Das Gebet des Herrn
Der gnadenvolle Dienst Christi vor der Welt ist vorüber. Auch die lieblichen Unterredungen mit den Jüngern sind zu Ende. Alles auf Erden ist zu einem Abschluss gekommen, und der Herr blickt himmelwärts nach jenem Heim, in das Er bald eintreten wird. Wir haben die Worte des Herrn vernommen, als Er mit den Jüngern von dem Vater sprach; jetzt ist es unser größeres Vorrecht, auf die Worte des Sohnes zu lauschen, die Er ihretwegen mit dem Vater redet.
Dieses Gebet steht allein unter allen Gebeten hinsichtlich der Herrlichkeit dessen, der es ausspricht. Wer anders als eine göttliche Person konnte sagen: „… auf dass sie eins seien, gleich wie wir“ (Joh 17,11), und ferner: „… auf dass sie in uns eins seien“ (Joh 17,21). Solche Aussprüche konnten nie von menschlichen Lippen kommen. Stelle die Gottheit seiner Person in Frage und diese Worte werden zur Lästerung eines Betrügers. Das Gebet steht ferner allein in Bezug auf seinen einzigartigen Charakter. Man hat mit Recht gesagt, dass es kein Bekenntnis erhält, keinerlei Anspielung an Sünde, keinen Ton, der hinweist auf ein Gefühl der Schuld oder des Gebrechens …
Wir sind dagegen gefesselt durch seine ausdrucksvolle Kürze. Wir hören Ihn, der von einer Ewigkeit vor Grundlegung der Welt spricht und der an jener herrlichen Vergangenheit teilhatte; wir hören Ihn von seinem vollkommenen Pfad auf Erden reden, wir werden in die Tage der Apostel versetzt durch Ihn, dem die Zukunft ein offenes Buch ist. Wir hören Worte, die das ganze Zeitalter der Pilgerschaft der Gemeinde auf Erden umfassen, wenn wir den Wunsch des Herrn für jene vernehmen, die durch die Worte der Apostel an Ihn glauben und endlich werden wir im Geist in die noch kommende Ewigkeit eingeführt, wo wir bei Christus und Ihm gleich sein werden.
Indem wir hierin die Offenbarung seines Herzens betrachten, werden wir, während unser Weg durch diese Welt noch vor uns liegt, über alle zeitlichen Dinge emporgehoben, um die unveränderlichen Dinge der Ewigkeit vor uns zu haben. Wie nötig auch die Fußwaschung ist und wie gesegnet das Fruchttragen, wie groß auch das Vorrecht, für Christus zu zeugen und zu leiden ist, so kommen hier derartige Dinge kaum in Betracht, sondern vielmehr jene größeren, die, während wir sie in der Zeit kennenlernen und uns da schon ihrer erfreuen, doch der Ewigkeit angehören. Ewiges Leben, des Vaters Name, des Vaters Worte, des Vaters Liebe, die Freude Christi, Heiligkeit, Einheit und Herrlichkeit sind ewige Wirklichkeiten, die bleiben werden, wenn die Zeit mit der Notwendigkeit der Fußwaschung, mit ihrer Gelegenheit zum Dienen, mit ihren Versuchungen und Leiden für immer vorüber sein wird.
Ferner lernen wir durch dieses Gebet die Herzenswünsche Christi kennen, so dass der Gläubige sagen kann: „Ich weiß, was sein Herz für mich begehrt.“ Dies muss so sein, denn ein vollkommenes Gebet bringt das Verlangen des Herzens zum Ausdruck. Ach, wie oft werden unsere Gebete zu einer Form und sind dann nur der Ausdruck dessen, was wir gern vor anderen als den Wunsch unserer Herzen kundwerden lassen möchten. Doch in diesem Gebt ist nichts Förmliches, alles ist so vollkommen wie Er, der es darbringt.
Im Lauf dieses Gebets werden viele Bitten an den Vater gerichtet, doch diese scheinen alle unter folgende drei vorherrschende Wünsche zu fallen, die die Haupteinteilung dieses Gebets kennzeichnen:
der Wunsch, dass der Vater in dem Sohn verherrlicht werde (Joh 17,1-5)
der Wunsch, dass Christus in den Heiligen verherrlicht werde (Joh 17,6-21)
der Wunsch, dass die Heiligen mit Christus verherrlicht werden (Joh 17,22-26).
Der Vater – verherrlicht im Sohn (Joh 17,1-5)
Joh 17,1: Dieses redete Jesus und hob seine Augen auf gen Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist gekommen; verherrliche deinen Sohn, auf dass dein Sohn dich verherrliche.
Jeder Ausspruch und jedes Verlangen in den ersten fünf Versen hat die Verherrlichung des Vaters zum Gegenstand. Wo immer der Sohn betrachtet wird, ob auf Erden, im Himmel oder auf dem Kreuz, zwischen Erde und Himmel, sein erster und vornehmster Wunsch ist die Verherrlichung des Vaters. Eine solche Reinheit der Beweggründe geht weit über das Fassungsvermögen des gefallenen Menschen hinaus, dessen Gedanken es sind, die Macht immer zu seiner eigenen Verherrlichung zu gebrauchen. So war es bei den Brüdern des Herrn nach dem Fleisch, als diese sagten: „Wenn du diese Dinge tust, so zeige dich der Welt“ (Joh 7,4). Was ist das anderes, als zu sagen: „Gebrauche deine Macht zu deiner Verherrlichung.“ Ach! Zeigt nicht die Weltgeschichte, dass der Mensch, wo immer er durch Gott oder seine Anhänger mit Macht ausgestattet wurde, sie zu seiner eigenen Verherrlichung ausübte? Ausgerüstet mit Macht, deutet das Haupt des ersten Weltreiches seinen Fall mit den Worten an: „Ist das nicht das große Babel, welches ich zum königlichen Wohnsitz erbaut habe durch die Stärke meiner Macht und zu Ehren meiner Herrlichkeit?“ (Dan 4,30). Mit Recht mögen alle im Himmel Vereinigten sagen: „Würdig ist das Lamm, das geschlachtet worden ist, zu empfangen die Macht“, denn Er allein gebraucht diese zur Verherrlichung Gottes und zur Segnung der Menschen. Der Herr begehrt eine Herrlichkeit, die weit größer ist, als sie diese Welt geben kann, indem Er sagt: „Und nun verherrliche du, Vater, mich bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.“ Und mit dieser großen Herrlichkeit wünscht Er den Vater zu verherrlichen.