Behandelter Abschnitt Klgl 3,1-18
Klagelieder 3
Das 3. Kapitel enthält 66 Verse, von denen immer drei mit dem gleichen hebräischen Buchstaben beginnen. Es bildet den Kern des Buches der Klagelieder und führt in Vers 22 zu seinem überraschenden Höheund Wendepunkt.
Zunächst fällt auf, dass Jeremia in den Versen 1–21 in der Einzahl spricht und schlimmes persönliches Erleben beschreibt, vielleicht seine Kerkerhaft als angeblicher Spion (Jer 37,11-21). In Vers 18 erreicht seine Verzweiflung – und damit wohl alles verzweifelte Klagen in diesem Buch – ihren Höhepunkt. Dann bringt ein Stoßgebet (V. 19–21) die große Wende in Vers 22: die vom HERRN ins Herz gesenkte Überzeugung, dass sein Erbarmen und seine Treue größer sind als sein Zorn (Die allgemeine Klage durchzieht das Buch freilich bis zum Ende, doch zuweilen leuchtet nun zaghaft Hoffnung auf.). Der Prophet wechselt danach vom Ich zum Wir; die Verse 22–47 sind im Plural geschrieben. Beginnend mit den Versen 48–51, in denen er tiefes Mitleid mit Juda und Jerusalem ausdrückt, geht Jeremia wieder zur Ichform zurück und schildert in den Versen 52–66 erneut bitterste persönliche Erfahrungen, die er machen musste, als ihn fanatische jüdische Militärs in einer verschlammten Zisterne verhungern lassen wollten (vgl. Jer 38,1-13).
Hier stellt sich die Frage, warum der Prophet persönliches Erleben in dieses Kapitel einfügt. Sicherlich nicht, um sich damit hervorzutun, zumal es bereits in seinem Buch festgehalten ist. Die Antwort geben die Verse 1 und 2: „Ich bin der Mann, der Elend gesehen hat durch die Rute seines Grimmes. Mich hat er geleitet und geführt in Finsternis und Dunkel.“ Nahezu jede Form von Leid, die das besiegte und gepeinigte Volk gegenwärtig traf, hatte Jeremia schon lange vor diesem durchkosten müssen. Hinter beider Leid stand Gott. Dennoch unterschieden sich ihre schmerzlichen Erlebnisse in zwei wesentlichen Punkten, nämlich im Grund und im direkten Verursacher. Jeremia litt, weil er dem HERRN gehorchte, der ihn nötigte, Juda um jeden Preis vierzig Jahre lang zur Umkehr aufzurufen; seine Leiden fügte ihm das eigene Volk zu. Juda litt, weil es vierzig Jahre den Ruf des HERRN zur Umkehr missachtete; das angedrohte Gericht vollzog das Heer Nebukadnezars.
Jeremia mag oft gegrübelt haben, wozu ihn der HERR in solche Tiefen brachte, wenngleich ihm das Überleben garantiert war (Jer 1,19). In diesem Kapitel darf er nun als Denkmal der Barmherzigkeit Gottes dem zerschlagenen Überrest Judas Trost und Hoffnung zusprechen. Häufige Rückgriffe auf das Buch Hiob lassen vermuten, dass er in dunklen Stunden in Gottes Handeln mit diesem hart geprüften Mann Trost gesucht und gefunden hat.
Klagelieder 3,1-18: Durch Schilderung eigener Erfahrungen beschreibt Jeremia das Elend Jerusalems
*1 Ich bin der Mann, der Elend gesehen hat durch die Rute seines Grimmes. *2 Mich hat er geleitet und geführt in Finsternis und Dunkel. *3 Nur gegen mich kehrt er immer wieder seine Hand den ganzen Tag.
*4 Er hat verfallen lassen mein Fleisch und meine Haut, meine Gebeine hat er zerschlagen. *5 Bitterkeit und Mühsal hat er gegen mich gebaut und mich damit umringt. *6 Er ließ mich wohnen in Finsternissen wie die Toten der Urzeit.
*7 Er hat mich umzäunt, dass ich nicht herauskommen kann; er hat schwer gemacht meine Fesseln. *8 Wenn ich auch schreie und rufe, so hemmt er mein Gebet. *9 Meine Wege hat er mit Quadern vermauert, meine Pfade umgekehrt.
*10 Ein lauernder Bär ist er mir, ein Löwe im Versteck. *11 Er hat mir die Wege entzogen und hat mich zerfleischt, mich verwüstet. *12 Er hat seinen Bogen gespannt und mich wie ein Ziel für den Pfeil hingestellt.
*13 Er ließ die Söhne seines Köchers in meine Nieren dringen. *14 Meinem ganzen Volk bin ich zum Gelächter geworden, bin ihr Saitenspiel den ganzen Tag. *15 Mit Bitterkeiten hat er mich gesättigt, mit Wermut mich getränkt.
*16 Und er hat mit Kies meine Zähne zermalmt, hat mich niedergedrückt in die Asche. *17 Und du verstießest meine Seele vom Frieden, ich habe das Gute vergessen. *18 Und ich sprach: Dahin ist meine Lebenskraft und meine Hoffnung auf den HERRN.
Anmerkungen und Schriftstellen
3,19; Psalm 88,9; Jeremia 23,15; Die Verse 5–7 benutzen für totales Eingeschlossensein den Vergleich mit einer umzingelten Stadt bzw. dem Grab/Scheol.
Psalm 88,7; 143,3; Hesekiel 26,20 (betrifft dort Tyrus).
3,5.9; Hiob 3,23.
3,44; Hiob 30,20; Psalm 5,2.3; 22,2.3; Sprüche 1,28-30.
Hiob 19,8; der Weg nach vorn und zurück ist versperrt („umgekehrt“ = zerstört, siehe Jes 24,1).
(10 u. 11) 1,13; Hosea 13,7.8; Amos 5,19; Das Bild des lauernden Raubtiers (allerdings als Vergleich für einen Gottlosen) findet sich auch in Psalm 10,9; 17,12.
(12 u. 13) 2,4; Hiob 16,12.13. Bildlich bedeuten Pfeile hier plötzliches, von Gott auferlegtes Unglück oder Leiden, siehe 5.
Mose 32,23; Hiob 6,4; Psalm 38,3.
Hiob 9,18; Jeremia 9,14; 23,15. „Bitterkeiten“ sind in 2. Mose 12,8 und 4. Mose 9,11 die bitteren Kräuter.
Das Bild des zermalmenden Kieses geht auf Sprüche 20,17 zurück. Was es in Jeremias Fall ausdrücken soll, ist nicht klar; vielleicht meint er den Zwang, ständig harte Gerichtsbotschaften aussprechen zu müssen. – „In die Asche niederdrücken“ bedeutet wohl nach Jeremia 6,26 „in tiefe Trauer stürzen“ (vgl. auch Hiob 30,19).