Wir können nun mit dem ersten Teil von Vers 27 fortfahren: „Und er wird einen festen Bund mit den Vielen schließen für eine Woche.“ Als erstes muss die Frage geklärt werden, wer diese Person ist, die einen Bund mit den Vielen schließt. Durch die Übersetzung der Worte „den Bund“ (mit Artikel) haben einige voreilig angenommen, dass es sich um Christus selbst handelt, und haben dabei versäumt zu bemerken, dass der erwähnte Bund nur sieben Jahre dauern wird. Heute stimmen alle Seiten überein, dass der Ursprungstext mit „einen Bund“ übersetzt werden sollte, was sofort deutlich macht, dass es sich nicht um den Messias handeln kann. Und tatsächlich bezieht sich das Pronomen „er“ auf den kommenden Fürsten. Diese Bemerkung bezieht sich auf ihn. Das bedeutet, dass das zukünftige Haupt des wiederbelebten Römischen Reiches einen Bund mit „den Vielen“ schließen wird, die den Großteil der Juden darstellen, die sich zu diesem Zeitpunkt wieder in ihrem Land aufhalten werden, denn die Erwähnung des Schlacht- und Speisopfers zeigt klar, dass es sich zweifellos um Jerusalem und den wiedererbauten Tempel handelt.
Dieser Fürst wird sich mit allen Juden – ausgenommen dem göttlichen Überrest – verbünden, wobei er vorgibt, sich ihrer Sache anzunehmen und sie vor ihren Widersachern zu beschützen. Es sollte wohl bedacht werden, dass die Dauer dieses Bundes mit den ungläubigen Juden eine Woche beträgt – das entspricht, wie wir meinen, der siebzigsten Woche. Der Glaube mag in der ersten Hälfte dieser letzten Woche das Evangelium des Herrn auf der Erde annehmen, und zu Beginn der zweiten Hälfte wird der Fürst diesen Bund brechen, doch für den Unglauben ist die siebzigste Woche die Woche, für die dieser Bund abgeschlossen wird. Auch andere Schriftstellen weisen auf diesen Bund hin.
In Jesaja 28,14 und 15 lesen wir: „Darum hört das Wort des Herrn, ihr Spötter, Beherrscher dieses Volkes, das in Jerusalem ist! Denn ihr sprecht: Wir haben einen Bund mit dem Tod geschlossen und einen Vertrag mit dem Scheol gemacht: Wenn die überflutende Geißel hindurchfährt, wird sie an uns nicht kommen; denn wir haben die Lüge zu unserer Zuflucht gemacht und in der Falschheit uns geborgen.“ Es scheint die Furcht vor einem anderen Widersacher – der „überflutenden Geißel“ (die niemand Geringeres ist als der Assyrer oder König des Nordens) – zu sein, welche die „Spötter“ direkt in die Arme des kaiserlichen Haupts über das Römische Reich treiben wird. Zusätzlich muss auch bedacht werden, dass zu diesem Zeitpunkt der Antichrist seinen Thron und seine Herrschaft in Jerusalem haben wird und dass er, der „Prophet“, als der falsche Prophet für das Römische Reich agiert (Offenbarung 13), wie wir noch in Daniel 11 sehen werden. Sie werden also in Angst vor ihrem furchtbaren Widersacher, dem Assyrer, durch den Antichrist dahin geführt werden, die angebotene Allianz mit dem Haupt des Römischen Reiches anzunehmen.
Zu Beginn wird es, wie wir in Jesaja gesehen haben, viel versprechend aussehen. Die Juden werden irrigerweise annehmen, sich vor allen möglichen Gefahren abgesichert zu haben. Nachdem sie Gott ausgeschlossen haben, werden sie sich an den mächtigsten Herrscher der Welt wenden. Vor wem sollten sie sich also fürchten? Aber genau derjenige, dem sie vertrauen, wird ihr Feind, denn entgegen dem eigenen Bund wird er „zur Hälfte der Woche“ (das ist nach Ablauf von dreieinhalb Jahren) „Schlachtopfer und Speisopfer aufhören lassen“. Er geht sogar noch weiter,49 denn „wegen der50
Beschirmung der Gräuel wird ein Verwüster kommen, und zwar bis Vernichtung und Festbeschlossenes über das Verwüstete ausgegossen werden“ (Vers 27). Ohne die Kompliziertheit dieser zugegebenermaßen schwierigen Schriftstelle kaschieren zu wollen, können wir annehmen, dass die allgemeine Bedeutung durch andere Schriftstellen, die Licht auf sie werfen, gut erklärt ist.
Der römische Fürst wird nicht nur dafür sorgen, dass die täglichen Opfer aufhören werden. Zusätzlich zu einem vom Antichrist aufgestellten Bild von ihm, das durch den Antichrist auch mit übernatürlichen Kräften ausgestattet werden wird (Offenbarung 13), wird der Antichrist, so wie Gott im Tempel Gottes sitzt, sich selbst als Gott darstellen. Das lernen wir aus 2. Thessalonicher 2,11. Der Herr selbst bezieht sich in Matthäus 24 auf diese schreckliche Tatsache, wenn Er von dem „Gräuel der Verwüstung“, den Daniel, der Prophet, erwähnt, spricht. Nach Daniel 12,11 wird er an heiligem Ort aufgestellt werden.
Die Situation wird dann folgendermaßen sein: Die Juden werden zu dieser Zeit in ihr Land zurückgekehrt sein und den Tempel wieder aufgebaut und den Tempeldienst wieder eingerichtet haben, obwohl der Großteil dies im Unglauben tun wird. Der Antichrist wird, entsprechend der Voraussage des Herrn, in seinem eigenen Namen gekommen sein und von ihnen als ihr König angenommen werden. Wenn sie von der Macht des Assyrers bedroht werden, werden sie unter der Führung des Antichrists in einen Bund mit dem Haupt des westlichen Reiches einwilligen und eine Allianz mit ihm schließen. Dieser Fürst wird, wie wir gesehen haben, seinen Bund brechen. „Zur Hälfte der Woche“ wird der Tempeldienst abgeschafft werden. Mit waghalsiger Gotteslästerung wird vom Antichrist als seinem Prophet ein Bild dieses Fürsten im Allerheiligsten aufgerichtet werden, und er wird göttliche Verehrung für sich selbst statt für den Herrn fordern.
Wir wiederholen diese Dinge, denn von diesem Standpunkt aus beginnt mit der Aufrichtung des Gräuels der Verwüstung die letzte Hälfte der siebzigsten Woche. Dies ist der Beginn der „Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit“ in Daniel 7,25 und der 42 Monate oder der 1 260 Tage aus der Offenbarung, die dreieinhalb Jahre ausmachen – die letzte Hälfte der siebzigsten Woche. Von dieser Zeitperiode spricht unser gepriesener Herr in Matthäus 24,21 und 22 als von einer Zeit beispiellosen Kummers:
„Denn dann wird große Drangsal sein, wie sie seit Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nicht wieder sein wird. Und wenn jene Tage nicht verkürzt würden, so würde kein Fleisch errettet werden; aber um der Auserwählten willen werden jene Tage verkürzt werden.“
Während dieser Zeit werden die Posaunengerichte ausgeübt, und die „Schalen, voll des Grimmes Gottes“ (Off 15,7), werden über der Erde ausgeschüttet. In dem vorliegenden Vers in Daniel sehen wir den Hinweis, dass diese Gerichte Jerusalem und die Juden betreffen.
Zuerst wird gesagt: „Und wegen der Beschirmung der Gräuel wird ein Verwüster kommen.“ Der Verwüster hier ist zweifellos die „überflutende Geißel“ aus Jesaja 28,15. Die Juden werden, wie
wir bereits gesehen haben, vom Antichrist verführt, einen Bund mit dem Haupt des Römischen Reiches schließen, um sich vor ihrem nördlichen Widersacher zu schützen, und die „Spötter“, die „Beherrscher dieses Volkes“ (Jesaja 28,14), rühmen sich ihrer Sicherheit. Aber der Prophet sagt weiter:
„Und euer Bund mit dem Tod wird zunichte werden, und euer Vertrag mit dem Scheol nicht bestehen: Wenn die überflutende Geißel hindurchfährt, so werdet ihr von ihr zertreten werden“ (Jesaja 28,18; siehe auch Verse 19–22).
Tatsächlich benutzt Gott den Assyrer als Rute, um die schuldigen Menschen zu zerbrechen. Sie sind in zweifacher Weise schuldig: dadurch, dass sie Christus abgelehnt und dadurch, dass sie sich wieder dem Götzendienst zugewandt haben, nachdem das Haus „ausgekehrt und geschmückt“ worden ist.
Es geht sogar noch weiter: „. . . bis Vernichtung und Festbeschlossenes über das Verwüstete ausgegossen werden.“51. Mit der „überflutenden Geißel“ beginnend, werden die Juden zum Gegenstand unaufhörlichen Gerichts werden. Jerusalem wird dem Zorn ihrer Unterdrücker überlassen werden. Jemand sagte, dass „Vertilgung“, die „fest beschlossen“ ist, immer für das letzte Gericht über die Juden verwendet wird (vergleiche Jesaja 10,22 und 28,22). Weil diese Dinge noch am Schluss des Buches Daniel vor uns kommen werden, wird hier eine weitere Betrachtung zurückgestellt. Es soll nur erwähnt werden, dass am Ende dieser Nacht der Drangsal ihr Messias erscheinen wird. „Und er wird auf diesem Berg den Schleier vernichten, der alle Völker verschleiert, und die Decke, die über alle Nationen gedeckt ist. Den Tod verschlingt er für immer; und der Herr, Herr, wird die Tränen von jedem Angesicht abwischen, und die Schmach seines Volkes wird er wegnehmen von der ganzen Erde. Denn der Herr hat geredet“ (Jesaja 25,7.8).
49 Wir folgen hier dem, was fähige Bibelausleger als wahre Bedeutung des Folgenden ansehen.↩︎
50 Die wörtliche Übersetzung für „Beschirmung“ ist „Flügel“, aber jeder Bibelleser weiß, dass „Flügel“ durchgehend ein Symbol für Schutz sind.↩︎
51 Es gab viele Überlegungen darüber, ob das Wort „Verwüstete“ nicht als „Verwüster“ übersetzt werden sollte. Zugegebenermaßen sind beide Bedeutungen vertretbar, aber die vorliegende ist häufiger verbreitet. Welche Übersetzung auch angenommen wird, so bleibt die Auslegung doch größtenteils gleich, wenn man annimmt, dass – wenn „Verwüstete“ bleibt – Jerusalem gemeint ist, wogegen ihr Widersacher gemeint ist, wenn man „Verwüster“ bevorzugt. In beiden Fällen ist die Bedeutung, dass in der erwähnten Zeit ansteigendes Gericht, „Vernichtung und Festbeschlossenes“, ausgegossen werden.↩︎