Behandelter Abschnitt 2Kor 5,1-9
Einleitung
Beim 5. Kapitel angelangt, bekommen wir zu wissen, dass trotz all der wunderbaren Dinge, von denen die vorigen Kapitel zu uns geredet haben, sei es vom Anschauen des Herrn, vom Verwandeltwerden in sein Bild, vom Offenbaren seines Lebens oder vom persönlichen Genuss seiner Herrlichkeiten, uns doch noch eins fehlt, und das ist: ihm gleichförmig sein. Gleichförmig sein ist nicht dasselbe wie umgestaltet werden. Unsere Umgestaltung vollzieht sich sehr langsam; sie ist derjenigen der Schmetterlingspuppen vergleichbar, die monatelang im gleichen Zustand zu bleiben scheinen, obgleich die Umgestaltung, aus der eines Tages der fertige Schmetterling hervorgeht, sich im geheimen vollzieht. Um ihm gleichförmig zu sein, müssen wir ihn mit unseren eigenen Augen sehen. Deshalb beschäftigt sich der Apostel jetzt mit der Frage unseres Leibes.
Die Seele kann den Herrn genießen; aber was wird aus dem Leibe? Darauf gibt der Apostel die Antwort. „Wir wissen, dass, wenn unser irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird, wir einen Bau von Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, in den Himmeln“ (V. 1). In allen Briefen drückt das Wort „wir wissen“ die unbedingte christliche Gewissheit aus. Aber ich möchte wohl wissen, ob das Wort „wir haben“ in diesem Vers den Freunden so zu schaffen macht, wie es einst mir zu schaffen gemacht hat.
Der Apostel stellt den Leib als eine Hütte oder ein Zelt dar, das zerstört wird, und nach dem Ausdruck „wir haben“ zu urteilen, könnte man meinen, dass der Bau, nämlich unser verherrlichter Leib, uns schon im Voraus im Himmel bereitet wird. Das aber kann nicht sein, denn wir werden mit dem Leib in den Himmel eingehen, den wir hienieden gehabt haben, nur „umgestaltet zur Gleichförmigkeit mit seinem Leibe der Herrlichkeit“ (Phil 3,21).
Mittlerweile habe ich die Stelle so verstanden, dass sie einerseits an die Stiftshütte und anderseits an den Tempel anspielt. Israel hat lange Zeit, selbst nach seinem Einzug in Kanaan, das von Moses in der Wüste aufgeschlagene Zelt als „Haus“ gehabt. Doch konnte dieses Zelt nicht dauernd bestehen bleiben. Als Salomo den Tempel erbaute, brachte er alle Geräte der Stiftshütte dorthin, während diese selbst vom Schauplatz verschwand. Alles, was sie enthielt, bildete fortan einen Teil des Tempels. Es war dasselbe Haus, aber das eine war für eine vorübergehende Zeit, während das andere in Herrlichkeit bestand.
Trotzdem war auch der Tempel Salomos nur für diese Erde da; er war lediglich ein Bild der himmlischen Dinge, war „von dieser Schöpfung“ und „mit Händen gemacht“ (Heb 9,11). Wir haben heute eine Hütte, in der Gott wohnt, denn unser Leib ist sein Tempel; aber dieser Leib kann, wie die Stiftshütte, zerstört werden. Nur „wissen wir“, nur haben wir völlige Glaubenszuversicht, dass er, wenn zerstört, durch ein ewiges Haus in den Himmeln ersetzt werden wird. Es wird dasselbe Haus, aber nicht von dieser Schöpfung sein. Der Geist Gottes wird darin in Herrlichkeit wohnen, so wie er heute in Schwachheit in unserem irdischen Hause wohnt. Der Apostel freut sich in dem Gedanken, dass, wenn seine Hütte zerstört wird, sein zukünftiges Haus von ewigem Bestand sein wird im Himmel.
Indem der Apostel Jesum betrachtete, sah er, was sich zugetragen hatte in Bezug auf den Herrn, und infolgedessen auch, was sich zutragen muss in Bezug auf uns alle. „Brechet diesen Tempel ab“, hatte Jesus gesagt, „und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten.“ Er war in diese Welt gekommen, um sein Leben zu lassen, und folglich konnte der Mensch es ihm nehmen. Der Tempel seines Leibes konnte abgebrochen werden, aber in der Auferstehung hat er einen verherrlichten Leib angenommen.
Dieser Leib, den er hienieden ohne jede Spur von Sünde bewohnte, war ein heiliger, aber noch kein verherrlichter Leib; das ist er erst durch die Auferstehung geworden. Der Apostel blickt auf zum Himmel; dort sieht er Jesum in seinem verherrlichten Leibe und kann sagen: Ich habe ein Haus, das mir gehört, ein Haus in den Himmeln. Ein anderer Mensch ist schon mit dieser Behausung überkleidet worden; also werde auch ich damit überkleidet werden; und das erfüllt sein Herz mit Freude. „Denn in diesem freilich seufzen wir“, hat er vorher feststellen müssen.
Dieses irdische Haus ist in der Tat ein Ort vieler Seufzer, vieler Tränen; aber er kann hinzufügen: „wir sehnen uns, mit unserer Behausung, die aus dem Himmel ist, überkleidet zu werden.“ Er beschäftigt sich mit dem Zerstörtwerden der Hütte; er seufzt darin, aber er wartet durchaus nicht auf den Tod. Sein Wunsch ist, nicht entkleidet, sondern überkleidet zu werden, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. Er erwartet den Herrn Jesus, Dessen Kommen, während er zugleich die entschlafenen Heiligen auferweckt, unsere sterblichen Leiber, uns, die Lebenden, verwandeln wird, ohne dass wir durch den Tod zu gehen hätten. Das war es, was der Apostel wünschte. Er wünschte wie Christus zu sein, bei ihm und ewig mit ihm, ohne dass deswegen sein irdisches Haus zerstört zu werden brauchte.
Diese bestimmte und in ihm allzeit lebendige Hoffnung ließ ihn jedoch nicht vergessen, dass die Zeit, seine Hütte abzulegen, nahe sein konnte. Und in Bezug hierauf fragt er gleichsam: Wäre das ein Verlust für mich? Weit davon entfernt! „So sind wir nun allezeit gutes Mutes und wissen, dass, während einheimisch in dem Leibe, wir von dem Herrn ausheimisch sind.“ Dies letztere war es, was er als Verlust betrachtete, und so fügt er hinzu: „Wir sind aber gutes Mutes und möchten lieber ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem Herrn sein.“ Hier haben wir den Zustand, wo die Seele von dem Leibe getrennt ist. Sollte er sterben, so würde er einheimisch bei dem Herrn sein. Was wählt er nun? Er wählt überhaupt nicht.
Er ist zufrieden damit, durch Glauben, nicht durch Schauen zu wandeln. Es gibt eine Sache, die er „lieber möchte“, aber er „sehnt sich danach“, überkleidet zu werden. Die gleiche Wahl zwischen zwei Möglichkeiten hat er auch im Philipperbrief vor sich (Kap. 1.). „Das Leben ist für mich Christus“, lesen wir dort. Ihm zu dienen, ist wohl der Mühe wert. Aber „Sterben ist Gewinn“. Deswegen „habe ich Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein, denn es ist weit besser“.
Der Apostel befindet sich also hier dreierlei Möglichkeiten gegenüber: Erstens seine Hütte zerstört zu sehen und alsbald aufzuerstehen, um ein Haus zu haben, das nicht mit Händen gemacht, sondern ewig ist, in den Himmeln. Zweitens beim Kommen des Herrn mit seiner Behausung, die aus dem Himmel ist, überkleidet zu werden, ohne durch den Tod zu gehen. Drittens diese Hütte zu verlassen und ausheimisch vom Leibe zu sein, in einem Zustand, der noch nicht das Vollkommene ist, aber der das Einheimischsein bei dem Herrn bedeutet. Selbst dieser dritte Fall genügt ihm; er kann von ihm sagen: „Es ist weit besser.“
Wenn wir nun jetzt einen Blick in unser Inneres werfen und uns fragen: Wie stehen wir diesen drei Möglichkeiten gegenüber? Wie wird dann unsere Antwort lauten? Sprechen wir angesichts der Möglichkeit des Todes: Ich bin völlig glücklich im Gedanken, diese arme Hütte gegen ein verherrlichtes Haus eintauschen zu können, das ich gut kenne, weil ja mein Heiland damit überkleidet worden ist? Oder sagen wir vielleicht: Ich erwarte den Herrn von einem Augenblick zum anderen? Gott hat mich nicht dazu bereitet, zu sterben, sondern er hat mich „eben hierzu bereitet“, das heißt, überkleidet zu werden, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben, und ich besitze schon seinen Geist als Unterpfand meiner Hoffnung? (V. 4.5) Oder sagen wir, bei dem Gedanken an den Tod und an eine noch in mehr oder weniger weiter Ferne liegende Auferstehung, dass wir lieber ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem Herrn sein möchten? Woran liegt es, liebe Freunde, dass diese Dinge so wenig Wirklichkeitswert für uns haben?
Die ganze vorliegende Schriftstelle sagt es uns: Die Person des Herrn Jesus hat für uns nicht den Wert, den sie haben sollte, den Wert, den sie für den Apostel Paulus hatte. Christus war die tägliche Hoffnung seiner Seele. Sein Herz war nur mit ihm beschäftigt. Er hatte in dieser Welt keinen anderen Gegenstand, der ihn anzuziehen vermocht hätte. Das Leben war für ihn Christus. Für andere Dinge war in seinem Herzen kein Platz.
Ergreifen uns Freudeschauer, liebe Geschwister, bei dem Gedanken, dass der Herr jeden Augenblick kommen kann? Oder auch, wenn wir daran denken, dass er uns rufen kann, um unsere Hütte abzulegen und bei ihm auf die Vollkommenheit zu warten, in die er bereits eingetreten ist, und in der auch wir seine Genossen sein werden in Ewigkeit?