Behandelter Abschnitt Klgl 1,1-3
Einleitung
Das erste Kapitel des Buches Klagelieder besteht aus zwei Teilen: die Verse 1–11 und die Verse 12–22. In den Versen 1–11 haben wir eine allgemeine Beschreibung des Elends nach der Zerstörung Jerusalems. Es beschreibt das Leben im Land nach der Zerstörung, den Zustand der Wenigen, die im Land übrig geblieben sind. Die Verse sind in der dritten Person Singular geschrieben, aufgezeichnet aus dem Mund eines Beobachters und gleichzeitig eines direkt Betroffenen.
In den Versen 12–22 hören wir die Klage Zions über das, was der HERR getan hat. Diese Verse sind in der ersten Person Singular geschrieben, aufgezeichnet aus dem Mund des Propheten, der die Gefühle der leidenden Stadt zum Ausdruck bringt. Es ist jemand, der von Traurigkeit, Kummer und Schmerz überwältigt ist. Doch es gibt keine Spur von Rebellion, denn die eigene Schuld wird als Ursache für dieses Elend bekannt.
Eine Unterteilung in kleinere Einheiten oder Abschnitte ist schwierig. Der Dichter hat, vom Geist geleitet, durch die Verwendung des Alphabets eine Einteilung vorgenommen, die eigentlich aus jedem Vers einen eigenen Abschnitt macht. Wir können jedoch vorsichtig versuchen zu entdecken, ob es zwischen einzelnen Versen vielleicht doch einen gewissen Zusammenhang gibt, wodurch Abschnitte entstehen, die größer sind als die durch das Alphabet angegebenen. Die hier folgende Einteilung ist daher nicht mehr als eine Anregung, die hoffentlich hilft, den Zusammenhang dieses Buches besser zu verstehen.
Verse 1–3 | Stadt und Land in tiefer Trauer
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Wie sitzt einsam die volkreiche Stadt, ist einer Witwe gleich geworden die Große unter den Nationen! Die Fürstin unter den Landschaften ist fronpflichtig geworden.
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Bitterlich weint sie bei Nacht, und ihre Tränen sind auf ihren Wangen; sie hat keinen Tröster unter allen, die sie liebten; alle ihre Freunde haben treulos an ihr gehandelt, sind ihr zu Feinden geworden.
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Juda ist ausgewandert vor Elend und vor schwerer Dienstbarkeit; es wohnt unter den Nationen, hat keine Ruhe gefunden; seine Verfolger haben es in der Bedrängnis ergriffen.
Wir sehen in Vers 1 ein Merkmal des Buches der Klagelieder, das ist der Kontrast zwischen der glänzenden Vergangenheit und der trostlosen Gegenwart. Die Stadt wird beschrieben im Hinblick auf die Veränderung, die stattgefunden hat. Sie hat sich verändert, was die Anzahl der Einwohner betrifft (Vers 1a), und auch in wirtschaftlicher (Vers 1b) und sozialer (Vers 1c) Hinsicht.
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Vers 1a. Die einst dicht bevölkerte Stadt, in der sich während der großen Feste auch noch viele Pilger aufhielten, ist nun „einsam“. Sie ist durch Krieg und Wegführung der meisten ihrer Bewohner beraubt worden.
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Vers 1b. Einst war die Stadt groß unter den Nationen. Sie war groß wegen ihres Gottes und durch die Könige, die Er gab. Das sehen wir besonders in den Tagen Davids und Salomos (vgl. Ps 48,2). Jetzt ist sie ohne Schutz und Hilfe, hat keinen Mann, eine schutzbedürftige Witwe. Sie empfindet es so, als habe man ihr Gott weggenommen.
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Vers 1c. Früher war die Stadt eine Fürstin, hoch angesehen in ihrer Umgebung. Sie, die über andere geherrscht hat, ist jetzt eine Sklavin, eine Fronpflichtige des Königs von Babel.
In der Nacht, die eigentlich dazu dient, zu schlafen und zur Ruhe zu kommen, wird der Kummer am stärksten empfunden (Vers 2). Man findet keine Ruhe. Auch im gesamten Dasein der Stadt ist es Nacht. Sie trauert und weint unaufhörlich. Ihre Augen fließen über von Tränen. Auch wenn Weinen Erleichterung bringen kann, hier ist das nicht der Fall und sie weint sich nicht in den Schlaf.
Normalerweise trocknen Tränen schnell. Doch hier bekommen sie keine Chance, denn sie strömen weiter und kleben sozusagen an den Wangen. Da ist auch niemand, der sie trocknet. Sie weint nicht nur wegen ihres Elends, sondern mehr noch, weil sie von ihren „Liebhabern“ und „Freunden“ verraten wurde (vgl. Jer 4,30c).
Der Kummer wird noch schlimmer, weil es keinen Tröster gibt (vgl. Pred 4,1). Dass sie ohne Tröster, das heißt ohne Gott als ihren Tröster, ist (Vers 16), zieht sich wie ein roter Faden – vielleicht besser: klingt mit der Regelmäßigkeit des Schlags einer Totenglocke – durch dieses Kapitel (Verse 9.16.17.21).
Es geht nicht so sehr darum, dass die Verbündeten Judas die eine oder andere verräterische Tat begangen haben, sondern vielmehr darum, dass das Volk in seinem Vertrauen in diese Verbündeten beschämt wurde. Sie hätten wegen ihrer Sicherheit auf den HERRN vertrauen müssen. Das aber taten sie nicht, denn sie suchten ihre Hilfe bei den Nationen um sie herum (Hos 8,9.10a; 1Kön 15,16-20).
Die Propheten haben immer davor gewarnt, dass solche Bündnisse zum Abfall führen (Hos 5,13; 8,8.11; 14,4). Aber sowohl die Führer des nördlichen Zehn-Stämme-Reiches als auch die des südlichen Zwei-StämmeReiches wollten nicht hören. Jerusalem musste lernen, dass solche Freunde ein zerbrechlicher Rohrstab sind (Hes 29,6.7). Das ist eine Lektion, die auch wir immer wieder in unserem Leben lernen müssen.
Das Schwierigste für trauernde Menschen ist, Trost bei jemandem zu finden, der wirklich etwas von dem Schmerz versteht und hilft, ihn zu ertragen. Die ehemaligen Liebhaber Jerusalems, mit denen sie ehebrecherisch umging und mit denen sie Bündnisse schloss, können diesen Trost jedenfalls nicht spenden. Aber auch ihre ehemaligen Freunde spenden keinen Trost, im Gegenteil, sie behandeln sie als Feind. Sie suchte Liebe und Freundschaft bei anderen statt beim HERRN. Solche Liebe und Freundschaft enttäuschen immer.
Von Jerusalem wendet sich Jeremia nun zu Juda (Vers 3). Die Bevölkerung von Juda ist nicht mehr im Land. Sie sind in die Gefangenschaft weggeführt worden, wo sie sich in Elend und harter Knechtschaft befinden. Sie leben außerhalb des Landes, unter den Heidenvölkern. Sie sind Vertriebene, fern vom Ort der Ruhe und daher ruhelos. Die wahre Ruhe, die des Friedensreichs, ist weit weg. Feinde beherrschen den Ort der Ruhe. Zedekia und einige Soldaten versuchten zwar zu flüchten und der Gefangenschaft zu entkommen, aber sie wurden vom Feind eingeholt (Jer 39,4.5).