Behandelter Abschnitt 2Kor 5,10-15
Wie von anderer Seite einmal bemerkt worden ist, ist dieses Kapitel das einzige im Neuen Testament, in welchem das Wort „wir“ ohne Unterschied auf alle Menschen angewandt wird, während es sich überall sonst auf die Gläubigen allein bezieht. Man muss also in diesem Kapitel sorgfältig die Stellung unterscheiden, die Gläubige oder Ungläubige den großen Tatsachen gegenüber einnehmen, die unterschiedslos alle Menschen angehen: Sünde, Tod und Gericht.
Die Beobachtung dieses Unterschiedes ist von der größten Wichtigkeit für die Verkündigung des Evangeliums. Im Anfang dieses Kapitels haben wir gesehen, dass alle Menschen einmal vor Gott erscheinen müssen. Für sich selbst begehrte der Apostel dieses Erscheinen; nicht dass er wünschte, entkleidet zu werden (obgleich er zugab, dass das geschehen konnte), aber er wünschte, mit seinem verherrlichten Leibe überkleidet zu werden. Ob der Herr kommen würde, wenn er, der Apostel, bereits ins Grab gebettet war, oder wenn er noch in dieser Welt lebte, in jedem Fall erwartete er, mit einem verherrlichten Leibe überkleidet zu werden, um so vor Gott zu erscheinen.
Aber gleichzeitig zeigte er, dass alle Menschen auferstehen müssen. „So wir anders“, heißt es im dritten Vers, „wenn wir auch bekleidet sind, nicht nackt erfunden werden.“ Alle müssen in ihren Leibern vor Gott erscheinen, aber die einen werden mit einem verherrlichten Leibe überkleidet, die anderen dagegen einfach mit einem Auferstehungsleib bekleidet sein. Die ersteren haben teil an der ersten Auferstehung; die Auferstehung der letzteren dagegen, die viel später stattfinden wird, wird der zweite Tod genannt. Man kann mit einem Auferstehungsleib bekleidet sein und doch vor Gott nackt erfunden, das heißt in einem Zustand erfunden werden, in welchem notwendigerweise das Gericht Gottes den Menschen treffen muss.
Als Adam sich nach dem Fall bekleidet zu haben glaubte, fand er sich trotzdem nackt vor Gott, und das war seine Verurteilung. Es ist immer so: Der vor Gott nackt erfundene Mensch muss seine Strafe tragen. Deshalb überkleidete Gott, der Adam retten wollte, ihn selbst mit Fellen von geopferten Tieren. Wenn die Gläubigen vor Gott erscheinen, so werden sie nicht nur mit einem auferweckten Leib bekleidet sein, denn dieser letztere könnte sie nicht schützen, sondern mit einem verherrlichten Leib überkleidet, mit einem Leib, der dem ihres Heilandes gleicht, überkleidet mit der Herrlichkeit, die ihm gehört, überkleidet mit der Gerechtigkeit Gottes selbst. Das ist ihre Sicherheit. Denn wie sollte Gott uns nicht in seiner Gegenwart empfangen, wenn wir überkleidet sind mit all den herrlichen Eigenschaften, die das Teil seines Geliebten sind? Dann müsste er ja Christum selbst verwerfen!
In dem heute gelesenen Abschnitt finden wir aber noch eine zweite Wahrheit, die gleichzeitig Gläubige und Ungläubige angeht: „Wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden, auf dass ein jeder empfange, was er in dem Leibe getan, nach dem er gehandelt hat, es sei gut oder böse“ (V. 10). Wie es zwei Auferstehungen gibt, so gibt es auch zweierlei Erscheinen vor dem Richterstuhl Christi. Wenn es sich um die Auferstehung der Bösen, „die Toten“ genannt, handelt, so hören wir, dass sie mit einem auferweckten Leibe bekleidet sein werden, um vor dem „großen, weißen Thron“ zu erscheinen, der dann errichtet werden wird, wenn weder für die Erde noch für den Himmel eine Stätte mehr gefunden wird (vgl. Off 20,11-15).
Dieser Thron ist für sie der Richterstuhl des Christus. Auf diesem Thron wird der Herr Jesus dann sitzen, um zu richten, denn von ihm steht geschrieben, dass Gott ihn zum Richter gesetzt hat, nicht allein der Lebendigen, sondern auch der Toten (vgl. Apg 10,42). So sind diese Menschen, obgleich alle auferstanden, „Tote“. Vor diesem Richterstuhl werden die Bücher aufgetan, das Buch des Lebens sowohl als auch das Buch der Verantwortlichkeit. Nicht ein Wort kommt über die Lippen derer, die vor diesem Richterstuhl stehen. Sie werden gerichtet nach ihren Werken, wenn sie nicht geschrieben gefunden werden in dem Buche des Lebens.
Es gibt aber noch eine zweite Seite des Richterstuhls, und diese bezieht sich ausschließlich auf die Kinder Gottes. „Wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden.“ Es wird ein Augenblick für uns Gläubige kommen, wo alles, was wir gewesen sind, oder was wir getan haben, vor dem Richterstuhl Christi, in der Gegenwart Gottes, voll und ganz ins Licht gebracht werden wird. Nicht das Geringste wird dort verborgen bleiben. Meine ganze Geschichte, von Anfang an bis zu dem Augenblick, wo es Gott gefällt, mich zu Sich zu rufen, wird dort an den Tag kommen. Alles, was wir hier getan haben, wird dort unter den Augen Gottes ins volle Licht gebracht werden; wir müssen offenbar werden vor dem Richterstuhl des Christus!
Auf welche Weise aber werden wir dort offenbar werden? Wir sahen bereits, dass die Menschen, die vor diesem Richterstuhl als Sünder erfunden werden, die Folgen ihrer Werke tragen müssen. Wir Gläubige dagegen werden dort im gleichen Charakter wie der Richter selbst erfunden werden, überkleidet mit all seinen Vollkommenheiten in einem in Herrlichkeit auferweckten Leib. Wir werden das Licht nicht fürchten, das dort auf unser ganzes vergangenes Leben fällt, denn wir wissen schon, dass die Gnade Gottes Mittel gefunden hat, sich aus unserer Armseligkeit heraus zu verherrlichen. Ja, dass selbst unsere Sünden ein Anlass für ihn sein werden, seine Herrlichkeit hervorleuchten zu lassen, wobei er uns freilich die Strafe oder Züchtigung in dieser Welt hat tragen lassen mit dem Endziel, uns dahin zu führen, wo er uns haben wollte, in die Herrlichkeit des Christus.
Liebe Freunde, diese Erwägung macht mich glücklich bei dem Gedanken an den Richterstuhl. Wenn mein Leben dort nicht in all seinen Einzelheiten offenbar würde, so würde die Gnade Gottes, der es trotz allem gelungen ist, mich in die Herrlichkeit zu bringen, nicht in ihrer vollen Herrlichkeit zur Darstellung kommen. Das ist Stärkung für das Herz. Anstatt mit Furcht daran zu denken, dass meine Erbärmlichkeiten ans helle Tageslicht kommen werden, denke ich daran, dass Christus trotz all meiner Fehler verherrlicht worden ist; und darüber sollte ich mich nicht freuen? Wenn die Gnade Gottes nicht während meines ganzen Lebens über mir gewesen wäre, wie hätte ich dann zur ewigen Seligkeit und zum endlichen Sieg gelangen sollen?
Woran liegt es nun, dass ein Christ sich vor dem Richterstuhl Christi fürchtet? Weil er kein ruhiges Gewissen hat.
Wir hören hier, dass jeder vor dem Richterstuhl empfangen wird, „was er in dem Leibe getan, nach dem er gehandelt hat, es sei gut oder böse“. Jeder Gläubige wird eine Belohnung empfangen oder einen Verlust erleiden, je nach der Art, wie er hienieden dem Herrn gedient hat. Dem, der einen schlechten Lebenswandel führt, kann ich nicht sagen: Du wirst trotzdem gerettet werden! Vielmehr frage ich ihn: Wo wird deine Krone sein? Was für einen Platz wirst du in der Herrlichkeit einnehmen? Wirst du keinen Verlust erleiden, und was für einen Verlust?! So wird es sein mit jedem Gläubigen, der nicht seiner hohen Berufung gemäß gewandelt hat. Deshalb sagt der Herr zu Philadelphia: „Halte fest, was du hast, auf dass niemand deine Krone nehme.“
Die der Treue verheißene Krone kann uns genommen und anderen gegeben werden. Das haben die Worte zu bedeuten: „Empfangen, was er in dem Leibe getan, nach dem er gehandelt hat.“ Wenn ich meine Krone verloren, wenn ich Christum verunehrt habe, so wird dies ein großer Verlust für mich sein, in dem Augenblick, wo es ernste Wirklichkeit wird, dass ich vor dem Richterstuhl zu erscheinen habe; dort aber angelangt, werde ich der allererste sein, der dieses Urteil als gerecht anerkennt, zur Verherrlichung des heiligen Gottes und seines Christus. Mich tröstet der Gedanke, dass, wenn Gott mir in jenem Augenblick nimmt, was meine Treue hätte erlangen können, und es einem anderen gibt, dessen Frömmigkeit ich vielleicht nur wenig geschätzt habe, dies eine gerechte Handlung sein wird, die zu völliger Verherrlichung des Herrn ausschlagen wird.
Was sollten wir nun tun im Blick auf den Richterstuhl? Verwirklichen, was die beiden Aussprüche des Apostels besagen: „Da wir nun den Schrecken des Herrn kennen“, und: „Wir sind Gott offenbar geworden“ (V. 11). Wir müssen uns schon hienieden in dem Licht dieses Richterstuhls aufhalten und nicht auf den Himmel warten, um dort zu erscheinen. Bei Paulus war es so. Er lebte im vollen Licht des Richterstuhls Christi. Ohne sich irgendeiner Täuschung hinzugeben, sah und wusste er, dass in ihm, das ist in seinem Fleische, nichts Gutes war. Er lebte in gründlichem und beständigem Selbstgericht. Da er keinerlei Selbstvertrauen besaß, stützte er sich auf nichts, was er etwa in sich selbst hätte haben können; aber eins begehrte er: „Gott offenbar zu sein“, ähnlich wie es im 139. Psalm heißt: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz!“
Für ihn war in der Tat der Richterstuhl schon hienieden eine Wirklichkeit, und er begehrte zu wissen, ehe er im Himmel dort erschien, ob „ein Weg der Mühsal“ in seinem Herzen sei, um „auf ewigem Wege“ geleitet zu werden. Seine Seele weilte beständig in Gottes Gegenwart und begehrte, von ihm erkannt zu sein, indem sie nur einen Wunsch hatte. Dieser bestand darin, dass Gott seine Seele jeden Augenblick im vollen Lichte seines Angesichtes erhalten möchte, um ihn alles entdecken zu lassen, was ihm zum Fallstrick und zum Anlass hätte werden können, sich von Gott zu entfernen, alles, was den Verlust der Belohnung des christlichen Zeugnisses hätte herbeirühren können. Und beachten wir noch dies: Der Apostel konnte sich das Zeugnis geben: „Wir sind Gott offenbar geworden, und wir hoffen, auch in euren Gewissen offenbar geworden zu sein“, mit anderen Worten, wir wünschen euch genau so wenig zu verbergen, wie wir vor Gott etwas verborgen haben.
Steht es so auch mit uns? Leben auch wir so vor Gott und Menschen, dass wir weder vor dem Einen noch vor den anderen irgendetwas zu verbergen haben? Bei dem Apostel war das der Fall. Er fühlte den ganzen Ernst des Richterstuhls Christi, aber dieser Gedanke ließ ihn vollkommen glücklich und ruhig sein, und am Ende seines Weges angelangt, konnte er in voller Zuversicht sagen: „Fortan liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit“ (2Tim 4,6-8). Paulus kommt dann auf seinen Dienst zurück. Was war die Wirkung des Richterstuhls auf Paulus als Diener Christi? Wenn er in Bezug auf ihn für sich selbst ohne jede Furcht ist – was die Sünder betrifft, weiß er, dass es für sie furchtbar sein wird, vor dem Thron des Gerichts erscheinen zu müssen.
Dieser Gedanke drängt ihn, die ganze Kraft der Überzeugung, die Gott ihm gegeben hat, anzuwenden, um den Menschen zu zeigen, wie sehr der Herr zu fürchten ist, und sie zu überreden, das Hintreten vor Gott nicht auf später zu verschieben. Aber er wird nicht allein durch die Furcht zum Handeln gedrängt. Im 14. Vers fügt er hinzu: „Denn die Liebe des Christus drängt uns.“ Der Schrecken des Herrn und die Liebe Christi, das sind die beiden großen Beweggründe, die den Evangelisten drängen, seine Botschaft zu verkündigen. Wir können von dieser Liebe reden, weil wir deren Gegenstände sind, und von diesem Schrecken oder dieser Furcht, weil wir sie kennen. Für uns ist indessen diese Furcht nicht Angst, dem gerechten Gott zu begegnen, sondern wir fürchten uns, ihm zu missfallen oder ihn zu verunehren. Wenn die Folgen des Richterstuhls wirklich vor unseren Seelen stünden, wie würden wir uns dann gedrängt fühlen, den Menschen zuzurufen: Entflieht dem kommenden Zorn!
Gott hat uns selbst gelehrt, diesem Zorn zu entfliehen, und hat uns davon befreit. So macht es wie wir, sprecht, während es noch Zeit ist, euch selbst das Urteil, damit ihr nicht dem Gericht überliefert werdet! So lautet die Sprache des Apostels. Er „überredete die Menschen“. Die Liebe Christi drängte ihn ohne Ruhe und ohne Rast. Sein ganzes Leben lang hat dieser Mann sich an die Sünder in dieser Welt gewandt, um sie dahin zu bringen, die freie Gnade anzunehmen, die Gott den Menschen durch Christum anbietet. „Denn die Liebe des Christus drängt uns“, sagt er, „indem wir also geurteilt haben, dass Einer für alle gestorben ist, und somit alle gestorben sind. Und er ist für alle gestorben, auf dass die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern Dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden“ (V. 14.15).
Hier finden wir abermals Gläubige und Ungläubige zusammen genannt. Wenn Christus für alle gestorben ist, Bekehrte und Unbekehrte, so beweist das, dass alle tot sind. Wenn ein einziger Mensch von diesem sittlichen Tod aller Menschen hätte ausgenommen werden können, so hätte Christus nicht für alle zu sterben brauchen. Gibt es nun solche, die aus diesem Tode herausgekommen sind? Ja; und zwar sind es die, welche im Glauben das Opfer Christi angenommen haben. Diese leben. Aber wenn der Herr nun für alle gestorben ist, warum leben dann nicht alle? Was ist das Hindernis, das dem Heil aller Menschen entgegensteht? Ach, das einzige und alleinige Hindernis ist der Wille des Menschen!
Das christliche Leben besteht darin, nicht mehr sich selbst zu leben. Wenn es recht verstanden wird, so hat die Selbstsucht des natürlichen Sünderherzens keinen Platz mehr in diesem Leben. Wenn Gott uns durch den Glauben an Christum ewiges Leben gibt, so will er, dass wir nicht mehr uns selbst leben. Gott hat uns in der Person Christi einen Gegenstand für unsere Herzen gegeben: „Den, der für uns gestorben ist und ist auferweckt worden.“ Ist es nicht der Mühe wert, für diesen Menschen zu leben?