Behandelter Abschnitt Gal 2,19-21
„Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe; ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat. Ich mache die Gnade Gottes nicht ungültig; denn wenn Gerechtigkeit durch Gesetz kommt, dann ist Christus umsonst gestorben“ ( Gal 2,19-21).
Der Apostel wechselt in diesem Abschnitt, genau wie auch im siebten Kapitel des Römerbriefes, vom „wir“ zum „ich“. Dieser Wechsel ist nicht bedeutungslos. Der größte Kenner des Gesetzes wurde durch die starke Hand Gottes selbst unterrichtet, dass das Gesetz für ihn nichts anderes tun konnte als ihn zu töten. Während dieses einmaligen und etwas merkwürdigen Abschnitts im Leben des Apostels, als er „drei Tage nicht sehend [war] und [nicht] aß und trank“ (Apg 9,9), als er überführt war durch die Herrlichkeit Jesu, aber die Vergebung der Sünden in seinem Namen noch nicht empfangen hatte, mag vielleicht sein gesamtes vorheriges Leben vor ihm abgelaufen sein. Und was war das Gesetz, in dem er sich rühmte, und die Gerechtigkeit, von der er fälschlicherweise dachte, sie im Gesetz zu haben, jetzt, da er das Gesetz in seiner Geistlichkeit kannte – jetzt wo „das Gebot“ (Röm 7,9) in seinem wahren Licht in sein Gewissen kam? Es war „der Dienst des Todes“ (2Kor 3,7).
Genau dieses Gesetz, in welchem er das Leben suchte, schlug ihn und alle Erwartungen des Gesetzes tot, und wenn dieses Gesetz nicht hinweggetan würde, könnte er nicht Gott leben. Sein ganzes vergangenes Leben hatte er sich selbst gelebt. Das ist der Geist der Gesetzlichkeit – wenn wir bewusst unter das Gesetz kommen, leben wir uns selbst, und nicht mehr Gott. In der wahren Lehre des Kreuzes lernen wir die zweifache Lektion, dass alle „dem Gesetz getötet worden [sind] durch den Leib des Christus“ (Röm 7,4); und dass wir alle „von dem Gesetz losgemacht [sind], da wir dem gestorben sind, in dem wir festgehalten wurden“ (Röm 7,6).
Das Gesetz hielt die Menschen von Gott ab, anstatt sie nahe zu Gott zu bringen. Und was sind heutzutage die Fragen über Altäre und Priester anderes als eine Rückkehr zum Gesetz und ein Versuch, Sünder davon abzuhalten, nahe zu Gott zu kommen, aufbauend auf der Annahme, dass einige einen Stand der Nähe zu Gott haben, den andere nicht haben. Alle Gläubigen sind durch das Blut Christi gleich nah zu Gott gebracht. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen Paulus und den Unwissendsten seiner Anhänger.
Doch solche Fragen können nur durch die wahre Lehre des Kreuzes Christi wirklich zufriedenstellend beantwortet werden. Je mehr wir in diese Lehre eindringen, desto belangloser und kindischer erscheinen uns solche Fragen. Der Apostel führt seine eigene erlebte Vertrautheit mit der Lehre des Kreuzes als die beste Antwort auf den an, der am Gesetz festhält: „Ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,19.20). Der Apostel Paulus zeigt hier, dass die Lehre, die er im sechsten Kapitel des Römerbriefes so klar darlegt, das Leben seiner eigenen Seele ist. Er sieht sich selbst als dem Gesetz gestorben, als er mit Christus gekreuzigt wurde.
Diese Handlung war vollkommen und abgeschlossen, sodass er sagen konnte: „Ich bin mit Christus gekreuzigt“, wie er auch im Römerbrief lehrte: „Indem wir dies wissen, dass unser alter Menschen mitgekreuzigt worden ist“ (Röm 6,6). Die Lehre des Apostels Petrus vertritt denselben Grundsatz: „Da nun Christus für uns im Fleisch gelitten hat, so waffnet auch ihr euch in demselben Sinne; denn wer im Fleisch gelitten hat, ruht von der Sünde, um die im Fleisch noch übrige Zeit nicht mehr den Lüsten der Menschen, sondern dem Willen Gottes zu leben“ (1Pet 4,1.2).
Der entscheidende Punkt ist, die richterliche Handlung Gottes im Tod Christi völlig anzuerkennen. Der Glaube erkennt das an, was Gott gewirkt hat; und der Sünder blickt auf Jesus am Kreuz als seine Sicherheit, sieht den Tod als den Lohn der Sünde, auferlegt durch die Hand Gottes zu seiner göttlichen Sicherheit – sodass der Tod in seinem strafenden Charakter für ihn abgeschafft ist. Ja, er kann sich selbst als bereits gestorben betrachten, indem er mit dem Apostel sagt: „Ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.“
Ist Paulus somit ein von den Toten auferstandener Pharisäer? Keineswegs. „Unser alter Mensch [ist] mitgekreuzigt worden“ (vgl. Röm 6,6). Saulus der Pharisäer mit all seinen religiösen Errungenschaften sowie auch allen seinen Sünden ist im Kreuz Christi gestorben, und ein neuer Mensch ist an seiner Stelle auferstanden. „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.“ Nicht mehr ich – wie tief hatte Paulus gelernt, das eigene Ich zurückzustellen, weil er erkannt hatte, dass Gott es im Kreuz zurückgestellt hatte. Doch „Ich habe erkannt, dass alles, was Gott tut, für ewig sein wird: Es ist ihm nichts hinzuzufügen und nichts davon wegzunehmen“ (Pred 3,14). „Sein Tun ist vollkommen“ (5Mo 32,4). Das ist unsere Zuversicht. Gott hat es vollendet. Doch für uns, während wir hier auf der Erde sind, muss es ein ständiges Bemühen sein, das eigene Ich zurückzustellen; und das ist unsere Übung.
Das für uns vollbrachte Werk Christi zu kennen ist die eine Sache, und wenn dies gut verstanden worden ist, folgt fast als eine notwendige Konsequenz daraus, dass wir das Kreuz aufnehmen und uns selbst verleugnen müssen. „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.“ Paulus hatte einen gesegneten Tausch gemacht – Christus für das eigene Ich. Christus war sein Stellvertreter am Kreuz, und jetzt sagte er: „Christus lebt in mir.“ Daher ist es ein Leben, das unsterblich ist – ein Leben, das von dem auferstandenen Jesus vermittelt wird, dem der Tod nichts anhaben kann. So wie dieses Leben seine Quelle von oben hat, so gehen auch seine Neigungen zu den himmlischen Dingen. Es ist ein neues Leben im wahrsten Sinne des Wortes – nicht ein verbessertes altes. Es kämpft hier gegen das alte Leben, in welcher Form es auch erscheinen mag. Es ist geistliches Leben, im Gegensatz zum natürlichen Leben.
Daher fügt der Apostel hinzu: „Was ich aber jetzt lebe im Fleisch.“ Es wird jetzt im Fleisch gelebt, in einem ärmlichen, ächzenden, irdischen Heiligtum; doch es wird nicht immer so gelebt werden. Es wird im Himmel gelebt werden, in einem geistlichen und verherrlichten Leib, vollkommen ausgestattet, um dies zu tun. Während wir im Fleisch sind, steht diesem Leben alles entgegen; aber wenn es in seiner eigentlichen, natürlichen Heimat ist, wird es wirklich und ohne Hinderung aufsprossen wie ein Wasserstrom ins ewige Leben. Schon heute gehen alle seine Neigungen nach oben. Es kann nur durch das genährt werden, das vom Himmel kommt.
Seine Speise und sein Getränk sind himmlisch, seine Anbetung, sein Priester, sein Tempel sind im Himmel, während das alte Leben hienieden mit dem weltlichen Heiligtum und dem fortlaufenden Priestertum beschäftigt ist. Nichts behindert die Neigungen dieses Lebens so sehr wie jüdische Rituale und christliche Kopien davon. Ich „lebe durch den Glauben . . . an den Sohn Gottes.“ „Wenn der Christus, unser Leben, offenbart werden wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbart werden in Herrlichkeit“ (Kol 3,4). Doch in der Zwischenzeit, bevor wir Ihn sehen, wie Er ist, leben wir durch den Glauben an den Sohn Gottes. Um es mit seinen eigenen, teilnahmsvollen Worten zu sagen: „So auch, wer mich isst, der wird auch leben meinetwegen“ (Joh 6,57).
Und wer isst, isst zu seiner eigenen Ernährung, und nicht der eines anderen; so eignet sich der Gläubige Christus für sich selbst an. „Der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.“ Auf welche gesegnete Weise bringt der Apostel uns diesen großartigen, entscheidenden Punkt nahe – und wenn Er mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat, so darf ich sicherlich diesem vollkommenen Werk nichts hinzufügen und so meine Wahrnehmung seiner vollkommenen Liebe verdunkeln.
Welche Kraft liegt in dem Ausdruck: „Ich mache die Gnade Gottes nicht ungültig; denn wenn Gerechtigkeit durch Gesetz kommt, dann ist Christus umsonst gestorben.“ Und doch, wenn wir uns umsehen und anschauen, was die christliche Religion im Prinzip ist, so fällt es unter das schwere Urteil, die Gnade Gottes ungültig und den Tod Christi überflüssig gemacht zu haben. Die Gedanken der meisten Christen drehen sich nur um die Vergebung der Sünden, doch nach dem Evangelium der Gnade Gottes, wie auch immer wir dieses theoretisch unterteilen, sind Sündenvergebung, Gerechtigkeit und ewiges Leben so unzertrennlich miteinander verbunden, dass der, der eines davon hat, alles hat.
Christus hat am Kreuz nicht nur den Sünden ein Ende gemacht, sondern auch ewige Gerechtigkeit hervorgebracht. Der große, zentrale Anziehungspunkt, der durch Gott einem Sünder dargelegt wird, ist in Christus gekreuzigt. Dort begegnet Er ihm unmittelbar, um alle seine Bedürfnisse zu stillen – Vergebung der Sünden, Gerechtigkeit und ewiges Leben, sodass jeder Versuch, das Gesetz dem Christus hinzuzufügen, die Gnade Gottes und das Werk Christi genauso entehrt wie es die Seele unter dem Bewusstsein der Sünde entmutigt.
Das Evangelium ist kein System der Negierung, sondern der Segnung. Es bringt uns alles als ein Geschenk, und der Glaube nimmt das Geschenk an, das Gott gibt. Jedes andere Geschenk ist in der unaussprechlichen Gabe Gottes inbegriffen – in seinem Sohn. Wie viele, selbst wahre Christen, die von Herzen den Gedanken irgendeines Vertrauens auf eigene Werke verwerfen würden, sehen nicht ihre Gefahr, die Gnade Gottes ungültig zu machen, indem sie zögern, das anzunehmen, was Gott gerne gibt. „Gott sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!“ (2Kor 9,15)