Behandelter Abschnitt Hld 3,2-3
„Ich will doch aufstehen und in der Stadt umhergehen, auf den Straßen und auf den Plätzen, will den suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: Habt ihr den gesehen, den meine Seele liebt?“ (Hld 3,2.3).
Die Stellung und Tätigkeit der Braut sind jetzt verändert, aber Ruhe findet sie nicht. Sie hat den Geist der Nachlässigkeit von sich abgeschüttelt. Ihre Frage ist die Sprache einer Seele, die es ernst meint. Aber die Straßen und Plätze der Stadt, wo Wächter angestellt sind, um die moralische Ordnung aufrechtzuerhalten, sind nicht die Orte, wo sie ihren Geliebten finden kann. „Er weidet unter den Lilien“. Sie weiß das sehr wohl, aber sie ist unruhig und verwirrt, wie viele es vor und nach ihr in ähnlichen Umständen gewesen sind. Die Spuren der Herde, die Wohnungen der Hirten, das grünende Gras, der Myrrhenberg und der Weihrauchhügel, das blühende Gefilde, der Garten, die Gewürzbeete – das sind Seine Lieblingsorte; dort ist Er zu finden, nicht in der Stadt. Aber so wie die Untätigkeit der Braut verkehrt war, so ist jetzt auch ihre Tätigkeit vom Übel.
Wären Demütigung und Bekenntnis der Untätigkeit gefolgt, so würde die Tätigkeit wohl vermieden worden sein. Andererseits aber können wir nicht anders als die Glut ihrer Liebe, die Fülle ihres Herzens und die Aufrichtigkeit ihres Bekenntnisses bewundern. Viermal in diesen vier Versen spricht sie von „dem, den meine Seele liebt“. Aber niemals behauptet sie, Ihn zu haben, bis sie Ihn wirklich besitzt, oder glücklich zu sein, bis sie es ist. Gebe Gott, dass wir bei unseren Verirrungen und Fehlern auch stets diese Liebe und Aufrichtigkeit, diesen Ernst offenbaren möchten! Gerade durch die Glut ihrer Liebe wurde ihr Fehler ans Licht gestellt. O möchte auch bei uns jedes Abirren vom Herrn durch die Innigkeit unserer Liebe zu Seiner anbetungswürdigen Person aufgedeckt werden.
Die Liebe der Braut ist so, dass nichts als Er Selbst das Bedürfnis ihres Herzens stillen kann. Und wäre sie im Himmel gewesen statt in der Stadt, und hätte Ihn nicht dort gefunden, so wäre es genau so gewesen wie jetzt; sie hätte ihr Suchen fortsetzen müssen, bis sie Ihn gefunden hätte. Der Himmel mit all seinem herrlichen Glanz, ohne Ihn, würde die Zuneigungen ihrer erneuerten Seele nicht befriedigt haben. Sie suchte Ihn Selbst, und nichts und niemand anders konnte Seinen Platz einnehmen. Nur die Liebe des Retters kann die Liebe des Erretteten befriedigen, nur die Liebe des Bräutigams die Liebe der Braut.
„Die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat“ (1Joh 4,7-19).
Über dieser armen Welt, über den Stürmen ruht der Gläubige an dem Herzen des Geliebten. Woher kommt es aber, dass so viele wahre Christen dennoch keinen gegründeten Frieden, keine ungetrübte Ruhe kennen, von Freude und Liebe gar nicht zu reden? Einfach weil Christus Selbst nicht der einzige Gegenstand ihres Herzens, der Mittelpunkt aller ihrer Wege ist. Ihre Ruhelosigkeit und die steten Störungen des Friedens haben allein hierin ihren Grund. In dem Augenblick, da Christus den rechten Platz im Herzen erhält, kommt alles andere von selbst in Ordnung. Wenn aber irgend etwas zwischen dem Herzen und Christus steht, so ist der Heilige Geist betrübt, die Seele ist in Finsternis, und Schwachheit und Verwirrung folgen. Alles ist in Unordnung.