Behandelter Abschnitt Neh 1,1-3
Einleitung
Die Geschichte des Überrestes des Volkes Gottes, der aus der babylonischen Gefangenschaft befreit und zu Gottes Stadt in Gottes Land zurückgebracht wurde, ist von grossem Interesse. Der Glaube und Eifer dieses Überrests, sein Versagen und die Wiederbelebungen, das Werk, das sie ausführten, der Widerstand, auf den sie stiessen und die Schwierigkeiten, die sie überwanden, – das alles macht ihre Geschichte reich an Belehrung für das ganze Volk Gottes. Überdies enthält sie besondere Unterweisungen für die wenigen, die sich in diesen letzten Tagen von den Fesseln der menschlichen, religiösen Systeme gelöst haben, in denen leider die grosse Mehrheit des Volkes Gottes noch immer festgehalten wird.
Diese Geschichte wird uns in den geschichtlichen Büchern von Esra und Nehemia und in den prophetischen von Haggai, Sacharja und Maleachi enthüllt. Im Lauf der Geschichte stellt das Buch Nehemia einen wichtigen Abschnitt dar. Wir finden darin die letzte aufgezeichnete Erweckung unter dem zurückgekehrten Überrest. Während seiner ganzen Geschichte geschahen verschiedene Erweckungen, jede mit einem besonderen Ziel; denn bei Gott gibt es keine blossen Wiederholungen.
Die erste Erweckung fand unter der Führung Serubbabels, des Landpflegers, statt. Mit ihm stand Jeschua, der Hohepriester, in Verbindung. In dieser Zeit wurde der Altar aufgebaut und der Grund zum Tempel gelegt (Esra 3).
Die zweite Erweckung, 17 Jahre später, geschah unter dem Dienst der Propheten Haggai und Sacharja. Das Resultat war die Wiederaufnahme des Bauens am Haus Gottes und seine Fertigstellung (Esra 5 und 6).
Die dritte Erweckung, einige Jahre später, brachte unter Esra, dem Priester, das Gesetz des Hauses Gottes wieder ans Licht, mit dem Nachdruck auf die Heiligkeit, die sich dem Haus Gottes geziemt auf ewig (Esra 7-10).
Die vierte und letzte Erweckung, 14 Jahre später, unter der Führung Nehemias, hatte das Bauen der Stadtmauer, das Aufrichten der Tore und die Wiedereinsetzung der Autorität des Wortes Gottes zur Folge.
So sehen wir, dass dieser schwache und geringe Überrest ohne übernatürliches Eingreifen Gottes in seiner Stellung im Land und in der Stadt Gottes aufrecht erhalten wurde. Gott tat es durch die aufeinanderfolgenden Erweckungen, in denen Er in Gnaden zu ihren Gunsten wirkte. Und doch ist es sehr ernst, festzustellen, dass es trotz des Eingreifens Gottes ihre stete Tendenz war, in einen niedrigeren geistlichen Zustand hinabzusinken. Die verschiedenen Erweckungen hielten die Abwärtsbewegung für eine Zeitlang auf, aber sobald die Energie, welche die Erweckung ausgelöst hatte, nachliess, machte sie sich wieder bemerkbar.
Überdies ist es sehr lehrreich, die verschiedenen Werkzeuge oder Gefässe zu beachten, die Gott in seiner Weisheit benützt, um die einzelnen Erweckungen herbeizuführen. Der erste Mann, den Gott gebraucht, ist Serubbabel, ein Enkel Jojakins, des Königs von Juda; also ein Mann von königlicher Abstammung. Dann, ohne Serubbabel auf die Seite zu stellen, benützt Gott in der zweiten Erweckung die Propheten Haggai und Sacharja. Nachdem sie ihre Botschaft ausgerichtet haben, ziehen sie sich in den Hintergrund zurück. Die dritte Erweckung vollzieht sich unter Mitwirkung Esras, des Priesters. Die letzte Erweckung wurde unter der Führung Nehemias bewirkt, der weder ein Adeliger, noch ein Prophet, noch ein Priester war, sondern wie man sagen könnte, ein Mann aus dem einfachen Volk, der seinem irdischen Beruf als Mundschenk des Königs nachging.
So können wir Gottes unumschränktes Handeln verfolgen, wie Er sehr verschiedene Werkzeuge auswählt, um sehr verschiedene Aufgaben zu verschiedenen Zeiten auszuführen. Jedes Gefäss ist für seinen Dienst geeignet, und jede Aufgabe passt in ihre Zeit. Seitens dieser verschiedenen Männer Gottes sehen wir ein geistliches Verhalten, indem sie jeden besonderen Diener, den Gott erweckt, anerkennen. Sie sind deshalb auch bereit, anderen Platz zu machen und sich in den Schatten zurückzuziehen, wenn ihre eigene besondere Aufgabe erfüllt ist.
Es ist unmöglich, die Geschichte dieses zurückgekehrten Überrestes zu lesen, seine Erweckungen zu erleben, die Werkzeuge, die Gott benützte und die Aufgaben, die sie erfüllten, zu sehen, ohne eine auffallende Übereinstimmung mit unseren Tagen festzustellen. Manche sind befreit worden von dem grossen babylonischen System der Christenheit, worin die Versammlung gefangen gehalten wurde. Aber sehen wir nicht in diesen Befreiten wieder die Geschichte des Versagens des Menschen in seiner Verantwortlichkeit, obwohl Gott sie durch sein unumschränktes Eingreifen immer wieder zurückhielt? Und müssen wir nicht mit Kummer und Beschämung bekennen, dass die Neigung dieses Überrestes (wenn wir ihn so nennen dürfen) immer abwärts war, zu einem niedrigeren geistlichen Zustand hin.
Wenn wir versuchen, einen Überblick über das besondere Wirken des Geistes Gottes in diesen letzten Tagen zu erhalten, können wir dann nicht erkennen, dass die Erweckungen denen der Tage Esras und Nehemias gleichen? In der Erweckung am Anfang des letzten Jahrhunderts gebrauchte Gott geistlich und verstandesmässig besonders begabte Werkzeuge, Männer von grosser Charakterstärke, die auf manchem Gebiet des Lebens Führer der Menschen gewesen wären. Durch diese Männer wurden die großen Wahrheiten in Bezug auf die Kirche oder Versammlung wieder auf den Leuchter gestellt. Auch traten solche in den Vordergrund, die dem Studium der prophetischen Wahrheit ungeheuren Antrieb verliehen. Durch ihren Dienst fand die glückselige Hoffnung auf die Wiederkunft Christi für die Seinen mit all den damit verbundenen Herrlichkeiten eine Wiederbelebung. Ferner traten solche hervor, deren Dienst mehr priesterlichen Charakter hatte. Sie stellten den Heiligen ihre himmlische Berufung vor mit dem Vorrecht, Gott zu nahen, zu seinem Wohlgefallen. Sie zeigten aber auch die sich daraus ergebende Notwendigkeit einer heiligen Absonderung von allem Bösen in der Christenheit.
In der neueren Zeit hat Gott Diener gebraucht, die keine hervorragende Bedeutung als Führer, Propheten oder Priester haben. Man könnte sie vielleicht, wie Nehemia es war, als Männer aus dem Volk bezeichnen, die in den meisten Fällen einen irdischen Beruf ausüben und daneben dem Herrn dienen. Ihre besondere Aufgabe ist, wie die Nehemias, der Bau der Mauer, das Aufrichten der Tore und die Verteidigung der Autorität des Wortes Gottes. Mit andern Worten, sie versuchen das Licht und die Vorrechte, die dem Volk Gottes durch die vorangegangenen Führer, Propheten und Priester geschenkt wurden, zu erhalten.
Im weiteren Verlauf der damaligen Geschichte wird die Notwendigkeit und der Gebrauch der Mauer und der Tore klar werden. Und wenn wir das gesehen haben, wird es uns leicht fallen, die symbolische Bedeutung, die sie für uns heute haben, zu begreifen. Hier ist es nur nötig zu bemerken, dass die Mauern und Tore in Verbindung mit dem Haus Gottes aufgerichtet wurden – die Mauern, um das Böse und böse Personen vom Haus Gottes auszuschliessen; die Tore, um allen aus dem Volk Gottes, die in Aufrichtigkeit zum Haus Gottes kamen, freien Zugang zu gewähren.
Heute ist das Problem unter denen, die aus den menschlichen Systemen herausgeführt wurden, nicht so sehr die Erläuterung der Wahrheit selbst, als vielmehr die Handhabung der Mauern und Tore, durch welche die Wahrheit erhalten werden soll. Wenn heilige Absonderung, von der die Mauer ein Bild ist, und die Anwendung göttlicher Sorgfalt in der Zucht und Zulassung zu den Vorrechten des Hauses Gottes – vorgestellt in den Toren – nicht festgehalten werden, geht die wiedererlangte Wahrheit bald verloren. Und wie in Nehemias Tagen, so ist es auch in den unsrigen: Die Bemühung, die Mauer zu bauen und die Tore aufzurichten, ruft Widerspruch hervor.
Heute wie damals begegnet man energischem Widerstand von innen und aussen. Wie damals so auch heute wird jeder mögliche Einwand gegen die Aufrechterhaltung von Mauern und Toren ins Feld geführt. Das tolerante Fleisch ist immer bereit, die Erfordernisse im Dienst für den Herrn, die Freiheit des Dieners, die Hilfe für die Gläubigen in den menschlichen Systemen, die Verkündigung des Evangeliums an die Sünder – alles Dinge, die an sich recht sind – als Argumente für den Widerstand gegen Mauern und Tore vorzubringen. Lasst uns anderseits aber beachten, dass das gesetzliche Fleisch genauso in der Lage ist, Mauern und Tore für sektiererische Zwecke und Parteiungen zu missbrauchen.
Den Widerstreit, dem wir heute gegenüberstehen, haben andere Menschen zu anderen Zeiten schon durchgestanden. Gerade darum sind die Geschichte ihrer Erfahrungen, der Widerstand, dem sie begegneten, die Übungen, die sie durchmachten, die Umstände der Schwachheit, in denen sie arbeiteten und kämpften, die Grundsätze, die sie leiteten, ihre Siege und Niederlagen von grösstem Interesse für uns. Sie sind voll Belehrungen, Warnungen und Ermutigungen. Wenn wir ihre Geschichte lesen, wollen wir uns an Römer 15,4 erinnern: „Denn alles, was zuvor geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, auf dass wir durch das Ausharren und durch die Ermunterung der Schriften die Hoffnung haben.“
Im übrigen wollen wir, wenn wir mit dem Studium dieses Teiles von Gottes Wort beginnen, das Folgende festhalten: Die Autobiographie Nehemias ist ein Bericht der letzten Erweckung des Überrests des Volkes Gottes, der aus der Gefangenschaft zurückkehrte. Sie fand etwa 80 Jahre nach der ersten Rückkehr statt. Das besondere Ziel dieser letzten Wiederbelebung war der Wiederaufbau der Stadtmauer, die Aufrichtung der Tore und die Wahrung der Autorität des Wortes Gottes.
Die allgemeine Einteilung des Buches ist klar:
Kapitel 1–3: Der Arbeiter und seine besondere Aufgabe.
Kapitel 4–7: Der Widerstand gegen die Arbeit und die Vorsichtsmassnahmen gegen die Angriffe des Feindes.
Kapitel 8–11: Die Wiedereinsetzung der Autorität des Wortes Gottes.
Kapitel 11–13: Die Verwaltung der Stadt.
Die Zubereitung des Dieners
Im einführenden Kapitel werden uns die verborgenen Übungen beschrieben, durch die Gott das Gefäss für die besondere Aufgabe, die es in Angriff zu nehmen hat, zubereitet. Esra, das Werkzeug einer früheren Erweckung, war nicht nur ein Priester, sondern auch ein Schriftgelehrter – einer, der im Wort Gottes gut bewandert war. Nehemia war eher ein praktischer Mann der Dinge. Als Mundschenk des Königs nahm er in der Burg Susan eine verantwortliche weltliche Stellung ein. Aber weder die angenehmen Umstände des Palastes, noch die einträgliche Stellung, die er hatte, noch die Gunst des Königs, in der er stand, verminderten sein Interesse am Volk Gottes und der Stadt Jerusalem.
Er benutzt die Gelegenheit der Ankunft einer seiner Brüder, der mit andern von Jerusalem gekommen war, um sich über den Zustand des entronnenen Überrests und der Stadt Jerusalem zu erkundigen.
Er erfährt, dass trotz früherer Erweckungen, das Volk in grossem Unglück und in Schmach ist, und dass die Mauer von Jerusalem niedergerissen und die Tore mit Feuer verbrannt sind.
Das Volk Gottes mag in Unglück sein, durch Verfolgung aufgrund seines treuen Zeugnisses, und es mag in Schmach sein, um des Namens Gottes willen. Wenn das der Fall ist, steht es gut um dasselbe, denn der Herr selbst sagt: „Glückselig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen . . . um meinetwillen“ (Mt 5,11). Auch ein Apostel kann schreiben: „Wenn ihr im Namen Christi geschmäht werdet, glückselig seid ihr!“ (1Pet 4,14). Aber leider kann das Volk Gottes auch in Unglück geraten wegen seines niedrigen moralischen Zustandes und in Schmach seitens der Welt durch die Ungereimtheit seines Wandels und seiner Wege. Dass dies in den Tagen Nehemias der Fall war, wird bezeugt durch die Tatsache, dass die Mauer von Jerusalem „niedergerissen“ und ihre Tore „mit Feuer verbrannt‘ waren. Die Folge davon war die Verwüstung Jerusalems und deshalb der Beweis des niedrigen Zustandes des Volkes.
Die Mauer stellt bildlich die Aufrechterhaltung der Absonderung vom Bösen dar; die Tore reden von Ausübung göttlicher Sorgfalt in Zulassung und Zucht. In jedem Zeitalter sind Lockerung der Verbindungen und Nachlässigkeit in der Zucht unter dem Volk Gottes sichere Zeichen eines niedrigen geistlichen Zustandes.
Es kann kein geistliches Gedeihen unter dem Volk Gottes geben ohne aufrechterhaltene Absonderung zwischen den Gläubigen und der Welt. Sei es nun die Welt religiösen Heidentums, wie in Nehemias Tagen, oder die Welt eines verdorbenen Judentums, wie in den Tagen der Jünger, oder die Welt verdorbenen Christentums unserer eigenen Tage.