursache. Das Auge der Braut ist umhergewandert, und darum befindet sie sich in Finsternis, in tief empfundener Einsamkeit.
Es macht für die Zwecke des Feindes wenig aus, wohin sich das Auge wendet, wenn er es nur von Christus ablenken kann. Es mag mit dem Besten beschäftigt sein, z. B. mit dem Werk des Herrn, mit der Liebe zu den Brüdern, mit der Gemeinschaft, mit der Bedienung der Heiligen usw., aber selbst diese Dinge, so schön und gesegnet sie an sich sind, werden zu Fehlern aller Art führen, wenn eines von ihnen die Stelle der Person Christi einnimmt und zu einem Gegenstand wird, der das Herz beherrscht. Und was sollen wir erst sagen, wenn die Interessen des eigenen Ichs oder die Welt in einer von ihren tausenderlei Formen Eingang ins Herz finden? Was anders als Schwachheit, Finsternis und Verwirrung kann dann die Folge sein?
Man sagt oft im Hinblick auf einen solchen Seelenzustand: Der Herr verbirgt für eine Zeit Sein Antlitz, um uns zu prüfen und die schlummernden Zuneigungen unserer Herzen zu wecken. Aber wir finden im Hohenlied keinen Grund für eine solche Annahme, und sicherlich widerstreitet sie schnurstracks den einfachen und klaren Belehrungen der Apostel des Neuen Testaments. Christus ist stets vollkommen, Er bleibt sich immer gleich trotz unserer großen und beklagenswerten Veränderlichkeit. Auch sind wir ins Licht gebracht, so wie Gott Selbst im Licht ist. Der Vorhang ist zerrissen, und Christus hat Seine Erlösten ins „Allerheiligste“ eingeführt. Wir sind, wo Er ist und wie Er ist. Und Johannes schreibt in seinem ersten Brief, dass „die Finsternis vergeht und das wahrhaftige Licht schon leuchtet“ (1Joh 2,8).
Wohl mag es einem Gläubigen, der in Finsternis ist, so scheinen, als ob der Herr sich von ihm entfernt hätte. Aber es scheint nur so; es ist stets so, dass die Seele des Gläubigen sich von Ihm entfernt, nicht umgekehrt. Sicherlich kann der Herr Seinem Kind, wenn es Ihn aus dem Auge verloren hat, Seine göttliche Liebe nicht in der gleichen Weise offenbaren, wie wenn es Ihm treu nachfolgt; wie Er Selbst gesagt hat: „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen“ (Joh 14,23). Aber das ist etwas anderes. Der Herr verändert Sich niemals. Tritt eine Veränderung in unserer Gemeinschaft mit Christus, in dem Genuss Seiner Person, ein, so liegt die Schuld lediglich an uns.
Wir dürfen versichert sein, dass Er uns Seine Liebe in ausgedehntem Maße kundgeben wird, so lange unser Auge auf Seine Person gerichtet bleibt. So lange Er der Gegenstand unseres Herzens, unser Ein und Alles ist, erfüllen Licht, Liebe, Friede und Freude das Herz. Wenn aber das Auge umherschweift, wenn Er nicht mehr den Gesichtskreis der Seele ausfüllt, so wird es finster in uns, und bald folgt durch die List des Feindes eine endlose Reihe von beunruhigenden, sorgenden Gedanken und Gefühlen. „Die Lampe des Leibes ist das Auge; wenn nun dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein“ (Mt 6,22).
Lasst uns deshalb, geliebter Leser, aus der Erfahrung, welche die Braut hier macht, die für uns so notwendige Unterweisung lernen, dass nichts anderes als die Person des Herrn Jesus Christus jemals die Zuneigungen und Liebestriebe der neuen Natur befriedigen kann. „Habt ihr den gesehen, den meine Seele liebt?“ ist die passende Frage dieser Natur, wenn man Ihn Selbst aus dem Auge verloren hat. Die Form mag verschieden sein, aber die Ursache der Unruhe ist stets die gleiche. Ein einfältiges Auge kann nicht einen doppelten Gegenstand der Betrachtung haben. Die Braut hat sich während der Nacht mit irgend etwas anderem als mit ihrem Geliebten beschäftigt; vielleicht war es die Wüste oder die Beschwerlichkeit des Weges, vielleicht auch die erwartete Herrlichkeit des anbrechenden Tages. Aber sicher war es nicht Er, wie zu einer früheren Zeit, als sie von Ihm sagen konnte: „Ein Bündel Myrrhe ist mir mein Geliebter“ (Hld 1,13). Damals füllten Friede und Freude ihre ganze Seele aus, und der süße Wohlgeruch Seines Namens verbreitete sich überall wohin sie ging. Jetzt offenbaren sich Ruhelosigkeit und Sorge, und ihre eigene Schwachheit tritt ans Licht.