Behandelter Abschnitt Hld 1,2
„Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes“ (Hld 1,2a)
Welch eine reine und zugleich leidenschaftliche Zuneigung gibt sich in diesen Worten kund! Sie gleicht dem ungekünstelten, inbrünstigen Aufwallen der Liebe zwischen nahen Verwandten, wenn sie nach langer Trennung einander wieder begegnen. Das Herz ist so völlig von seinem Gegenstand eingenommen, dass Formen, Regeln und Umstände ganz und gar außerachtgelassen werden. Das selige Bewusstsein des Platzes, den sie in Seinem Herzen einnimmt, lässt die Braut alles andere vergessen. Wie wenige gibt es in dieser Welt, an die man sich so ohne jede Förmlichkeit und in solcher Liebe wenden könnte, und doch ist dies die Sprache eines erretteten Sünders zu seinem heiligen Erretter. Verstehst du sie, mein lieber Leser? Keine Zweifel, keine Befürchtungen sind in einem Herzen, das so zu dem göttlichen Bräutigam, dem verherrlichten Herrn Jesus droben reden kann.
Viele halten es allerdings für Anmaßung, ein vollkommenes, nicht zweifelndes Vertrauen zu Seiner Gnade und Liebe zu haben, und wenn sie Ihm wirklich zu vertrauen wagen, so geschieht es mit vielen Zweifeln und Befürchtungen; und alles das, nachdem Er Seine Liebe zu verlorenen Sündern gleichsam in Buchstaben von Blut geschrieben hat. Was müssen solche denken von der Kühnheit der Braut? Dass sie sich selbst und ihren Platz vergessen habe? Ach nein, das Geheimnis ist: nachdem das Gewissen durch das eine Opfer von Jesus, der einst in Demut auf Erden wandelte, von aller Sünde gereinigt ist, fühlt sich das Herz jetzt frei und glücklich in der Gegenwart des auferstandenen und verherrlichten Christus. Und dies ist alles, was ein schuldiger Sünder braucht, um sich daheim und glücklich zu fühlen „in den Gemächern des Königs“ (Hld 1,4); d. h. also das Blut Christi für das Gewissen, und die Person Christi für das Herz. Jede Segnung wird sich in diesen beiden Dingen eingeschlossen finden; und jeder Christ besitzt beides. – O Herr, hilf allen, dass sie es glauben!
In dem ganzen Hohenlied ist keine Rede von Sünde, von Vergebung oder Rechtfertigung. Warum nicht? Diese Fragen sind vorher geordnet worden, und das Herz genießt jetzt eine vollkommene Freiheit in der Gegenwart des Herrn. Alle jene Fragen werden geordnet, wenn der Sünder zum ersten Mal in Wahrheit zu Jesu Füßen niedersinkt, sie werden geordnet auf Grund des vollendeten Werkes des Erlösers; und sie können nie wieder erhoben werden, soweit Gott und der Glaube in Betracht kommen. Satan und der Unglaube unserer Herzen mögen versuchen, diese für ewig geordneten Fragen wieder anzuregen, aber alle solche Gedanken sollten, weil sie aus diesen bösen Quellen kommen, verurteilt werden. „Ich habe erkannt, dass alles, was Gott tut, für ewig sein wird: es ist ihm nichts hinzuzufügen und nichts davon wegzunehmen“ (Pred 3,14). Deshalb ist das Herz, das diese Dinge kennt, frei und glücklich und fühlt sich daheim in der unmittelbaren Nähe des Herrn.
„Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes!“
Das Verlangen des Herzens geht nicht nach dem Bewusstsein der Vergebung, sondern nach einer unmittelbareren Offenbarung Seiner Liebe. Die Braut ist mit Ihm Selbst beschäftigt; nicht so sehr mit irgendeiner Seiner Eigenschaften oder mit einem besonderen Beweis Seiner Freundlichkeit gegen sie, sondern mit Ihm persönlich. Hat sie Ihn, so hat sie alle Seine Eigenschaften und Seine ganze Gütigkeit; darum: „Er küsse mich“. Sie denkt nicht daran, zu erklären, von wem sie so redet. Es erinnert uns das lebhaft an die liebende und ihres Herzensgegenstandes beraubte Maria, wenn sie sagt: „Herr, wenn du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast.“ Er war der erste und der letzte in ihren Gedanken; niemand anders war in ihrem Herzen, von dem sie Ihn hätte unterscheiden müssen.
Keiner war mit Ihm zu vergleichen. Nichts konnte ihr Herz befriedigen als die Person ihres Herrn, ob tot oder lebendig. Wunderbare Liebe! O dass Er auch einen solchen Platz in meinem und deinem Herzen hätte. Noch „über ein Kleines“, und Er wird ihn haben, und das für immer. O beschleunige den glücklichen Tag Deiner Ankunft, teurer Herr, Du, der Geliebte der Kirche, Deiner Braut!
In der Heiligen Schrift ist der Kuss das Zeichen der Versöhnung, das Unterpfand des Friedens und der Ausdruck der Liebe. Es heißt von Jonathan und David, dass sie einander küssten und miteinander weinten, bis David über die Maßen weinte (1Sam 20,41). Liebliches Bild von dem wahren David, der stets alle unsere Liebe übertrifft. „Wo aber die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überreichlicher geworden“ (Röm 5,20). Auch Joseph „küsste alle seine Brüder und weinte an ihnen, und danach redeten seine Brüder mit ihm“ (1Mo 45,15). Und der Vater küsste den verlorenen Sohn, als dieser noch in seinen Lumpen war. Ist es deshalb zuviel von der Braut im Hohenlied (oder für den, der an Jesus glaubt), wenn sie nach einer solchen Kundgebung der Liebe des Herrn verlangt? Sicherlich nicht.
Wir sind überzeugt, dass der Wunsch nicht aus irgendeinem Zweifel hervorging, ob ihr Herr sie liebte, sondern weil sie sich danach sehnte, die Liebe offenbart zu sehen. Liebe kann nur durch Liebe befriedigt werden.
„Denn deine Liebe ist besser als Wein“ (Hld 1,2b).
Die Liebe Jesu wird allen Freuden der Erde vorgezogen. Der Wein ist das Sinnbild der irdischen Genüsse, der Freuden und des Wohllebens des Menschen. Aber was sind diese Dinge alle, selbst in ihrer bezauberndsten Gestalt, für eine Seele, die ihre Wonne an Jesu findet? Sie haben ihren Reiz für Herz und Auge verloren und würden nur als eine ermüdende und drückende Last gefühlt werden. Jesus Selbst ist die Freude des Herzens: „den ihr, obgleich ihr ihn nicht gesehen habt, liebt; an welchen glaubend, obgleich ihr ihn jetzt nicht seht, ihr mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude frohlockt“ (1Pet 1,8).
Der Weinstock hat seine Wurzeln in der Erde. Der Nasiräer durfte, solange er unter seinem Gelübde war, „von allem, was vom Weinstock bereitet wird, von den Kernen bis zur Hülse nicht essen“ (4Mo 6,4). Er musste gänzlich abgesondert sein von den Vergnügungen der Welt für den Herrn. Jeder Gläubige ist heute ein Nasiräer Gottes, und er sollte seiner Berufung und Stellung treu sein. Aber er kann es nur, wenn er alle seine Freude und sein ganzes Genüge in der Liebe Jesu findet. Der Herr wartet jetzt, fern von den Freuden der Erde, auf den herrlichen Anbruch des tausendjährigen Reiches (vergl. Mt 26,29), wenn Er in Seinem wahren Melchisedek-Charakter erscheinen wird, um die siegreichen Scharen Israels, die Kinder Abrahams, mit dem Brot und Wein des Reiches zu erquicken (Vergl. 1Mo 14). Auch wir sollten bis dahin geduldig warten, denn wir werden dann mit Ihm in himmlischer Herrlichkeit erscheinen. Der König in Jerusalem wird dann wieder mit Seinem irdischen Volk vereinigt sein, und alle Nationen werden sich weiden an der Freude und dem Glück Israels. Dann wird auch die Tochter Zion die Bedeutung der lange vorher, auf dem Hochzeitsfeste zu Kana, ausgesprochenen Worte verstehen: „Du hast den guten Wein bis jetzt aufbewahrt“ (Joh 2,10).