Behandelter Abschnitt Klgl 5,1-18
Klagelieder 5
Das durchweg in der Wir-Form verfasste 5. Kapitel enthält keine eigentliche Klage mehr, sondern gibt ein beeindruckendes Gebet wieder. Wie der Ausruf „Wehe uns, denn wir haben gesündigt!“ in Vers 16 zeigt, hat unter den Überlebenden Zions die Einsicht, ihr Elend selbst verschuldet zu haben, weiter zugenommen. Den Verzweifelten bleibt nur übrig, den HERRN um Barmherzigkeit anzuflehen. Die 22 Verse dieses Kapitels sind nicht akrostisch geordnet. Vielleicht soll dadurch die Dringlichkeit göttlichen Eingreifens hervorgehoben werden sowie die Tatsache, dass hier andere Personen als der Schreiber – Jeremia – sprechen.
Kapitel 5 beginnt mit dem Zuruf, der HERR möge doch Notiz von ihrem Unglück nehmen (V. 1), das die Verse 2– 18 näher schildern, zweimal – in den Versen 7 und 16 – von einem Sündenbekenntnis unterbrochen. Die zaghaft und unsicher vorgetragene Bitte, der HERR möge ihnen eine echte Umkehr schenken und sie in das frühere Verhältnis zu Ihm zurückführen, schließt das Gebet und zugleich auch die Klagelieder ab (V. 19–22).
Klagelieder 5,1-18: Der Überrest bittet den HERRN um Kenntnisnahme seines Elends
*1 Gedenke, HERR, dessen, was uns geschehen ist! Schau her und sieh unsere Schmach!
*2 Unser Erbteil ist Fremden zugefallen, unsere Häuser Ausländern.
*3 Wir sind Waisen, ohne Vater; unsere Mütter sind wie Witwen.
*4 Unser Wasser trinken wir für Geld, unser Holz bekommen wir gegen Zahlung.
*5 Unsere Verfolger sind uns auf dem Nacken; wir ermatten, man lässt uns keine Ruhe.
*6 Ägypten reichen wir die Hand und Assyrien, um mit Brot gesättigt zu werden.
*7 Unsere Väter haben gesündigt, sie sind nicht mehr; wir, wir tragen ihre Ungerechtigkeiten.
*8 Knechte herrschen über uns; da ist niemand, der uns aus ihrer Hand reißt.
*9 Wir holen unser Brot mit Gefahr unseres Lebens wegen des Schwertes der Wüste.
*10 Vor den Gluten des Hungers brennt unsere Haut wie ein Ofen.
*11 Sie haben Frauen entehrt in Zion, Jungfrauen in den Städten Judas.
*12 Fürsten sind durch ihre Hand aufgehängt, das Angesicht der Alten wird nicht geehrt.
*13 Jünglinge tragen die Handmühle, und Knaben straucheln unter dem Holz.
*14 Die Alten bleiben fern vom Tor, die Jünglinge von ihrem Saitenspiel.
*15 Die Freude unseres Herzens hat aufgehört, in Trauer ist unser Reigen verwandelt.
*16 Gefallen ist die Krone unseres Hauptes. Wehe uns, denn wir haben gesündigt!
*17 Darum ist unser Herz krank geworden, um dieser Dinge willen sind unsere Augen verdunkelt:
*18 Wegen des Berges Zion, der verwüstet ist; Füchse streifen darauf umher.
Anmerkungen und Schriftstellen
Die Überlebenden Jerusalems nehmen sich hier die persönliche Bitte Jeremias in 3,19–21 zum Vorbild.
5. Mose 28,30a.32; Jeremia 18,21 – Vers 3 ist wohl nicht nur buchstäblich, sondern auch im übertragenen Sinn zu verstehen („wie Witwen“, d. h. nicht tatsächlich verwitwet). Das in 5. Mose 28 den Männern Angedrohte ist nun eingetroffen: „… du wirst niemand haben, der rettet“ (31b); „… deine Hand wird machtlos sein“ (32b).
(4–6) Hier sind weitere Beispiele tiefster Schmach aufgezählt. Vers 6 beweist, dass sich die Sprechenden damals noch in Juda befanden.
3. Mose 26,40; 2. Könige 23,26.27; Jesaja 65,7;
Jeremia 14,20; 16,11–13; 32,18 ; Hesekiel 18,2-20. – Vers 7 ohne Vers 16 könnte den Eindruck erwecken, die lebenden Juden müssten unschuldig für die Sünden ihrer (verstorbenen) Väter büßen. Die angeführten Stellen widerlegen klar, dass Gott so handelt.5. Mose 28,47.48 (vgl. Neh 5,15; Sach 11,6).
Vgl. Richter 6,1-6; Hesekiel 12,18.19.
4,8; Hiob 30,30. Hier ein durch Hunger verursachtes Fieber.
(11–15) Alle Bevölkerungsschichten waren nun ohne Rücksicht auf Geschlecht, Rang oder Alter der schrankenlosen Willkür der siegestrunkenen Eroberer ausgeliefert. Die Schändung von Frauen (5Mo 28,30; Jes 13,16; siehe auch
Sach 14,2) gehört bis zum heutigen Tag zu den unmenschlichen Begleiterscheinungen jeder Eroberung durch ungezügelte Horden. Das Aufhängen (bzw. Pfählen) der Fürsten nach der Tötung war ein Akt öffentlicher Entehrung (vgl. 5Mo 21,22.23; 5Mo 28,50; Jos 10,26; Est 7,10). Jede Form öffentlichen Lebens war völlig zum Erliegen gekommen (Ps 30,12; Jer 7,34; 16,9; 31,13; Amos 8,10). – Anscheinend sind diese fünf Verse noch vor der totalen Zerstörung Jerusalems verfasst worden (vgl. 2,9 mit 5,14).
Es gibt verschiedene Deutungsversuche für „unsere Krone“. Wenn hier der Überrest Judas spricht, darf man unter diesem Ausdruck wohl alles verstehen, was Juda bisher vor anderen Völkern ausgezeichnet hatte: das Haus des HERRN und ein gottgegebenes Königtum – beides hatte der HERR nun wegen Judas und Jerusalems Sünde preisgegeben (siehe dazu 1Kön 9,3-9; Ps 89,39-46).
Zwischen Vers 16a und 16b bahnt sich eine Wende an: „Wehe uns, denn wir haben gesündigt!“ Das Eingeständnis seiner Sünde führt Juda (über das Seufzen in den Versen 17 und 18) zu der einzigen angemessenen Reaktion, dem Ruf um Erbarmen und Wiederherstellung.
2,11; 5. Mose 28,65.
Psalm 2,6b; 9,12; 48,2.3; 79,2; Jeremia 26,18 (Micha 3,12); 44,2. – Der Palästinische Fuchs (hebr. schual) meidet normalerweise den Menschen. Sein verstärktes Auftauchen auf den Trümmern Jerusalems unterstreicht die Verödung Zions (4,3; 5Mo 28,26; Ps 63,11).