Behandelter Abschnitt Klgl 1
Einleitung
Es ist heute wie früher kein ungewöhnlicher Gedanke, anzunehmen, dass das Buch, mit dem wir und jetzt beschäftigen, aus den Klageliedern besteht, die der Prophet anlässlich des Todes von Josia geschrieben hat (2Chr 35,25). Wenn ein göttliches Zeugnis dies bestätigte, wäre es unsere Aufgabe, es zu glauben: das behauptet niemand, dennoch gibt es die geheime Annahme, dass das, was Jeremia in seiner Trauer um Josia verfasst hat, in der Bibel stehen muss, und daher dieses Buch sein muss. Aber es gibt keinen hinreichenden Grund, daraus zu schließen, dass alle Schriften der Propheten für den ständigen Gebrauch des Volkes Gottes inspiriert waren; vielmehr gibt es einen guten Grund, daraus zu schließen, dass sie es nicht waren. Daher steht es uns frei, den Charakter des vorliegenden Werkes zu untersuchen, nicht um seine göttliche Autorität in Frage zu stellen, sondern um so weit wie möglich sein Ziel und die Themen, die es behandelt, festzustellen.
Doch wenn dies der Fall ist, dann widerspricht der Inhalt selbst dieser Annahme; denn das erschütternde Niederwerfen Jerusalems, nicht der Tod des so jung niedergeschlagenen frommen Königs, ist eindeutig im Blick. Die Beschreibung des Zustands der Stadt, des Heiligtums und des Volkes stimmt nicht mit dem Tod Josias überein; und selbst der König, dessen Erniedrigung genannt wird (Klgl 2,9), konnte unmöglich Josia sein, der in der Schlacht erschlagen wurde, anstatt unter den Heiden und daher in Gefangenschaft zu sein. Es war zweifellos Jojakin (598‒597), dessen wechselvolles Los wir durch den Vergleich der Prophezeiung und 2. Könige 24 und 25 leicht nachvollziehen können. Alle Umstände jener Zeit stimmen mit den Klageliedern hier überein.
Dass der Geist der Prophezeiung das Buch diktiert hat, kann nicht mit Recht bezweifelt werden, obwohl es vielleicht keine direkten Vorhersagen enthält wie das frühere Werk, von dem es in der hebräischen Bibel schon lange räumlich getrennt ist, wenn auch nicht in den Tagen des Josephus. Nichtsdestoweniger ist die Unterschiedlichkeit von Gegenstand, Ton und Art ausreichend ausgeprägt, um es als ein separates Werk desselben Autors, Jeremia, zu betrachten.
Es war moralisch gut, dass wir nicht nur Vorhersagen über die tiefe Not haben sollten, die über das Haus Davids und Jerusalem kommen würde, sondern auch das Ausströmen eines gottesfürchtigen Herzens, das vor Angst um das Volk Gottes zerbrochen war, und das umso mehr, als sie all das verdienten, was durch ihre Feinde von Gottes Hand über sie kam. Wir können uns kaum vorstellen, was ein Mann wie Jeremia gefühlt haben muss, als er sah, wie der Tempel zerstört, der heilige Gottesdienst aufhörte, der König und die Priester und die Masse des Volkes von Juda von ihrem götzendienerischen Eroberer verschleppt wurden, und Jeremia gezwungen war, auch zuzugeben, dass ihre Verwüstung wegen ihrer Sünden höchst gerecht war. Sogar als er die Ereignisse überlebt hatte, die den Wert seiner eigenen vernachlässigten Prophezeiungen bewiesen, war er inspiriert, diese Klagelieder auszugießen, die keine eitlen Klagen waren, wie wir sehen werden, sondern ein Ausbreiten der Leiden der Stadt und des Volkes vor einem Gott, dessen Erbarmen und Treue gleichermaßen unendlich sind. Er rechtfertigt Gott für das, was Er dem unglücklichen Jerusalem angetan hatte. Er legt vor Gott den völligen Ruin des Volkes in ziviler und religiöser Hinsicht dar und beschuldigt die falschen Propheten, sie durch ihre Falschheit und Schmeichelei in die Grube gelockt zu haben, zugleich fordert er das Volk zur Umkehr auf. Er zeigt sein eigenes Empfinden des Kummers tiefer als das jedes anderen, da er in der Tat sowohl besonders unter den Juden selbst litt, bevor der Zusammenbruch kam, und der Geist Christi, der in ihm war, ihm gab, alles zu erkennen, wo andere nervten, um ihm mit der verschmierten Rüstung der Unempfindlichkeit und des unbezwingbaren Stolzes zu trotzen; dennoch hegt er Hoffnung auf das, was Gott ist, der es liebt, die Gefallenen zu erheben und die Stolzen zu erniedrigen. Er stellt ihr gegenwärtiges Elend wegen der Sünden ihrer Priester und Propheten ihrem früheren Wohlstand gegenüber, erklärt aber, dass die Strafe Zions ein Ende haben wird, die Strafe von Edom aber nicht. Schließlich breitet er betend all ihr eigenes Unglück vor dem Herrn aus; auch sein einziges Vertrauen ist auf Ihn, der uns zu sich wenden kann, was auch immer sein gerechter Zorn sein mag.
Die Form ist sehr bemerkenswert; außer im letzten Kapitel sind alle akrostatisch oder zumindest alphabetisch. De Wette, mit der üblichen Überheblichkeit eines Rationalisten, erklärt dies von sich aus als eine Ausgeburt des späteren verdorbenen Geschmacks. Aber das muss er trotz der schlichten Tatsache tun, dass diese bewundernswerten und sogar frühen Psalm 25; 34 und37 ähnlich aufgebaut sind, ganz zu schweigen von dem wunderbaren Psalm 119 und einigen anderen in demselben fünften Buch des Psalmen (111; 112 und 145). Wer diese Psalmen als kalt, schwach und flach sowie als unzusammenhängend bezeichnet, verrät einfach seinen eigenen Mangel an jeder gerechten Wertschätzung, ganz zu schweigen von der Ehrfurcht, die wir von Menschen, die ihnen in jedem wahren Sinn den göttlichen Ursprung absprechen, nicht erwarten dürfen.
Das erste, zweite und vierte Kapitel sind so geschrieben, dass jeder
Vers mit einem der zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets
in passender Reihenfolge beginnt, außer dass im zweiten und vierten
Kadhe folgt, statt Pe voranzustellen; und die gleiche Transposition
kommt in Klagelieder 3 vor, wo wir drei Strophen statt der einzelnen
haben, die so beginnen; und daher gibt es darin 66 Strophen. Eine
weitere Besonderheit ist zu bemerken, dass jeder Vers (außer
Kapitel 1
Der Prophet zeigt ein anschauliches Bild von Jerusalem, das einst reich an Menschen war und nun allein und wie eine Witwe dasteht; sie, die mächtig unter den Nationen war, eine Prinzessin unter den Provinzen, ist nun tributpflichtig geworden. Sie wird gesehen, wie sie heftig weint, und das in der Nacht, wenn Dunkelheit und Schlaf anderen Ruhe verschaffen. Für sie nur eine Erneuerung jenes Kummers, der ihre Wangen mit Tränen bedeckt. Nun erweist sich die Torheit wie auch die Sünde, die den Herr für andere verlassen hat; aber es gibt für sie keinen Tröster unter ihren Liebhabern. Alle ihre Freunde, die Verbündeten, auf die sie sich verließ, handeln verräterisch an ihr, und sind nur Feinde (V. 1.2).
Die letzte Hoffnung des Volkes war dahin. Israel war lange eine Beute der Assyrer gewesen. Nun aber, in der Gefangenschaft Judas, überzieht Zion Trauer, wo einst rauschende Feste waren. Ihre Priester seufzen, ihre Jungfrauen sind betrübt, sie selbst als Ganzes in Bitterkeit. Auf der anderen Seite sind ihre Widersacher in Macht und Herrschaft über sie. Wie bitter war das alles für einen Juden! Und in gewissem Sinne am bittersten, wenn der Jude fromm war. Denn neben dem Kummer der Natur, den er mit seinen Landsleuten teilen konnte, kam noch der ergreifende Kummer hinzu, dass die normalen Zeugen des Herrn auf der Erde sich als falsch erwiesen hatten, und er konnte nicht sehen, wie Gott trotz und durch Israels Untreue Herrlichkeit gebracht werden würde.
Es ist notwendig, sich die besondere Stellung Israels und Jerusalems vor Augen zu halten: Sonst können wir ein Buch wie dieses und viele der Psalmen sowie einen Großteil der Propheten nicht würdigen. Der Patriotismus eines Juden war wie bei keinem anderen Volk oder Land mit der Ehre des Herrn verbunden. Die Vorsehung regiert überall: kein Überfall roter Indianer, kein Manöver der größten Militärmacht im Westen, keine Bewegung oder kein Kampf in Asien, ohne sein Auge und seine Hand. Aber Er hatte in seinem eigenen Land und Volk eine direkte Regierung eingesetzt, die seit den Tagen Samuels durch königliche Macht modifiziert worden war und deren Segen bei Gehorsam garantiert wurde. Aber wer konnte den Gehorsam garantieren? Israel versprach ihn zwar, aber vergeblich. Das Volk war ungehorsam, die Priester waren ungehorsam, die Könige waren ungehorsam. Wir sehen auch, dass in den Tagen Jeremias falsche Propheten die wahren nachahmten und sie in den Augen des Könighofes und einer Nation verdrängten, die eine trügerische Sanktion von Gott für ihre eigene Willkür erhofften und prophezeiten, was dem Volk in Schmeichelei und Betrug gefiel. Daher verlieh die Verderbnis denen, die bereits den steilen Hang des Verderbens hinunterglitten, nur einen ungeheuren Auftrieb.
Doch das verringerte nicht die Qualen von Leuten wie Jeremia. Sie erkannten das unvermeidliche Verderben; und er, nicht nur im moralischen Sinne, sondern durch göttliche Eingebung, gibt hier seinen Empfindungen Ausdruck. Der hochgelobte Herr Jesus selbst ist das vollkommene Muster für ähnlichen Kummer über Jerusalem, in Ihm absolut selbstlos und in jeder Hinsicht rein, aber umso tiefer empfunden. Wenn man die Beziehung dieser Stadt zu Gott nicht versteht, kann man all das nicht nachvollziehen; und es besteht die Gefahr, es entweder als Sorge um ihre Seelen wegzuerklären oder es zu einem Grund für ähnliche Gefühle zu verdrehen, jeder für sein eigenes Land. Aber es ist klar, dass die Seele eines Menschen in Peking oder London, in Jerusalem oder Baltimore dieselbe ist. Der Herr zeigt uns zwar den unermesslichen Wert eines Menschen anderswo; aber das ist nicht der Schlüssel zu seinen Tränen über Jerusalem. Das bevorstehende Gericht Gottes an dieser Welt, die düsteren Folgen, die noch im Schoß der Zukunft liegen, wegen der Verwerfung des Messias sowie alles anderen Bösen gegen Gott, ließen den Heiland weinen. Wir müssen uns daher nicht wundern, dass der Geist Christi, der in Jeremia war und ihn in diesem Buch der Klagelieder leitete, dem Propheten die Gemeinschaft mit seinem Meister schenkte, bevor er selbst das Schlimmste gegen seine eigene Person bewies.