Behandelter Abschnitt Neh 1-2
Zwölf Jahre waren nach Vollendung des Werkes Esras verflossen, als Nehemia auf dem Schauplatz erschien. Er hielt sich noch als Gefangener in Babel auf (oder in Persien, was grundsätzlich dasselbe ist), während Esra dem Herrn in Jerusalem gute Dienste leistete. Mit dem persischen Königspalast verbunden, wie er war, besaß er zu Esras Zeit vielleicht noch nicht die Freiheit, an der damaligen Bewegung oder Erweckung teilzunehmen; vielleicht war er auch noch nicht durch den Geist dazu ermuntert worden.
Nehemia stellt eine neue Erweckung dar, wenn auch die Schwachheit auf allen Seiten zugenommen hat. Er ist nicht ein Fürst aus Davids Haus, wie Serubbabel, noch ein Priester aus dem Geschlecht Aarons, wie Esra. Er ist sozusagen ein Laie, der Mundschenk des Königs.
In allem diesem gibt es jedoch etwas, das die Gnade, die in ihm wirkte, nur umso größer erscheinen lässt. Die Lasten, unter denen seine Brüder seufzten, verliehen ihm die Kraft, sich von dem persischen Palast loszumachen, geradeso wie sie einst die Trennung Moses von Ägypten veranlasst hatten. Kein Wunder zeichnete diese Tage aus, aber wir finden in ihnen viele Zeugnisse von einer schönen sittlichen Entschiedenheit bei den zurückkehrenden Gefangenen.
Esra war sowohl Schriftgelehrter als auch Priester. Er war ein nachdenkender, anbetender Erforscher des göttlichen Wortes, und fand deshalb die Quellen seiner Kraft sowie seine Leitung in jenem Wort. Mit Nehemia war es anders. Er war ein praktischer Mann, der im Getriebe des täglichen Lebens stand, inmitten der Umstände und Verhältnisse, die die menschliche Geschichte ausmachen. Aber er war ein ernster, aufrichtiger Mann wie Esra, und er nahm das, was er hörte, und ging damit in Gottes Gegenwart, wie Esra es mit dem Gelesenen gemacht hatte.
Er hatte vernommen, dass die Mauern Jerusalems niedergerissen und seine Tore verbrannt seien, und er weinte darüber vor Gott, geradeso wie Esra die Sünden Israels gesehen und vor Gott darüber geweint hatte. Doch mag die Frage hier wohl in uns laut werden: Wie kam es, dass der Anblick dieser Trümmer bei Esra nicht dieselben Gefühle hervorrief? Er hielt sich doch die ganze Zeit in Jerusalem auf, während Nehemia im Palast des Perserkönigs war und nur durch gelegentliche Berichte etwas von der Stadt seiner Väter erfahren konnte. Hatte vielleicht die Energie in Esra abgenommen, und bedurfte er jetzt selbst der Belebung, er, der vor einigen Jahren das Werkzeug gewesen war, um andere aufzuwecken? Solche Dinge kommen vor und sind vorgekommen. In Apostelgeschichte 1,15 sehen wir Petrus als Führer unter seinen Brüdern; in Galater 2 bedurfte er selbst der Belebung, Zurechtweisung und Leitung. Der jüngere Paulus musste seinen älteren Bruder Petrus aufwecken, der dem Herrn schon jahrelang gedient hatte, als Paulus Ihn noch lästerte. Und hier möchte es fast scheinen, als ob der jüngere Nehemia, der dazu noch ein Laie war, den ehrwürdigen Schriftgelehrten aufzuwecken hätte, der viele Jahre vor ihm nach Jerusalem übergesiedelt war, um dort Gott zu dienen.
Sollte diese Annahme nicht zutreffen, so mag uns die Begebenheit zeigen, dass Gott eine Arbeit für den einen Seiner Diener hat, eine zweite für einen anderen; dass Er einen Zweck durch diese Erweckung verfolgt, einen zweiten durch jene. Serubbabel hatte sich mit dem Tempel beschäftigt, Esra mit der Wiederherstellung des Gottesdienstes; und nun steht Nehemia auf, um nach den Stadtmauern und dem inneren Zustand Jerusalems zu sehen. Auch diese Erklärung ist möglich, weil es ähnliche Fälle gibt und gegeben hat. So gab es früher einen Dienst der Gersoniter, der Merariter und der Kehathiter. Derselben Erscheinung begegnen wir in den verschiedenartigen Erweckungen, die im Zeitalter des Christentums stattgefunden haben, besonders seit der Reformation, die auch eine Art Rückkehr aus Babylon war.
Doch wo auch die Ursache liegen mag, dass Esra scheinbar so unbewegt blieb, obwohl die zerstörten Stadtmauern ihm jahrelang vor Augen waren – in jedem Fall steht er, gleich Nehemia, sehr rühmlich da in den Aufzeichnungen und in der Erinnerung des Volkes Gottes.
Nehemia war ein einfacher Mann, voll ernster und aufrichtiger Gefühle für die Ehre Gottes und das Wohl seines Volkes. Sein Buch gibt uns wohl die einzige Selbstbiographie, die wir in der Schrift finden. Dieser treue Mann Gottes schreibt seine eigene Geschichte nieder, und zwar in dem einfachen Stil, der einem wahrheitsgetreuen Bericht angemessen ist. Er lässt uns wissen, wie er sich wieder und wieder beim Fortschreiten seines Werkes zu Gott wendet, im Geist eines glaubend vertrauenden Kindes. Sein Stil erinnert an ein Wort, das ein anderer Schreiber ausgesprochen hat, und das lautet: „Lass Christus bei jedem Gedanken den zweiten sein.“ Das will sagen: Sieh zu, dass deine Seele sich immer schnell zum Herrn kehrt inmitten der Beschäftigungen des Lebens; lass es dir zur Gewohnheit werden, vor Ihm zu sein, nicht durch eine mühevolle Wachsamkeit, sondern durch eine ungezwungene, glückliche und natürliche Übung der Seele.
Neben dieser Gott wohlgefälligen Übung seines Geistes war Nehemias Herz für seine Brüder geöffnet. In tiefer Liebe und mit jener Beredsamkeit, die frisch vom Herzen kommt, nennt er Jerusalem die „Stadt der Begräbnisse seiner Väter“. So tritt uns also in Nehemia eine nach jeder Seite hin anziehende Person vor Augen. Wir gewinnen ihn lieb und können ihn nicht wegen seiner guten Eigenschaften und Vortrefflichkeiten beneiden. Wir verfolgen seine Spur mit liebender Bewunderung.
Die Übung des Geistes, durch die Nehemia ging, ehe er die Erlaubnis seines königlichen Herrn zum Besuch Jerusalems erhielt, ist sehr schön. Vom Monat Kislew bis zum Monat Nisan, das ist vom dritten bis zum siebten Monat, trauerte er vor Gott betreffs der Stadt. Schließlich kommt er vor den König, erhält seinen Urlaub, und eine Zeit wird ihm bestimmt für Reise und Besuch. Ja, es werden ihm selbst Heeroberste und Reiter mitgegeben, die ihn führen und unterwegs beschützen sollen. In all diesem war er bis dahin viel vor Gott allein gewesen. Erweckungen beginnen gewöhnlich mit Einzelnen. Und als Nehemia Jerusalem erreichte, war er zunächst immer noch allein. Während der Nacht besichtigte er die Stadtmauern, um sich mit der Natur des Werkes, das jetzt vor ihm lag, bekannt zu machen. Er prüfte das, was er im Begriff stand, an die Öffentlichkeit zu bringen. Das war sehr richtig, denn das ist der Weg der vom Geist geleiteten Diener, wie geschrieben steht: „Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben“ (Joh 3,11).
Auch ist Nehemia kein Gönner oder Beschützer. Nein, er ist ein Jochgenosse, ein Mitarbeiter wie Paulus, oder gar wie der göttliche Meister des Apostels selbst – der, da Er Herr der Ernte war, doch auch auf dem Erntefeld mitarbeitete. Und dies ist tatsächlich stets die Art und Weise, wie der Geist Gottes die Diener Christi zubereitet. Sie prüfen, was sie lehren, und sie arbeiten als Diener, nicht als Herren oder als Gönner des Werkes Gottes. Sie hüten die Herde nicht als herrschend über ihre Besitztümer, sondern als Vorbilder der Herde. Sie herrschen nicht über den Glauben, sondern sind Mitarbeiter der Freude (vgl. 1Pet 5,3; 2Kor 1,24).