Behandelter Abschnitt Gal 3,1-5
„O unverständige Galater! Wer hat euch bezaubert, denen Jesus Christus als gekreuzigt vor Augen gemalt wurde? Dies allein will ich von euch lernen: Habt ihr den Geist aus Gesetzeswerken empfangen oder aus der Kunde des Glaubens? Seid ihr so unverständig? Nachdem ihr im Geist angefangen habt, wollt ihr jetzt im Fleisch vollenden? Habt ihr so vieles vergeblich erlitten – wenn wirklich auch vergeblich? Der euch nun den Geist darreicht und Wunderwerke unter euch wirkt, ist es aus Gesetzeswerken oder aus der Kunde des Glaubens?“ ( Gal 3,1-5).
Es gibt kaum etwas Interessanteres in Paulus‘ Briefen als diesen Gegenstand hier, denn es zeigt die eigentümliche, faszinierende Wirkung des Gesetzes auf wahre Gläubige. Eine Form des Abfalls vom Evangelium der Gnade Gottes liegt darin, es auf ein System von Anordnungen zu reduzieren: Diese Neigung zeigte sich in den Versammlungen von Galatien, und deren Korrektur bildet das Thema dieses Briefabschnitts. Der Apostel wendet sich an die Galater als „unverständige“ – gerade wie unser Herr zu seinen Jüngern sagte: „O ihr Unverständigen und trägen Herzens, zu glauben“ (Lk 24,25).
Es war Unverständigkeit, im Gesetz nach Rechtfertigung zu suchen, nachdem sie die Gnade des Evangeliums kennengelernt hatten. Die Gnade des Evangeliums war ihnen in der Lehre des Kreuzes Christi auf deutlichste Art und Weise vorgestellt worden, doch es gab eine „bezaubernde“ Kraft, die sie von Kreuz wegzog und sie dazu brachte, ihre Gerechtigkeit im Gesetz zu suchen. Es war, als hätte das Gesetz seine Augen auf sie gerichtet, wie die Schlange auf ihre Opfer, sodass sie gänzlich machtlos waren, davon wegzukommen.
Keine Sprache kann uns nachdrücklicher vorstellen, was das Gesetz in Wirklichkeit ist; unabhängig davon, ob wir seinen moralischen oder seinen zeremoniellen Aspekt in den Vordergrund stellen – die Schrift betrachtet das Gesetz als Ganzes. Einige würden gern ihre eigene moralische Gerechtigkeit als Gewicht auf der Waage ihrer Rechtfertigung hinzufügen; andere greifen auf ein System von Anordnungen zurück, um die Beschädigung ihrer moralischen Gerechtigkeit wettzumachen. Doch in jedem Fall ist es die faszinierende Kraft des Gesetzes, die sie davon abhält, auf Jesus Christus als den zu schauen, den Gott jedem, der glaubt, als Mittel zur Rechtfertigung vorstellt.
Wie stark ist auch der Ausdruck: „. . . denen Jesus Christus als gekreuzigt vor Augen gemalt wurde.“ Die Öffentlichkeit und Bedeutung, die der Apostel der Lehre des Kreuzes beimaß, war eine Verkündigung, dargelegt in Autorität, in den meistbesuchten Teilen der Stadt. Dies scheint die Kraft des Ausdrucks „vor Augen gemalt“ zu sein. Wenn die Augen der Galater unveränderlich auf das Kreuz Christi gerichtet gewesen wären, hätten sie sich nicht zu ihrer Rechtfertigung an das Gesetz gewandt.
Wenn die Lehre des Kreuzes in seiner ganzen ernsten Wahrheit vor Augen gemalt wird, so ist dies Gottes Urteil gegen jeglichen Weisheits-, Gerechtigkeits- oder Kraftanspruch des Menschen. Und dies ist es, was die Lehre noch immer so anstößig macht. Doch gleichzeitig ist die Lehre voller Trost für die, die sie kennen, denn sie ist da, „um die Übertretung zum Abschluss zu bringen und den Sünden ein Ende zu machen“ (Dan 9,24).
Der Apostel fragt weiter, warum die Galater den Geist empfangen haben. Weil sie das Gesetz eingehalten hatten? Oder weil sie dem Zeugnis des vollbrachten Werkes Christi geglaubt hatten? Der Heilige Geist ist das Siegel Gottes, das auf das völlig vollendete Werk gesetzt wurde, damit wir den Wert, den Gott ihm beigemessen hat, erkennen mögen. Gott wird ein solches Siegel nicht auf irgendein unvollkommenes Werk der Gerechtigkeit setzen. Doch wenn Er ihnen den Heiligen Geist gab, so war dies eine Folge ihrer völligen Reinigung durch das Blut Jesu, und der vollkommenen Gerechtigkeit, in welcher sie in Ihm vor Gott standen.
Während sie in einer solch gesegneten Stellung im Geist begonnen hatten, waren sie so unverständig, dass sie dachten, ihre Stellung durch einige eigene Werke verbessern zu müssen. Dies ist sehr lehrreich, weil es so häufig eine Entwicklungsstufe von Gläubigen kennzeichnet. Unwissentlich und unbewusst kann es passieren, dass ein Gläubiger, nachdem seine erste Freude über die Erkenntnis Christi verblasst und er in Weltlichkeit oder Gleichgültigkeit zurückverfallen ist, das Gefühl der Sicherheit durch eigene Anstrengungen wiederherzustellen versucht, anstatt zu sehen, dass das Gefühl der Sicherheit durch das Stehen in der Gnade erlangt werden kann. Er beginnt im Geist, erkennt die wahre Lehre des Kreuzes an, nicht nur als die, in der er Erlösung von Sünden findet, sondern auch als die, die ihn seine eigene Wertlosigkeit gelehrt hat – und dennoch ist die faszinierende Kraft des Gesetzes so stark, dass er gerne durch das Fleisch vollendet werden möchte, wie auch die Galater es versuchten.
Sie hatten gelitten – doch hatten sie gelitten, weil sie versucht hatten, das Gesetz zu halten? Nein, sondern wegen ihres Bekenntnisses zu Christus. Ihre heidnischen Freunde und Verwandten verfolgten sie nicht, weil sie behaupteten, dass es auf die Erfüllung von Pflichten ankam, sondern wegen der Exklusivität der Lehre des Christus, die keine Güte, Kraft Gerechtigkeit oder Weisheit erlaubt als nur in seinem Namen. Auch der Apostel selbst, hatte er sie unter das Gesetz getan? Hatte er ihnen den Geist dargereicht auf der Grundlage gesetzlichen Gehorsams, oder des Glaubens an Christus?
Als nächstes bezieht er sich auf Abraham.