Behandelter Abschnitt Neh 1
Das Buch, mit dem wir uns nun beschäftigen, gibt uns den letzten Blick auf das Volk Gottes im Alten Testament, soweit es seine Geschichte betrifft; daher ist es von besonderem Interesse für uns. Es ist die letzte Zeit für die Juden, so wie wir jetzt in der letzten Zeit für das Volk Gottes hier auf der Erde herausgerufen werden. Diese letzte Zeit für uns begann, bevor der letzte Apostel weggenommen wurde, damit Gott uns eine bestimmte, eindeutige, göttliche Belehrung gebe; nicht nur ein nüchternes und gesundes Urteil aus der Schrift her, sondern damit der Heilige Geist uns deutlich sagen könne, dass es die letzte Zeit ist. So sehen wir sehr deutlich die starke Ähnlichkeit zwischen den Worten, die in jenen Tagen über Israel gesprochen wurden, und der Stellung, die die Güte Gottes uns jetzt gegeben hat. Ich sage das nicht, um unsere Vorstellungskraft anzuregen, sondern damit wir die Belehrung aufnehmen, die der Heilige Geist uns gegeben hat, das, was Er uns über den Überrest, der zurückgekehrt war, und über seinen Zustand sagt.
Es gibt einen beträchtlichen Unterschied im Ton zwischen dem Buch Esra und dem Buch Nehemia. Esra zeigt uns den Überrest, der aus Babylon zurückkehrt war und sich zunächst in Jerusalem, also im Land, versammelte. Das Buch Nehemia zeigt uns denselben Überrest zu einem späteren Zeitpunkt – dem letzten, den uns die Schrift historisch zeigt. Maleachi fällt zweifellos in die Zeit Nehemias, genauso wie Sacharja und Haggai in die Zeit von Esra fallen. Haggai und Sacharja waren einige Zeit vor Maleachi. Sie ermöglichen es uns also, die Prophezeiung dieser Bücher der Schrift mit der Geschichte zu verbinden.
Nehemia, ein Mann Gottes
Aber das Erste, worauf ich hinweisen möchte, als nützlich für uns in praktischer Hinsicht, ist die Gesinnung, die das gesamte Verhalten Nehemias prägt. Er war das Werkzeug, das Gott für seine eigene Herrlichkeit in den Umständen, die uns jetzt beschäftigen, geformt hat. Wir werden feststellen, dass es eine besondere Angemessenheit in diesem Buch gibt, ohne im Geringsten behaupten zu wollen, dass alles, was Nehemia tat oder sagte, den Gedanken Gottes und seinen Absichten entsprach. Das ist nicht der Fall. Schließlich war er nur ein Mensch, wenn auch ein Mann Gottes, aber doch ein Mensch. Dennoch sehen wir, dass der Heilige Geist kraftvoll durch diesen Mann gewirkt hat, und dass das, was Gott damals zu seiner eigenen Ehre gewirkt hat, uns heute zu unserem Nutzen mitgeteilt wird. Wer wollte das bestreiten?
Nehemia, ein Mann Gottes
Was ist nun das erste große und markante Merkmal? Was ist der große moralische Charakterzug, der Nehemia kennzeichnet? Wir werden ihn finden, nicht nur am Anfang, sondern durchgängig, vom Anfang bis zum Ende. Es ist, so wage ich zu sagen, ein tiefes und beständiges Empfinden für den ruinierten Zustand des Volkes Gottes. Es gibt nichts Wichtigeres für uns! Daraus folgt keineswegs, dass wir, weil wir, die wir in diesen Tagen leben, dem Herrn angehören, dieses Empfinden mehr besitzen als sie, weil sie wirklich Israeliten waren. Sie waren genauso wirklich Israeliten wie Nehemia, aber sie hatten nur einen sehr unvollkommenen Einblick in die Gedanken Gottes über den Zustand seines Volkes.
Dennoch ist es offensichtlich, dass ein derart wichtiges Urteil den ganzen Verlauf unseres Dienstes, unserer Gebete und unserer Anbetung beeinflusst. Entweder sind wir in Gemeinschaft mit Gott – ich meine nicht über uns selbst, sondern über sein Volk – oder wir sind es nicht. Wenn wir mit einer Vorstellung arbeiten und Gott mit einer anderen – wenn wir einen Bereich hegen und Gott im Gegensatz dazu einen etwas anderen –, dann ist es offensichtlich, dass, was auch immer die Güte Gottes sein mag, uns zu erhalten, es dennoch ein Abweichen von seinen Zuneigungen geben muss, ebenso wie von dem gesunden Urteilsvermögen, das bei einem Kind Gottes gefunden werden sollte. Denn ganz offensichtlich hängt alles, was wahr und heilig und gut und zur Ehre Gottes ist, davon ab, dass wir in Übereinstimmung mit Gottes Gedanken und Werk sind.
Nehemia war und musste mit einem spärlichen Teil des Überrestes zufrieden sein. Das ist ein trauriges Empfinden, aber wir müssen uns immer der Wahrheit stellen. Das führte nicht dazu, dass Nehemia den Überrest geringschätzte. Sein Grund, sie mit besonderer Zuneigung zu betrachten, ob sie nun gut oder schlecht um sie stand, war, dass sie Gottes Volk waren.
Jetzt hatten sie diesen Anspruch verloren, und das ist eine sehr wichtige Sache, die man nicht aus dem Auge verlieren sollte. Als Volk war das, was Gott jetzt auf sie geschrieben hatte, nicht nur Ikabod (1Sam 4,21): Die Herrlichkeit war lange, lange vorher weggegangen. Die Herrlichkeit war verschwunden, als die Lade von den Philistern genommen wurde; aber sie selbst waren gefangengenommen und weggeführt worden, nicht nur ins Land der Philister, sondern nach Babylon. Die große Macht, die den Götzendienst symbolisiert, hatte sie gefangengenommen. Ein Überrest kehrte zurück, aber sie hatten die Lektion Gottes kaum gelernt. Äußerlich hatten sie zweifellos davon profitiert. Wir finden nicht, dass sie danach zum Götzendienst zurückkehrten. Dennoch hatten sie sehr wenig Interesse an der Herrlichkeit Gottes, die sie verloren hatten. Das war es, was Nehemia kennzeichnete.
Ruin und Hilfsquelle
Es gibt zwei Dinge, geliebte Brüder, und wenn man in einem der beiden versagt, dann ist das der größte Verlust für einen Menschen. Das eine ist das Festhalten an der Größe des Verderbens, das andere das Festhalten an der Treue Gottes trotz des Verderbens. Diese waren vorhanden, und zwar zusammen in Nehemia. Der Herr gebe, dass sie in uns gefunden werden können! Wir brauchen beides, und wir können nie wirklich dem entsprechen, was Gott von uns erwartet, wenn wir nicht in Gemeinschaft mit Ihm in beides eintreten und befähigt werden, beides festzuhalten.
Nun gibt es viele Dinge, die uns dazu bringen, das zu vergessen. Angenommen, wir sind im Namen des Herrn versammelt, und Er gibt uns ein ausgeprägten Empfinden seiner Gegenwart: Wir sind in Gefahr, den zerstörten Zustand der Versammlung zu vergessen. Wir beginnen, nicht nur dankbar zu sein, was immer richtig ist, sondern wir beginnen, zufrieden zu sein. Womit? Zweifellos scheint es mit der Gnade Gottes uns gegenüber so zu sein. Ja, aber wir sind in Gefahr, tatsächlich mit uns selbst zufrieden zu sein. Wir sind zufrieden: Ganz richtig, aber haben wir noch das Empfinden des Verderbens in uns? Ist es nicht ein Kummer und eine Last – die Zerstreuung der Glieder Christi – die tiefe Verwüstung von allem, was seinen Namen trägt – alles, was in dieser weiten Welt gegen den Herrn getan wird?
Was bedeutet das für unser Herz? Worum geht es dem Papst? Worum geht es den Protestanten? Was wird tun nur alle die, die Namen des Herrn Jesus tragen? Haben wir denn damit etwas zu tun? Wir sollten – ich will nicht sagen, etwas damit zu tun haben, aber wir sollten das sehr empfinden. Wir sollten das als Last tragen, was die Herrlichkeit des Herrn Jesus befleckt. Und deshalb sind wir in dem Augenblick, in dem wir uns im Herzen von dem trennen, was den Namen des Herrn Jesus auf der Erde trägt, und uns in der Bequemlichkeit und in der genossenen Gegenwart des Herrn niederlassen, ganz und gar falsch in dem grundlegendsten Prinzip Gottes, was das betrifft, was uns im gegenwärtigen Zustand der Versammlung Gottes zusteht.
Siehst du, wie Nehemia empfindet? Persönlich war er von jeder Art Bequemlichkeit umgeben. Es war ein jämmerlicher Tausch, was das betraf, den Hof des großen Königs zu verlassen und all die Verwüstungen des Landes und Jerusalems aufzusuchen. Schließlich hätte er leicht denken können: „Warum sollte ich mich um Judäa kümmern? Wegen unserer Sünden sind wir vertrieben worden, und es ist offensichtlich, dass die Menschen, die dort sind, ganz und gar unwürdig sind. Sie verhalten sich so, dass sie nicht an die Ehre Gottes denken und sich keine Sorgen darum machen. Warum sollte ich mich darüber aufregen? Hat Gott nicht gesagt: „Lo-Ammi“ (nicht mein Volk)? Hat Er nicht den gesamten ehrenvollen Platz weggenommen, den wir einst einnahmen? Warum sollte ich mich noch mehr darum sorgen? Es ist alles vorbei. Es ist nicht gut, an das Volk Gottes zu denken. Es ist nur eine Frage des individuellen Gläubigen. Alles, was ich zu tun habe, ist, dem Herrn zu dienen, wo ich bin. So hätte er argumentieren können.
Zweifellos war Nehemia ein frommer Mann, und er war auch an einem Ort, wo er seine Frömmigkeit hätte genießen können. Er scheint nicht unter irgendwelchen Zwängen gestanden zu haben. Offensichtlich respektierte ihn der große König und schätzte ihn. Er befand sich in einer Stellung mit hoher Verantwortung, denn man darf die Stellung eines Dieners in modernen Tagen nicht mit der verwechseln, die Nehemia damals innehatte.
Der Mundschenk war in jenen Tagen jemand, der in engster Beziehung zum König stand, und ganz besonders zum König von Persien. Wir wissen, dass sie sich vor den Augen ihrer Diener äußerst klein machten. Ihrem Volk – ihren Untertanen – erlaubten sie nicht, sie zu sehen, außer bei verhältnismäßig seltenen Gelegenheiten. Dies nahm mehr und mehr unter ihnen zu, und es war immer, durch die Eifersucht und Angst der Menschen, eine sehr verantwortungsvolle Stellung, denn die Art und Weise, wie viele der Untertanen sich an dem Hochmut und Stolz dieser Könige rächten, war, dass sie ihre Herren m Stich ließen und sich ihrer erledigten.
Der Mundschenk war also jemand, der in einer der heikelsten und verantwortungsvollsten Stellungen des Reiches stand. Er war jemand, der das Leben des Königs besonders unter seiner Kontrolle hatte – wenn ich das so sagen darf –, und wer in dieser Stellung ist, war praktisch in einer Stellung der innigsten Beziehung zum König – gewissermaßen eine Art Wesir oder Premierminister des Königs. Nehemia hatte das Vertrauen des Königs, wie wir deutlich sehen können, und wurde in seinem Gewissen nicht beeinträchtigt, aber sein Herz war bei dem Volk Gottes.
Nehemia und Mose
Nehemia erinnert uns in diesem abschließenden Buch an das, was wir am Anfang der Geschichte des Volkes Gottes finden. Mose, der Führer des Volkes aus Ägypten, hatte genau das gleiche Empfinden für das Volk Gottes. Durch die Vorsehung befreit, in das Haus der Tochter des Pharaos gebracht, mit den allerbesten Aussichten, warum sollte er sie nicht nutzen? Warum sollte er nicht warten und seinen Einfluss nutzen, um das Volk herauszuführen? Warum sollte er sie nicht allmählich von ihren Lasten befreien? Hätte er es den Israeliten zur Abstimmung vorgelegt, ich zweifle nicht daran, dass sie zu diesem Schluss gekommen wären. Sie hätten gesagt, dass kein Weg so ausgezeichnet, so weise, so klug gewesen wäre, als dass Mose einfach ein wenig gewartet hätte.
Er stand zu dieser Zeit mit einem Fuß auf dem Thron, wenn man so will. Es wäre vergleichsweise einfach für ihn gewesen, denn wir hören nicht von dem Sohn des Pharaos, sondern von der Tochter des Pharaos. Er hätte leicht die Stellung erlangen können, zu der ihn sein Genie natürlich berechtigen würde. Dynastiewechsel waren in der östlichen Welt im Altertum immer sehr leicht zu bewerkstelligen, so dass nichts mehr als eine Eröffnung in der Vorsehung erschienen wäre, als das, was Gott Mose gegeben hatte. Aber nein; er liebte das Volk, und, was noch viel wichtiger war, er liebte Gott. Er hatte ein Empfinden dafür, was Gottes Herrlichkeit war, und ein Empfinden dafür, dass Gott nach seiner eigenen Herrlichkeit handeln musste, und dass es keinen anderen Weg gab, das Volk zu segnen. ***
So auch Nehemia – wie Mose am Anfang so auch er am Ende der Geschichte – der eine bevor sie zu einem Volk geformt wurden – der andere danach. „Nicht mein Volk“, stand auf ihnen geschrieben – derselbe Geist, wenn auch unter völlig anderen Umständen. Und so war sein Herz mit Kummer erfüllt. Es war nichts Persönliches; es war nur der Kummer der Liebe, aber es war der Kummer der Liebe, der Gott entspricht. Es war die Liebe zu den Menschen, weil sie sein Volk waren, obwohl Gott ihren Anspruch ausgelöscht hatte. Dennoch gab es die Tatsache, und er wusste genau, dass, obwohl Gott das Volk für eine Zeit lang verstoßen hatte, es nicht für immer war, und dass der Titel „Mein Volk“ in Israel strahlender denn je leuchten würde, wenn der Messias sie wieder aufnimmt, wenn sie im Herzen umkehren und vor Ihm Buße tun und Er sie rechtfertigt und befreit.
Nehemia liebte also das Volk Gottes gerade zu der Zeit, als es seinen Anspruch verloren hatte – als es für seine schweren Fehler und Sünden gegen Gott gezüchtigt wurde – zu einer Zeit, als es zum Beispiel am vernünftigsten schien, es aufzugeben. Hatte Gott sie nicht aufgegeben? Warum sollte Nehemia dann so viel für sie empfinden? Warum sollte er sich um ein Volk kümmern, das so völlig unwürdig war? Das war für ihn nicht im Geringsten eine Frage. Er wusste, dass es auf der Erde nur den Überrest dieses Volkes gab, der am meisten schuldig und am gerechtesten bestraft war, aber dennoch war es das Volk Gottes, mit dem Gottes Pläne des Segens und der Gnade für die Erde verbunden hat. Er wusste, dass dort, und nur dort, der Messias geboren werden sollte – dass dort der Christus unter diesem Volk und in diesem Land kommen sollte. Deshalb wendet sich sein Herz nach Jerusalem. Es mag in Trümmern liegen, und das tat es auch, aber sein Herz wendet sich dorthin.
Nun möchte ich fragen, liebe Freunde, ob das bei uns der Fall ist, denn die Versammlung Gottes ist mehr für Gott, als Israel jemals war; und Israel war nicht wahrhaftiger ein Volk, das seinen Platz verloren hatte, als die Versammlung jetzt als eine äußere Sache hier auf der Erde ist. Die Schuld der Christenheit, ich zögere nicht zu sagen, ist schlimmer als die Israels. Unvergleichlich gesegneter, ist sie unvergleichlich schuldiger, denn die Schuld steht immer im Verhältnis zu den verkehrten oder missbrauchten Gnaden. Dennoch wage ich zu sagen, dass wir die Versammlung lieben sollten, nicht nur das Evangelium oder den Herrn allein; sondern wenn wir in die Empfindungen Christi eindringen, werden wir wissen, dass Christus die Versammlung liebt; und deshalb, sich nur mit den Barmherzigkeiten zu begnügen, die der Herr uns zeigt, wäre genauso wie Nehemia, der Gott für das preist, was er im Palast des großen Königs genossen hat, und sich damit zufrieden gibt, ohne einen Gedanken und ohne eine Sorge und ohne eine Träne und ohne ein Gebet für das Volk Gottes zu sein.
Aber nicht so. Sein ganzes Herz war, was die irdischen Dinge betraf, auf sie ausgerichtet, und sein Kummer galt der Art und Weise, in der das Volk Gottes jetzt hinter dem zurückblieb, was seiner Herrlichkeit hier auf der Erde gebührte. Daher sehen wir sein Weinen und Trauern: „Und es geschah, als ich diese Worte hörte, setzte ich mich hin und weinte und trug Leid tagelang; und ich fastete und betete vor dem Gott des Himmels“ (V. 4). Und er schüttet Ihm sein Herz aus, und er bekennt, und er bekennt auch in einer Weise, die zeigt, dass keine Selbstgerechtigkeit dabei war. Er schließt sich selbst ein. „Auch wir, ich und meines Vaters Haus, haben gesündigt“ (V. 6). Es gibt keine Isolierung seiner Gesinnung von diesem Bekenntnis des Versagens. Er empfindet seinen eigenen Anteil, und das umso mehr, als er treu war, denn es sind nie die Menschen, die am meisten schuldig sind, die am ehesten bereit sind, zu bekennen. Erst wenn man aus der Schuld der Sünde heraus ist, kann man die Sünde vor Gott umso gründlicher bekennen. Solange du noch unter der entsprechenden Dunkelheit und Wolke bist, hast du nicht in der Gesinnung des Bekennens; aber wenn die Gnade Gottes dein Haupt darüber erhoben hat und von oben auf dich scheint, dann kannst du in der Tat gründlich vor Gott bekennen. Nun konnte Nehemia so empfinden. Wir können aus seinem allgemeinen Geist leicht erkennen, dass er durch die Gnade Gottes ein Mann war, der mit dem Herrn wandelte, und die Dinge klar und richtig empfinden konnte, und sein Herz war frei, sich mit dem Volk Gottes zu beschäftigen. So gesteht er ihr Versagen ein, ihre Abweichen, ihre völlige Ehrlosigkeit; aber er ruft zu Gott.