Behandelter Abschnitt Gal 4,12-20
„Seid wie ich, denn auch ich bin wie ihr, Brüder, ich bitte euch; ihr habt mir nichts zuleide getan. Ihr wisst aber, dass ich euch einst in Schwachheit des Fleisches das Evangelium verkündigt habe; und die Versuchung für euch, die in meinem Fleisch war, habt ihr nicht verachtet noch verabscheut, sondern wie einen Engel Gottes nahmt ihr mich auf, wie Christus Jesus. Wo ist nun eure Glückseligkeit? Denn ich gebe euch Zeugnis, dass ihr, wenn möglich, eure Augen ausgerissen und mir gegeben hättet. Bin ich also euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit sage? Sie eifern um euch nicht gut, sondern sie wollen euch ausschließen, damit ihr um sie eifert. Es ist aber gut, allezeit im Guten zu eifern und nicht nur, wenn ich bei euch zugegen bin. Meine Kinder, um die ich abermals Geburtswehen habe, bis Christus in euch Gestalt gewinnt; ich wünschte aber, jetzt bei euch zugegen zu sein und meine Stimme umzuwandeln, denn ich bin euretwegen in Verlegenheit“ ( Gal 4,12-20).
Der Apostel argumentiert hier, wie auch am Anfang, von seinem eigenen Fall ausgehend. „Ich bin wie ihr.“ Ich stehe auf keinem höheren Boden als ihr, weil ich ein Israelit war und „was die Gerechtigkeit betrifft, die im Gesetz ist, für untadelig befunden“ (Phil 3,6). Nein, sondern ich begebe mich von dieser meiner Stellung nach dem Gesetz auf eure Ebene und nehme denselben Boden ein wie ein Sünder aus den Nationen. Der Apostel Petrus tut dasselbe: „Sondern wir [die Juden] glauben durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden wie auch jene“ (Apg 15,11). „Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“ (Röm 3,23).
Nicht die Heiden müssen den jüdischen Boden einnehmen, sondern die Juden müssen den Platz einnehmen, an dem „kein Unterschied“ ist. Der Apostel erinnert die Galater daran, dass er ihnen keinen anderen Anreiz entgegenhält als den des Kreuzes Christi für den wirklich erweckten Sünder (Joh 12,32). Sie hatten seine persönliche Schwachheit beim Empfangen der gesegneten Botschaft, die er überbrachte, übersehen; und als Überbringer einer solchen Nachricht hatten sie ihn als „Engel Gottes . . . wie Jesus Christus“ aufgenommen. Doch was war der Segen, von dem sie sprachen und in dem sie sich rühmten?
Machte es sie glücklich, von Paulus zu hören, wie er die Werke des Gesetzes als die Grundlage ihrer Annahme bei Gott oder ein System von Anordnungen als Grundlage ihrer Nähe zu Gott vorstellte? Sowohl er als auch sie wussten, dass wenn das der Inhalt seiner Verkündigung gewesen wäre, dies kein Segen für sie gewesen wäre. Stattdessen hatte er ihnen das Kreuz Christi vorgestellt, durch das der Tod abgeschafft, der Sünde ein Ende gesetzt, unendliche Gerechtigkeit gebracht worden ist, und das Gesetz somit nicht länger die Macht hatte, sie gefangen zu halten (siehe Röm 7,6). Und als gesegnete Folge kann eine solche Nähe zu Gott in der liebreichen Zuversicht eines Kindes gegenüber einem zärtlichen Elternteil kennengelernt werden.
War der Apostel nun ihr Feind, indem er diese Wahrheit, die er ihnen bereits früher verkündigt hatte, und durch welche sie freigemacht worden waren, wieder neu in ihre Herzen und Gewissen prägte? Falsche Lehrer versuchten, die Galater gegen den Apostel aufzubringen, als wäre er ein Feind ihres Segens, während diese Lehrer in Wirklichkeit eifrig versuchten, eben gerade das Grundgerüst ihres Segens zu untergraben. Und sie versuchten es nicht vergeblich, denn kaum hatte der Apostel sie verlassen, da verschwanden ihre Liebesbekundungen gegenüber dem Apostel und ihr Eifer für die von ihm gepredigte Wahrheit. Wie anders waren die Philipper: Sie hatten der Wahrheit gehorcht, nicht nur in seiner Gegenwart, sondern „jetzt vielmehr in meiner Abwesenheit“ (Phil 2,12).
Doch bei den Galatern konnte nur die Anwesenheit des Apostels sie auf dem rechten Weg halten. Er hatte sich hingebungsvoll für sie im Geist abgemüht, und wünschte bei ihnen zu sein, damit er die harte Stimme des Tadels gegen eine milde Ermutigung zum Festhalten an der Wahrheit eintauschen konnte, denn er war in großer Bestürzung über ihren Zustand. Dieser fortwährende Druck – die Sorge um die Versammlungen – lastete schwerer auf dem Apostel als all seine äußerlichen Nöte.
Wir sollten – trotz der Traurigkeit dieser Tatsache – nicht überrascht darüber sein, dass wir in der Christenheit eine Rückkehr zu Gesetzen beobachten. Dies kann zurückgeführt werden auf die Gesetzlichkeit, die in unserer aller Herzen ist. Der Grund dafür, dass wahre Christen so wenig Freude kennen, ist dass sie gesetzlich sind. Und dabei machen sie andere so elend wie sich selbst, indem sie andere über oder unter ihrem Standard genauso beurteilen.
Das einzige Gegenmittel gegen Gesetzlichkeit ist es, dass „Christus in euch Gestalt gewinnt“. Dies ist die besondere Aufgabe des Heiligen Geistes, dem Geist der Wahrheit, der Christus verherrlicht und uns weg vom Gesetz und hin zu dessen wahrem Ziel und Gegenstand bringt, der Gerechtigkeit. „Denn Christus ist des Gesetzes Ende, jedem Glaubenden zur Gerechtigkeit“ (Röm 10,4).