Behandelter Abschnitt Rt 2,17-23
Boas – sein persönlicher Umgang mit Ruth
„Und sie las auf dem Feld auf bis zum Abend, und sie schlug aus, was sie aufgelesen hatte, und es war etwa ein Epha Gerste. Und sie nahm es auf und kam in die Stadt, und ihre Schwiegermutter sah, was sie aufgelesen hatte; und sie zog hervor und gab ihr, was sie übrig gelassen, nachdem sie sich gesättigt hatte. Da sprach ihre Schwiegermutter zu ihr: Wo hast du heute aufgelesen, und wo hast du gearbeitet? Gesegnet sei, der dich beachtet hat! Und sie teilte ihrer Schwiegermutter mit, bei wem sie gearbeitet hatte, und sprach: Der Name des Mannes, bei dem ich heute gearbeitet habe, ist Boas. Da sprach Noomi zu ihrer Schwiegertochter: Gesegnet sei er von dem Herrn, dessen Güte nicht abgelassen hat von den Lebenden und von den Toten! Und Noomi sprach zu ihr: Der Mann ist nah verwandt mit uns, er ist einer von unseren Blutsverwandten. Und Ruth, die Moabiterin, sprach: Er hat auch zu mir gesagt: Du sollst dich zu meinen Knechten halten, bis sie meine ganze Ernte beendet haben. Und Noomi sprach zu Ruth, ihrer Schwiegertochter: Es ist gut, meine Tochter, dass du mit seinen Mägden ausgehst, damit man dich nicht auf einem anderen Feld anfalle. Und so hielt sie sich zu den Mägden des Boas, um aufzulesen, bis die Gerstenernte und die Weizenernte beendet waren. Und sie wohnte bei ihrer Schwiegermutter“ (2,17–23).
Es ist unser Vorrecht, nicht nur die Wahrheit über seine Person und sein Werk kennen zu lernen, sondern auch sein gnädiges Handeln zu erfahren, durch das wir zur Erkenntnis seiner selbst geführt werden. Möchten doch alle Gläubigen danach trachten, Christus im Innern ihrer Seele zu erleben – ein Erlebnis, über das sie zu andern nicht viel sagen könnten, das nur Christus und ihrer Seele bekannt ist und in das kein Fremder sich einmischen kann.
Von solch einem persönlichen Umgang haben wir in den Gnadenwegen Boas, einem vermögenden Mann, mit Ruth, der Fremden, ein Schattenbild.
Diese Wege sind durch Gnade und Wahrheit gekennzeichnet und bringen Den vor uns, der voller Gnade und Wahrheit kam. In unserer Schwachheit mögen wir Gnade auf Kosten der Wahrheit zeigen oder Wahrheit auf Kosten der Gnade aufrechtzuerhalten suchen. In Christus finden wir den unendlichen Ausdruck der Gnade bei vollkommener Aufrechterhaltung der Wahrheit.
Mit zarter Rücksichtnahme stellt Boas der Fremden aus Moab seinen ganzen Reichtum zur Verfügung einer, die gemäß dem Buchstaben des Gesetzes bis ins zehnte Geschlecht nicht in die Versammlung des Herrn kommen durfte (5Mo 23,3). Seine Felder, seine Mägde, seine Knaben, seine Brunnen, sein Getreide: Alles steht Ruth zur Verfügung. Sie soll auf seinen Feldern bleiben, sich zu seinen Mägden halten, hinter seinen Schnittern her auflesen und aus seiner Quelle trinken. Er erwähnt kein Wort über ihre Herkunft, ihre Fremdlingschaft oder ihre Armut; kein Wort des Vorwurfs betreffs ihrer Vergangenheit, keine Drohungen in Bezug auf die Zukunft, keine Forderungen an sie wegen seiner Großzügigkeit. Alles ist ihr aus überströmender, unumschränkter Gnade gegeben.
Nicht anders handelt Christus mit Sündern wie uns. Gnade stellte einer sündigen Frau an der Quelle von Sichar die besten Gaben des Himmels zur Verfügung; Gnade gebot den Fischen des Sees, einem sündigen Menschen wie Petrus ins Netz zu gehen; und Gnade öffnete dem sterbenden Räuber das Paradies Gottes. So hat die Gnade auch uns mit all den unerforschlichen Reichtümern des Christus gesegnet, und zwar ohne Geld und ohne Kaufpreis.
Doch, wie wir wohl wissen, verdunkeln die Reichtümer der Gnade nicht den Glanz der Wahrheit. Ja, im Gegenteil, die Gnade verlangt nach der Wahrheit. Boas hatte es nicht nötig, diese Fremde an ihre niedrige Herkunft zu erinnern. Sie selbst bekennt die Wahrheit; doch die Gnade Boas‘ bringt sie zu diesem Bekenntnis. Sie fällt vor ihm auf ihr Angesicht und tritt so zurück im Bewusstsein der Größe der Person, in deren Gegenwart sie ist und der sie all ihre Segnungen verdankt. Durch ihre Frage „Warum habe ich Gnade gefunden in deinen Augen?“ anerkennt sie, dass nichts in ihr selbst ist, womit sie solche Gnade verdiente. Und sie gibt zu, dass sie von Natur aus keinerlei Ansprüche an Boas hat, denn sie sagt: „Ich bin eine Fremde.“ In der Gegenwart der Gnade Boas gibt sie ihm seinen wahren Platz und nimmt den ihrigen ein.
Es ist wirklich ein gesegneter Augenblick in unserem Leben, wenn wir, allein in der Gegenwart des Herrn, angesichts der Gnade seines Herzens uns der Verderbtheit unseres Herzens bewusst werden. In einem solchen Augenblick lernen wir, dass, so böse wir sein mögen, doch Gnade in seinem Herzen ist, um dem allem zu begegnen. So tröstete Boas auch Ruths Herz. Sie hatte die Wahrheit bekannt: „Ich bin eine Fremde“, und Boas scheint zu sagen: „Du kannst mir nichts über dich erzählen, was ich nicht schon weiß“, als er ihr entgegnete: „Es ist mir alles wohl berichtet worden, was du . . . getan hast“ (V. 11). Da ist keine geheime Furcht mehr in ihrem Herzen, dass eines Tages etwas über ihre Vergangenheit offenbar werden könnte, das Boas veranlassen würde, die Gaben seiner Gnade zurückzuziehen. Freigemacht von solcher Furcht kann sie sagen: „Du hast mich getröstet und hast zum Herzen deiner Magd geredet.“ Nichts berührt, gewinnt und tröstet das Herz mehr, als in der Gegenwart des Herrn zu erfahren, dass Er alles weiß und mich trotzdem liebt.
Damit wird jedoch dieser Teil der Geschichte Ruths nicht beendet. Boas hat Gnade erwiesen und Ruth hat die Wahrheit bekannt, und das hat dem Gewissen wirklichen Frieden und dem Herzen Freude gebracht, aber das ist nicht alles. Boas ist nicht damit zufrieden, Ruth Befreiung gebracht zu haben, um sie dann mit einem von Dankbarkeit erfüllten Herzen allein zu lassen. Selbst wenn das ihr Herz befriedigt hätte, so genügte es doch seinem Herzen nicht.
Wenn sie auch keine weiteren Segnungen erwartete, er hatte noch mehr zu geben. Boas ist nicht zufrieden ohne die Gemeinschaft mit der einen, zu deren Herzen er gesprochen hat. Daher sagt er zu ihr: „Tritt hierher!“ Und handelt der Herr nicht in einem tieferen Sinn ebenso mit uns? Wenn Er unsere Furcht wegnimmt, zu unserem Herzen spricht und unsere Zuneigung gewinnt, so geschieht dies, um mit uns Gemeinschaft zu haben.
Liebe ist nicht zufrieden ohne die Gemeinschaft mit dem, der geliebt wird. Darum starb Er, damit wir, sei es, dass wir wachen oder schlafen, zusammen mit Ihm leben möchten. Glücklich sind wir deshalb, wenn auch wir seine gnädige Einladung hören und beachten: „Tritt hierher!“
So kam es, dass sich Ruth in Gemeinschaft mit Menschen niedersetzte, die sie bis dahin nicht kannte. Doch wenn sie sich „zur Seite der Schnitter niedersetzte“, so tat sie es in Gemeinschaft mit Boas, denn wir lesen: „Er reichte ihr geröstete Körner.“
Welch ein Glück für uns, wenn wir uns in Gemeinschaft mit dem Volk Gottes niedersetzen, indem wir uns der Gegenwart des Herrn selbst bewusst sind. Dann werden wir uns tatsächlich vom Korn des Landes nähren. Wir werden, wie Ruth, „satt werden“ und „übrig lassen“ (V. 14). In seiner Gegenwart werden unsere Seelen genährt und unsere Herzen befriedigt, und das befriedigte Herz vermag aus seiner Fülle auch anderen zu geben.