Einleitung
Die Absicht und das Ziel der Rede in Johannes 13 ist es, die Gläubigen in die richtige Beziehung zu Christus und zueinander zu bringen, damit sie Gemeinschaft oder „Teil“ mit Christus erleben, und zwar an dem neuen Platz, den Er als Mensch in dem Haus des Vaters eingenommen hat. In der danach folgenden Rede (Joh 14) dürfen wir Gläubige betrachten, die diese Gemeinschaft mit den göttlichen Personen genießen – mit Christus im Haus des Vaters, mit dem Vater, geoffenbart im Sohn, und mit dem Heiligen Geist, vom Vater gesandt.
Diese beiden Reden werden von der nun folgenden durch die Worte getrennt: „Stehet auf, lasset uns von hinnen gehen“ (Joh 14,31). Mit diesen Worten geht der Herr mit seinen Jüngern aus dem Obergemach in die Welt hinaus. Die nun folgenden Reden sind in ihrem Charakter der Umgebung angepasst, in der sie gesprochen werden; denn nun werden die Jünger in der Welt betrachtet, von der Christus verworfen wurde. In dieser Welt sollen sie Frucht für den Vater bringen und für Christus Zeugnis abzulegen. Es ist mit Recht gesagt worden: „Im Vorangegangenen liegt die Betonung auf Trost, im Hinblick auf den Weggang; im Letzteren ist es Unterweisung für den Zustand, der nun folgen wird wird. Dort ebenso wie hier unterweist und tröstet der Redende.“
Die Einteilung dieser Rede ist deutlich zu erkennen:
In Johannes 15,1 bis 8 lautet das Thema: Fruchtbringen für den Vater.
In Johannes 15,9 bis 17 finden wir die christliche Gesellschaft vorgestellt – der Kreis der Liebe –, in der allein Frucht für den Vater gefunden werden kann.
In Johannes 15,18 bis 25 sehen wir die Welt ohne Christus an uns vorbeigehen – der Kreis des Hasses –, von der die christliche Gesellschaft umgeben ist.
In Johannes 15,26 und 27 wird uns der Tröster – der Heilige Geist – vorgestellt, der vom Herrn in der Herrlichkeit zeugt und die Jünger befähigt, auf der Erde Zeugnis für Christus abzulegen.
Fruchttragen
Joh 15,1: Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner.
Der Herr führt den Gegenstand des Fruchttragens mit den Worten ein: „Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Weingärtner.“ Diese Worte werden einen fremden Klang in den Ohren der Elf gehabt haben, die durch die Psalmen und die Propheten gewohnt waren, an Israel als den Weinstock zu denken. Der Psalm 80 redet hier von diesem Volk als dem aus Ägypten gezogenen Weinstock. Jesaja erwähnt in seinem Gesang von dem Geliebten Gottes Weinberg und zeigt uns mit diesem Bild die Liebe und Sorgfalt, die Jahwe auf sein Volk verwandte (Jes 5,1-7). Jeremia redet von Israel als von „Edelreben“, aber das Volk hat keine Frucht für Gott gebracht (Jer 2,21). Jesaja klagt, dass es nur unreife Trauben eintrug, und
Jeremia, dass sich die Edelreben in „entartete Ranken“ eines fremden Weinstocks verwandelt hatten. In gleicher Weise spricht Hosea von einem „wuchernden Weinstock“, der nur Frucht für sich selbst bringt, aber nicht für Gott (Hos 10,1).
Gott hat Israel viele Jahre in Langmut und Geduld auf mancherlei Weise erprobt und Frucht an ihm gesucht. Doch Er fand nur unreife und wilde Trauben. Die letzte und größte Probe war die Gegenwart des geliebten Sohnes. Seine wohlerwogene Verwerfung war der endgültige Beweis, dass Israel eine „entartete Ranke“, „ein nicht tragender Weinstock“ war. So kam der Augenblick, den Jüngern zu eröffnen, dass Israel beiseitegesetzt war. Wenn sie für Gott Frucht tragen wollten, könnte dies nicht länger in Verbindung mit Israel, der entarteten Ranke, sondern mit Christus, dem wahren Weinstock, sein. Christus und seine Jünger werden den Platz Jerusalems und seiner Kinder einnehmen.
Doch während die Unterredung des Herrn uns mit dem bekannt macht, was den Platz Israels auf Erden einnimmt, wird uns damit wohl kaum gesagt, dass dies das Christentum in seiner himmlischen Berufung vorstellt. Es handelt sich hier nicht um Beziehungen mit Christus im Himmel als Glieder seines Leibes durch den Heiligen Geist – eine lebendige Verwandtschaft, die nicht gebrochen werden kann –, sondern um Beziehungen mit Christus auf Erden durch das Bekenntnis der Jüngerschaft. Dieses Bekenntnis mag echt oder nur ein äußeres Bekenntnis sein; daher spricht der Herr von zwei Arten von Reben: von solchen, die Leben haben und die dies durch Fruchtbringen zeigen, und von solchen, die kein Leben haben und deshalb hinausgeworfen und verbrannt werden.
Wie passend, dass von allen Gewächsen gerade der Weinstock als ein Bild gebraucht wird, um zu zeigen, dass Frucht das große Thema der Unterredung und der Beweis wahrer Jüngerschaft ist. Andere Bäume mögen auch, abgesehen von ihrer Frucht, nützlich sein. Bei dem Weinstock ist dies nicht der Fall. Als Hesekiel vom Weinstock spricht, fragt er: „Wird Holz davon gewonnen, um es zu einer Arbeit zu verwenden? Oder nimmt man davon einen Pflock, um irgendein Gerät daran zu hängen?“ (Hes 15,3). Wenn der Weinstock keine Frucht hervorbringt, ist er nutzlos.
Was ist nun die geistliche Bedeutung der Frucht? Dürfen wir nicht sagen, dass Frucht bedeutet, dass Christus im Gläubigen zum Ausdruck kommt ? Wir lesen in Galater 5,22.23:
„Die Frucht des Geistes ist: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit.“ Was ist dies anders als eine schöne Beschreibung Christi, als Er in Niedrigkeit durch diese Welt wandelte? Daher, wenn solche Frucht in den Gläubigen gesehen wird, so ist dies die Darstellung Christi in seinem Volk. Persönlich hat Er die Erde verlassen, doch es ist die Absicht Gottes, dass Christus seinem Charakter nach in denen gesehen werden soll, die sein sind. Christus ist der Person nach in das Haus des Vaters zurückgekehrt, aber seinem Charakter nach wird Er in seinem Volk auf Erden fortgesetzt.
Frucht ist nicht genau die Ausübung einer Gabe, eines Dienstes oder eines Werkes. Wir werden ermahnt, „würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen, in jedem guten Werk fruchtbringend“ (Kol 1,10). Diese Stelle, die uns zeigt, wie eng Fruchttragen mit guten Werken verbunden ist, zeigt gleichzeitig, dass auch ein klarer Unterschied zwischen diesen Dingen besteht. Die guten Werke werden in einer solchen christusähnlichen Art getan, dass in ihnen, die den Menschen Nutzen bringen, für Gott annehmbare Frucht gefunden wird. Der natürliche Mensch kann sehr viele gute Werke tun, doch in diesen allen wird keine Frucht für Gott gefunden. Warnt uns doch der Apostel in 1. Korinther 13, dass wir in Dienst und guten Werken vorangehen können und doch der Liebe bedürfen, des vornehmsten Ausdrucks der Frucht.
Wenn Dienst und Werk Frucht sein würden, dann wäre diese in weitem Maß auf jene begrenzt, die eine Gabe haben und die Fähigkeit besitzen, diese auszuüben. Doch wenn Frucht die Darstellung des Charakters Christi ist, so wird es in der Tat eine Möglichkeit und ein Vorrecht für jeden Gläubigen, vom ältesten bis zum jüngsten, Frucht zu bringen.
Würde der, der Christus liebt und die Vollkommenheit dessen bewundert, an dem alles lieblich ist, nicht wünschen, seine Gnade in irgendeinem Maß darzustellen und auf diese Weise Frucht zu bringen? Wenn dies das Verlangen des Herzens ist, so sind uns durch den Herrn drei Wege angegeben, die uns zur Erfüllung desselben führen:
Der erste Weg ist die gnädige Handlungsweise des Vaters,
der zweite die praktische Reinigung durch die Macht des Wortes Christi,
und der dritte die Verantwortlichkeit des Gläubigen, in Christus zu bleiben.