Behandelter Abschnitt Kol 1,1-2
Einleitung
1. Entstehung des Briefes
Der Apostel Paulus hat diesen Brief 62/63 (oder 60/61) aus der Gefangenschaft in Rom geschrieben (Apg 28,30). Er war bis dahin nicht in Kolossä (2,1); die Versammlung ist durch Epaphras entstanden (1,7; 4,12ff.). Epaphras hat Paulus wohl über die „neuen Erkenntnisse“ in Kolossä informiert. Die Versammlung bestand wahrscheinlich erst vier bis fünf Jahre.
2. Der geistliche Zustand der Kolosser
Ein warmer Ton der Anerkennung durchzieht den Brief. Paulus dankte Gott und betete für die Kolosser; er freute sich über die Ordnung und Festigkeit ihres Glaubens an Christus. Die Unordnung der Korinther und das Abgleiten der Galater waren bei ihnen nicht vorhanden. In der Anrede nannte er sie heilige und treue Brüder in Christus. Dennoch waren ungute Elemente dazugekommen: vor allem Philosophie und jüdischen Überlieferungen.
3. Die drei Städte in diesem Brief
Kolossä lag in der phrygischen Landschaft (Apg 2,10; 16,6; 18,23), Teil der römischen Provinz Kleinasien, und zwar im Lykustal (vgl. „Lykaonisch“ in Apg 14,11). In direkter Nähe lagen auch die Städte Laodizea (15 km westlich von Kolossä) und Hierapolis (20 km nordwestlich von Kolossä). Nach einer Zeit der griechischen Herrschaft fiel das Gebiet mit diesen Städten im Jahr 133 v. Chr. an die Römer, die die Provinz Kleinasien errichteten, etwa das Gebiet der heutigen Türkei. Neben einheimischen Dialekten (Apg 14,11) sprach man vor allem Griechisch.
Kolossä war vor allem wegen seiner Wollindustrie bekannt. Die Bevölkerung war wohl bunt zusammengewürfelt, was den ethnischen, kulturellen und religiösen Hintergrund betraf. Sicher wohnten dort auch Juden. Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus berichtet, dass König Antiochus III (223–187 v. Chr.). etwa 200 v. Chr. zweitausend jüdische Familien von Mesopotamien und Babylon nach Lydien und Phrygien übersiedelte. Jedenfalls waren am Pfingsttag Juden aus Phrygien in Jerusalem (Apg 2,10).
4. Die Entstehung der Versammlung in Kolossä und Umgebung
Paulus und Barnabas haben das Evangelium in den östlichen Teil Phrygien (das sog. „Land Phrygien und die galatische Landschaft“) gebracht (Apg 16,6; 18,23). Das war etwa 47/48 n. Chr. So entstanden die Versammlungen im Pisidischen Antiochien und Ikonium. Das westliche Phrygien hörte das Evangelium erst, als Paulus in den Jahren 52–55 in Ephesus war (Apg 19,10). So entstand die Versammlung in Kolossä durch Epaphras (1,7.8; 4,12.13). Bis zur Abfassung des Briefes ist der Apostel nicht in dieser Versammlung gewesen (2,1). Wahrscheinlich waren es vor allem Griechen, die das Evangelium angenommen hatten; der Brief verweist auf ihre heidnische Vergangenheit (1,21.27; 2,13.20; 3,5–7). Es gab Gefahren vom Heidentum (2,8; 3,5–7), aber auch Gefahren durch das Judentum (2,11.16.20). – Paulus machte sich ernste Sorgen über die Gläubigen dort (siehe dazu 1,23; 2,4.8.16.18).
5. Die Irrlehre in Kolossä
Paulus nennt die Gefahren zwar, aber er beschreibt und analysiert sie nicht, sondern bekämpft sie. Es ist nicht einfach, die Irrlehre zu identifizieren. Es gibt heute an die fünfzig verschiedene Deutungen. Diese Irrlehre scheint folgende Elemente enthalten zu haben:
Philosophie (2,8)
Jüdische Überlieferung = Rationalismus (2,11.16.17; 3,11)
Gesetzlichkeit (2,16–21)
Verehrung von Engeln, besondere Einweihung und visionäre Erfahrungen (2,18; vgl. 1,16; 2,15)
Askese (2,21–23)
Es ist kein religiöses System bekannt, das alle diese Kennzeichen hat. Daher geht es um eine Ansammlung verschiedener Irrlehren (= synkretisches System), was zu der Zeit üblich war. In diesem Sinn nannte man Paulus einen „Schwätzer [Saatkrähe]“ (Apg 17,18), also nicht sehr originell. Heute nennt man solche Leute Eklektiker (jemand, der selektiert). So enthielt diese Irrlehre sowohl hellenistische als auch jüdische Elemente. Eine solche Geistesströmung ist auch die Gnostik.
6. Die Gnostik
Vielleicht kämpft Paulus gegen eine Form der Philosophie, die man Gnostik nennt. Was wir heute kennen, ist allerdings eine Gnostik, die aus dem 2. Jahrhundert stammt. Besondere Formen dieser Gnostik sind:
Man kann Gott nur durch eine besondere Erkenntnis kennenlernen. Heil gibt es nur für solche Personen. Diese Kenntnis verschafft Zugang zum Übernatürlichen; dadurch auch Erkenntnis des Wesens des Menschen.
Aus Gott – als Vater bezeichnet – sind durch „Ausstrahlung“ eine Reihe niederer himmlischer Wesen entstanden (Äonen, Throne, Mächte, Engel usw.), die die Fülle bilden. Zu dieser „Fülle“ gehört auch der Mensch, der durch seinen geistlichen Kern zur Gottheit gehört.
Die Erschaffung der sichtbaren Welt ist nicht das Werk des Vaters, sondern eines niedrigeren Gottes (Demiurg).
Dualismus: Gegensatz zwischen Materie und Geist. Die Materie ist minderwertig und böse. Der Mensch muss von der Finsternis des Leibes befreit werden und zurückkehren zum Licht der Geister, ja zum „Vater“.
Eine besondere Form der Gnostik ist eine jüdische Variante, die man
als Merkabah-Mystik bezeichnet hat. Diese Strömung gibt es seit
dem 1. Jahrhundert v. Chr. Der Name ist abgeleitet von „Himmlischer
Wagen“ (hebr. merkabah), auf dem Gott thronte (vgl. die
Berufungsvision Hesekiels in Kapitel 1,15–26; siehe auch
Wir finden also hier Beschneidung, Gesetz, Überlieferungen und Engelverehrung – wahrscheinlich herkommend aus der Sekte der Essener, einer mystischen, strengen Bruderschaft (2,23), streng in der Beachtung des Gesetzes Moses (2,20–22), besonders des Sabbats (2,16f.). Von den Essenern weiß man, dass die Ehe für sie ein Gräuel war (3,18f.); sie enthielten sich des Weins und tierischer Speisen (2,16); sie glaubten nicht an die Auferstehung des Leibes (1,18), verehrten Engel (2,18) und sogar die Sonne. Sie bildeten sich viel auf Geheimnisse ein, die nur ihnen bekannt waren (1,26.27) und in die nur solche eindringen konnten, die sich ihnen anschlossen (2,18). Die wahre Weisheit war ihres Erachtens nur wenigen bekannt (1,23.28; 2,3). Das alles gab ihnen ein Gefühl der Überlegenheit über andere.
7. Vergleich verschiedener Briefe
Römer |
Die Verantwortung des Menschen gegenüber Gott. Der Mensch ist schuldig und lebt zugleich in seinen Sünden. Dieser Zustand kann nur durch den Tod beendet werden |
Epheser | Gottes Souveränität und Ratschlüsse. Der Mensch ist tot in Sünden und Vergehungen. Gott hat ihn auferweckt und mit Christus in himmlische Örter versetzt. |
Kolosser | Die beiden obigen Wahrheiten sind die Voraussetzung für die hier entwickelte Wahrheit: Dieser Brief liegt gleichsam in der Mitte. Hier steht der Herr im Vordergrund; der Heilige Geist wird nur einmal erwähnt (1,8), und zwar in Verbindung mit dem Charakter der Liebe. Besonderes Thema dieses Briefes ist: Christus in euch (1,27). – Dieser Brief geht in der Beschreibung der christlichen Stellung nicht so weit wie der Epheserbrief. Die Gläubigen werden auf der Erde gesehen; doch in der Beschreibung der Herrlichkeit Christi als Haupt der Versammlung übertrifft dieser Brief den Brief an die Epheser. |
8. Schlüsselverse
Die Schlüsselverse sind Kapitel 1,19.20 und 2,9.10 und dann vor allem 1,27: „Christus in euch“.
9. Einführung I.
Den Brief hat Paulus in den Jahren 60–62 vom Gefängnis in Rom aus geschrieben.
Versammlung einige Jahre zuvor durch Epaphras entstanden.
Lag in der phrygischen Landschaft, römische Provinz Kleinasien.
In der Nähe von Laodizea und Hierapolis.
Die beiden Briefe an die Epheser und die Kolosser haben eine große Ähnlichkeit – beide handeln von der Einheit mit Christus, dem Haupt des Leibes (vgl. 1Kor 12).
Vergleich zwischen Epheser und Kolosser.
Epheserbrief | Kolosserbrief |
---|---|
Christus verherrlicht im Himmel | Christus in euch: in den Gläubigen |
Die Gläubigen versetzt in himmlische Örter | Die Gläubigen auf der Erde |
Die Vorrechte der Gläubigen als dem Leib | Die Herrlichkeiten des Hauptes |
Guter geistlicher Zustand – daher Entfaltung der Ratschlüsse Gottes | Abweichen zu Philosophie und jüdischen Überlieferungen – daher ernste Ermahnungen |
Paulus ist Apostel Jesu Christi durch Gottes Willen – nennt niemand in der Anrede | Paulus ist Apostel Jesu Christi durch Gottes Willen – nennt Timotheus in der Anrede |
Großartige Einleitung (1,3–14) z. B. Hoffnung der Berufung, nämlich die Reichtümer der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen | Hoffnung aufgehoben in den Himmeln – das ist es auch, wofür Paulus dankt |
Die Epheser kannte Paulus persönlich | In Kolossä ist er nicht gewesen |
Paulus stärkt Epaphras und lobt ihn |
Kapitel 1
Einleitung
Bei den Kolossern findet man ein Abweichen durch Hinwendung zu Philosophie vermischt mit jüdischen Elementen. Sie hatten sich nicht von Christus abgewandt, doch der Glaube war mit fremden Elementen durchsetzt.
In Kapitel 1 stellt Paulus den Kolosser vor allem die herrliche Größe Jesu Christi vor.
In den Kapitel 1,1‒2,23 finden wir die Lehre von der Vorrangstellung Christi
Einteilung
Einleitende Grüße (V. 1.2)
Die Dankbarkeit des Apostels für die Kolosser (V. 3–8)
Das Gebet des Apostels für die Kolosser (V. 9–14)
Christus in zweifacher Hinsicht Haupt: der Schöpfung und Haupt der Versammlung (V. 15‒18)
Christus in zweifacher Hinsicht Versöhner: der Schöpfung und der Versammlung (V. 19‒22)
Der Dienst des Apostels in der Schöpfung (V. 23)
Der Dienst des Apostels an der Versammlung (V. 24–29)
Verse 1.2
Paulus, Apostel Christi Jesu durch Gottes Willen, und Timotheus, der Bruder, 2 den heiligen und treuen Brüdern in Christus, die in Kolossä sind: Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater, {und dem Herrn Jesus Christus}: Da Paulus nie in Kolossä gewesen war, weist er auf seine Autorität als Apostel Christi Jesu hin, doch durch Gottes Willen. Er verbindet sich in der Anrede mit Timotheus, was er im Epheserbrief nicht tut. Dort ging es um die Ratschlüsse, die nur Paulus offenbart waren; hier geht es um das Erfülltsein mit Christus. Er nennt Timotheus einfach „Bruder“.
Der Brief beginnt nicht mit der großartigen Einleitung des Epheserbriefs. Der geistliche Zustand der Kolosser verhinderte das. Dazu lag zu viel Druck auf Paulus wegen der Gefahren, denen die Kolosser ausgesetzt waren.
Den heiligen und treuen Brüdern in Christus, die in Kolossä sind: Paulus schreibt an die Brüder. Sie sind heilig und treu. Sie sind es ihrer Stellung nach und sollten es auch in ihrer Lebensführung sein. Der Zusatz „Brüder“ in diesem Brief weist hin auf ihre gegenseitigen Beziehungen in der Familie Gottes. Heiligkeit ist die Absonderung zu Christus und Treue der Glaube, das Vertrauen und die Hinwendung zu Christus.
In Christus: Identifikation (Schweizer Liederbuch 160/2).
Gnade und Friede von Gott, unserem Vater, {und dem Herrn Jesus Christus1}: Die Basis der Handelns Gottes mit uns ist das Kindschaftsverhältnis, in das wir gebracht sind. Von da aus ergießt sich ein Strom der Gnade und des Friedens auf seine Kinder.
1 Nestle-Aland hat den Zusatz in Klammern nicht; Kelly lehnt ihn ebenfalls ab. Gnade ist der hebräische Gruß, Friede der griechische.↩︎