Behandelter Abschnitt Klgl 1,1-11
Oder geschieht ein Unglück in der Stadt, und der HERR hätte es nicht bewirkt? (Amos 3,6)
Einleitung
Andeutungen im Buch Jeremia: Jeremia 9,9-21:
*9 Über die Berge will ich ein Weinen und eine Wehklage erheben und über die Weideplätze der Steppe ein Klagelied. Denn sie sind verbrannt, so dass niemand hindurchzieht und man die Stimme der Herde nicht hört; sowohl die Vögel des Himmels als auch das Vieh sind geflohen, weggezogen. *10 Und ich werde Jerusalem zu Steinhaufen machen, zur Wohnung der Schakale, und die Städte von Juda zur Einöde machen, ohne Bewohner.
*11 Wer ist der weise Mann, dass er dieses versteht, und zu wem hat der Mund des HERRN geredet, dass er es kundtut, warum das Land zugrunde geht und verbrannt wird wie die Wüste, so dass niemand hindurchzieht? *12 Und der HERR sprach: Weil sie mein Gesetz verlassen haben, das ich ihnen vorgelegt habe, und auf meine Stimme nicht gehört haben und nicht darin gewandelt sind, *13 sondern dem Starrsinn ihres Herzens und den Baalim nachgegangen sind, was ihre Väter sie gelehrt haben. *14 Darum, so spricht der HERR der Heerscharen, der Gott Israels: Siehe, ich will ihnen, diesem Volk, Wermut zu essen und Giftwasser zu trinken geben *15 und sie unter die Nationen zerstreuen, die sie nicht gekannt haben, weder sie noch ihre Väter; und ich will das Schwert hinter ihnen hersenden, bis ich sie vernichtet habe.
*16 So spricht der HERR der Heerscharen: Gebt Acht und ruft Klageweiber, dass sie kommen, und schickt zu den weisen Frauen, dass sie kommen *17 und schnell eine Wehklage über uns erheben, damit unsere Augen von Tränen rinnen und unsere Wimpern von Wasser fließen. *18 Denn eine Stimme der Wehklage wird aus Zion gehört: „Wie sind wir verwüstet! Wir sind völlig zuschanden geworden; denn wir haben das Land verlassen müssen, denn sie haben unsere Wohnungen umgestürzt.“ *19 Denn hört, ihr Frauen, das Wort des HERRN, und euer Ohr fasse das Wort seines Mundes; und lehrt eure Töchter Wehklage und eine die andere Klagegesang. *20 Denn der Tod ist durch unsere Fenster gestiegen, er ist in unsere Paläste gekommen, um das Kind auszurotten von der Gasse, die Jünglinge von den Straßen. *21 Rede: So spricht der HERR: Ja, die Leichen der Menschen werden fallen wie Dünger auf der Fläche des Feldes und wie eine Garbe hinter dem Schnitter, die niemand sammelt.
Zum Titel
In der hebräischen Bibel hat das Buch, nach dem ersten Wort des 1. Kapitels, als Überschrift „ekah“ (= wie!), einen typischen Klageruf. Im rabbinischen Gebrauch wurde es dann auch als qinot (= laute Schreie, Klagerufe, Totenklage) bezeichnet (vgl. Jer 7,29), dessen griechische Entsprechung threnoi ist, lamentationes die lateinische. Als beste deutsche Wiedergabe hat sich „Klagelieder“ durchgesetzt.
Stellung im hebräischen Kanon
Im hebräischen Kanon des Alten Testaments sind die Klagelieder (getrennt vom Buch Jeremia) dessen drittem Teil, den Schriften (ketubim) zugeordnet; sie gehören darin zu den fünf sogenannten Festrollen (megillot), die an bestimmten Festbzw. Fastentagen in der Synagoge vorgelesen werden:
Hohelied (Passah),
Ruth (Pfingsten),
Klagelieder (am 9. Tag des 5. Monats [Ab], als Gedenktag an die Tempelzerstörungen 587 v. Chr. bzw. 70 n. Chr.),
Prediger (Laubhüttenfest),
Esther (Purimfest).
Verfasser
Im hebräischen Text der Klagelieder wird kein Verfasser genannt. Die Septuaginta (LXX), die um 200 v. Chr. entstandene griechische Übersetzung des Alten Testaments, stellt den Klageliedern folgende Bemerkung voran: „Und es geschah, nachdem Israel gefangengenommen und Jerusalem zerstört worden war, saß Jeremia weinend und klagte mit diesem Klagelied über Jerusalem und sprach“. Berechtigte Einwände gegen die von der jüdischen und christlichen Tradition festgehaltene Verfasserschaft Jeremias gibt es nicht. Laut 2. Chronika 35,25 hatte er auch ein Klagelied über Josia verfasst. Im Übrigen hat kaum jemand den Untergang Jerusalems so hautnah erlebt oder war annähernd so umfangreich aus erster Hand informiert wie Jeremia. Man sollte auch nicht vergessen, dass dem Propheten sofort nach der Katastrophe auf Befehl Nebukadnezars das seltene Privileg völliger Bewegungsfreiheit erteilt wurde (39,11.12; 40,4). So war wohl niemand besser geeignet als er, die Gefühle der Überlebenden Zions in einem Klagelied – vom Geist des HERRN geleitet – angemessen zum Ausdruck zu bringen. Vor längerer Zeit schon hatte er der Tochter Zion einmal zugerufen: „Schere deinen Haarschmuck und wirf ihn weg, und erhebe ein Klagelied auf den kahlen Höhen, denn der HERR hat das Geschlecht seines Grimmes verworfen und verstoßen“ (7,29).
Entstehungszeit
Die Klagelieder, die stark an eine Live-Reportage erinnern, sind aller Wahrscheinlichkeit nach in den knapp drei Monaten des Jahres 587 entstanden, die zwischen dem Fall Jerusalems und der (erzwungenen) Ausreise Jeremias und Baruchs nach Ägypten lagen.
Literarische Form der Klagelieder
Das Buch der Klagelieder ist durchweg im Poesiestil verfasst und besitzt einen äußerst kunstvollen Aufbau. Das herausragende Stilmittel ist das alphabetische Akrostichon, bei dem die Anfangsbuchstaben von Absätzen, Versen oder Zeilen in der Reihenfolge der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets angeordnet sind.1 Eine Ausnahme bildet Kapitel 5, das zwar aus 22 Versen besteht, die jedoch nicht akrostisch geordnet sind. In den Kapiteln 2 bis 4 besteht eine Besonderheit in der akrostischen Anordnung: Die normale Reihenfolge des 16 (Ajin). und 17 (Pe). Buchstabens ist vertauscht; Pe steht vor Ajin. Über den Grund gibt es unterschiedliche Ansichten. – Der Aufbau des Buches lässt sich am einfachsten anhand einer Tabelle darstellen:
Tabelle: Aufbau der Klagelieder
Kap. | Akrostichon | Verse | Zeilen | Bemerkung |
---|---|---|---|---|
1 | normal | 22 | 3 | Versakrostichon |
2 | Ajin/Pe-Tausch | 22 | 3 | Versakrostichon |
3 | Ajin/Pe-Tausch | 66 | 2 | je 3 Verse beginnen mit dem gleichen Buchstaben |
4 | Ajin/Pe-Tausch | 22 | 2 | Versakrostichon |
5 | ohne | 22 | 1 | kein Versakrostichon |
Die Klagelieder besitzen damit eine inspirierte Kapitelund Verseinteilung. Die strenge Symmetrie in ihrem Aufbau führte dennoch nicht zu einem unnatürlichen oder verkrampften Textfluss, wie jede Bibelübersetzung deutlich macht.
Zum Inhalt und Zweck der Klagelieder
Im Sommer 587 eroberten Nebukadnezars Truppen nach 2½-jährigem Kampf das aufsässige Jerusalem. Die Stadt und der Tempel wurden geplündert und niedergebrannt. Die Restbevölkerung, die unsägliches Leid durchlitten hatte, wurde anschließend größtenteils nach Babylon deportiert. Mit dieser Katastrophe fand auch die Königsherrschaft des Hauses David ihr (vorläufiges) Ende.
Aus der Perspektive der Klagelieder hat dies alles allein der HERR, der Gott Israels, bewirkt. In ihren fünf Kapiteln werden – im Gegensatz zum Buch Jeremia – Babylon und Nebukadnezar überhaupt nicht erwähnt. Der Fall und das daraus resultierende Elend Jerusalems haben hier keine militärischen oder politischen Gründe, sondern religiöse Ursachen: Judas Gottvergessenheit und beharrliche Weigerung, zum HERRN umzukehren. So bilden drei Themenkreise in enger Verflechtung den Inhalt der Klagelieder:
ein Schreien aus tiefster körperlicher und seelischer Not,
das Bekenntnis zurückliegender Sünden sowie
ein zaghaftes Hoffen auf die künftige Wiederzuwendung des HERRN, gegründet auf seine unabänderlichen Verheißungen.
Der Augenzeugenbericht des Propheten über das wörtliche Eintreffen aller vorausgegangenen Gerichtsankündigungen beweist zudem, wenn auch auf erschütternde Weise, Gottes absolute Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit. Dadurch soll Israel einerseits zu wahrer Sinnesänderung geführt werden, andrerseits (aufgrund der Verheißungen in Jeremia 30-33) zur unerschütterlichen Erwartung des neuen Bundes und des Friedensreichs. Ebenso gewiss wie Gott das angekündigte Gericht herbeigeführt hat, werden auch der neue Bund und das kommende Friedensreich des Messias Wirklichkeit werden. – Mitte und Höhepunkt der Klagelieder bildet daher eine tröstliche Feststellung: „Denn der Herr verstößt nicht auf ewig; sondern wenn er betrübt hat, erbarmt er sich nach der Menge seiner Gütigkeiten. Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschenkinder“ (Klgl 3,31-33).
Bemerkenswert ist an den Klageliedern, deren Inhalt die allgemein bezweifelte göttliche Sendung Jeremias vollauf bestätigt, dass sie nirgends einen Unterton von Genugtuung erkennen lassen, sondern durchweg von tiefer Trauer und herzlichem Mitgefühl geprägt sind. Auch darin ist der Prophet Jeremia dem Herrn Jesus ähnlich, der über Jerusalem weinte (Lk 19,41.42).
Vorbemerkung zu Klagelieder 1-5
In den „Anmerkungen“ zu den einzelnen Unterabschnitten der Klagelieder werden auch Schriftstellen angegeben, die keinen direkten, sondern nur thematischen Bezug zum jeweiligen Vers haben. Die Versnummern dieser Stellen könnten in anderen Bibelübersetzungen geringfügig abweichen. Stellenangaben ohne Bibelbuch beziehen sich auf die Klagelieder.
Klagelieder 1
Die in Trümmern liegende Hauptstadt Judas wird hier als schutzlose Witwe gesehen, von der sich der HERR abgewandt hat. Jeremia beschreibt in den Versen 1–11 in nahezu sachlichem Ton, gewissermaßen aus der Sicht eines unbeteiligten Betrachters, das Elend des soeben eroberten Jerusalems. In den nächsten Versen (12–16) erhebt die trostsuchende Stadt selbst ihre Stimme und fleht alle Vorüberziehenden an, ihr beispielloses Unglück zur Kenntnis zu nehmen. In Vers 17 spricht noch einmal der sachliche Betrachter. Dann deutet sich eine erste Schulderkenntnis an: Der HERR wird in seinem Handeln gerechtfertigt (V. 18.19). Dies führt zu einem Gebet um sein Erbarmen und auch zu der Bitte, Er möge die Schadenfreude der Feinde über sein Handeln nicht übersehen (V. 20–22).
Klagelieder 1,1-11: Jeremias Trauer über Jerusalems Verwüstung
*1 Wie sitzt einsam die volkreiche Stadt, ist einer Witwe gleich geworden die Große unter den Nationen! Die Fürstin unter den Landschaften ist fronpflichtig geworden.
*2 Bitterlich weint sie bei Nacht, und ihre Tränen sind auf ihren Wangen; sie hat keinen Tröster unter allen, die sie liebten; alle ihre Freunde haben treulos an ihr gehandelt, sind ihr zu Feinden geworden.
*3 Juda ist ausgewandert vor Elend und vor schwerer Dienstbarkeit; es wohnt unter den Nationen, hat keine Ruhe gefunden; seine Verfolger haben es in der Bedrängnis ergriffen.
*4 Die Wege Zions trauern, weil niemand zum Fest kommt; alle ihre Tore sind öde; ihre Priester seufzen; ihre Jungfrauen sind betrübt, und ihr selbst ist es bitter.
*5 Ihre Bedränger sind zum Haupt geworden, ihre Feinde sind sorglos; denn der HERR hat sie betrübt wegen der Menge ihrer Übertretungen; vor dem Bedränger her sind ihre Kinder in Gefangenschaft gezogen.
*6 Und von der Tochter Zion ist all ihre Pracht gewichen; ihre Fürsten sind wie Hirsche geworden, die keine Weide finden, und kraftlos gingen sie vor dem Verfolger her.
*7 In den Tagen ihres Elends und ihres Umherirrens erinnert Jerusalem sich an alle ihre Kostbarkeiten, die seit den Tagen der Vorzeit waren, da nun ihr Volk durch die Hand des Bedrängers gefallen ist und sie keinen Helfer hat; die Bedränger sehen sie an, spotten über ihren Untergang.
*8 Jerusalem hat schwer gesündigt, darum ist sie wie eine Unreine geworden; alle, die sie ehrten, verachten sie, weil sie ihre Blöße gesehen haben; auch sie selbst seufzt und wendet sich ab.
*9 Ihre Unreinheit ist an ihren Säumen, sie hat ihr Ende nicht bedacht und ist erstaunlich gefallen: Da ist niemand, der sie tröstet. Sieh, HERR, mein Elend, denn der Feind hat großgetan!
*10 Der Bedränger hat seine Hand ausgebreitet über alle ihre Kostbarkeiten; denn sie hat gesehen, dass Nationen in ihr Heiligtum gekommen sind, von denen du geboten hast, dass sie nicht in deine Versammlung kommen sollen!
*11 All ihr Volk seufzt, sucht nach Brot; sie geben ihre Kostbarkeiten für Speise hin, um sich zu erquicken. Sieh, HERR, und schau, dass ich verachtet bin!
Anmerkungen und Schriftstellen
„Wie!“ (hebr. ekah), ein entsetztes Staunen, kennzeichnet das Folgende als Klagelied (vgl. 2,1; 4,1; Jes 1,21; Jer 9,18; 48,17). „Einsam sitzen“ drückt tiefe Trauer aus (Jer 15,17; Neh 1,4). Jerusalems Witwenstand spricht u. a. von Entvölkerung (5Mo 28,62; vgl. Jes 47,8). „Fronpflichtig“ bedeutet „zu Zwangsarbeit verurteilt“.
Hiob 6,15; 16,2; zu trügerischen „Freunden“ vgl. Jeremia 2,36 für Ägypten; für Edom, Ammon, Moab, Tyrus und Sidon Jeremia 27,3; Psalm 137,7 und Hesekiel 25,3.8.12.
2,6; 5,14.
Ihre (Zions) Kinder = Bewohner Jerusalems (5Mo 28,32.44; 2Kön 25,11; 2Chr 36,20; Jer 52,15).
1,17; 1. Könige 9,6.7; Jeremia 13,26; Hesekiel 16,37.
5. Mose 32,29.30; Jeremia 5,31 – ein erstes Gebet.
5. Mose 23,4.5; Psalm 79,1; Hesekiel 7,21.22; Plünderung und Entweihung des Heiligtums.
Die Überlebenden geben ihre Wertsachen für Nahrungsmittel. Ein zweites Gebet (11b) leitet zur anderen Hälfte von Kapitel 1 über.
1 Weitere biblische Akrostichen sind u. a. die