Behandelter Abschnitt 3. Mose 2,4-9
Wohlgeruch
Der zweite Punkt in unserer Betrachtung ist die Art und Weise, wie das Speisopfer zubereitet wurde. Dies geschah durch das Feuer. Das Speisopfer war entweder ein „Ofengebäck“ oder ein „Speisopfer in der Pfanne“ oder ein „Speisopfer im Napf“. Der Vorgang des Backens ruft unwillkürlich den Gedanken an Leiden wach. Da aber das Speisopfer ein „lieblicher Geruch“ genannt wird (ein Ausdruck, der bei dem Sünd- und Schuldopfer niemals vorkommt), so kann augenscheinlich hier an das Ertragen des Zorns wegen der Sünde und an ein Leiden für die Sünde von Seiten der göttlichen Gerechtigkeit nicht gedacht werden. „Lieblicher Geruch“ und Leiden für die Sünde sind nach der levitischen Haushaltung zwei ganz unvereinbare Begriffe. Wollten wir daher in das Speisopfer den Gedanken des Leidens um der Sünde willen bringen, so würden wir die Bedeutung dieses Bildes zerstören.
Leiden um der Gerechtigkeit willen
Bei dem Betrachten des Lebens des Herrn Jesus – und darum geht es ja im Speisopfer in allererster Linie – entdecken wir drei verschiedene Arten von Leiden: zunächst Leiden um der Gerechtigkeit willen, dann Leiden durch sein vollkommenes Mitgefühl und endlich Leiden durch Vorempfindung.
Als der gerechte Diener Gottes litt der Herr Jesus in einer Umgebung, in der alles gegen ihn war; aber das war gerade das Gegenteil von einem Leiden für die Sünde. Es ist sehr wichtig, diese beiden Arten von Leiden zu unterscheiden. Übersieht man das, so gerät man in ernste Irrtümer. Das Leiden um Gottes willen als ein Gerechter unter den Menschen ist eine ganz andere Sache als das Leiden anstelle des Menschen unter der Hand Gottes. Der Herr Jesus litt während seines Lebens um der Gerechtigkeit willen. In seinem Tod litt Er um der Sünde willen. Während seines Lebens taten der Mensch und Satan ihr Äußerstes, und selbst am Kreuz entfalteten sie ihre ganze Kraft. Aber als alles das, was sie tun konnten, geschehen war, als sie in ihrem tödlichen Hass die äußerste Grenze menschlichen und teuflischen Widerstandes erreicht hatten, da lag noch weit darüber hinaus ein Bereich von undurchdringlichem Dunkel und Schrecken, in den der Sündenträger zur Vollendung seines Werkes einzutreten hatte.
Während seines Lebens wandelte Er stets in dem ungetrübten Licht des göttlichen Angesichts, aber auf dem Fluchholz trat der finstere Schatten der Sünde dazwischen, verbarg jenes Licht vor seinen Augen und ließ ihn den schrecklichen Schrei tun: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34). Das war ein Augenblick, der in den Jahrbüchern der Ewigkeit völlig allein steht. Während des Lebens Christi auf der Erde hatte sich der Himmel von Zeit zu Zeit geöffnet, um dem göttlichen Wohlgefallen an dem geliebten Sohn Ausdruck zu geben; aber auf dem Kreuz verließ Gott ihn, weil Er seine Seele zum Sündopfer stellte. Wäre Christus sein ganzes Leben hindurch Sündenträger gewesen, wo wäre dann der Unterschied zwischen dem Kreuz und irgendeinem anderen Zeitabschnitt seines Erdenweges? Warum war Er nicht während seiner ganzen Laufbahn von Gott verlassen? Worin bestand der Unterschied zwischen Christus auf dem Kreuz und Christus auf dem heiligen Berg der Verklärung? War Er auf diesem Berg von Gott verlassen? War Er dort Sündenträger? Das sind sehr einfache Fragen, die jene sich vorlegen sollten, die an dem Gedanken eines Sündentragens während seines Lebens festhalten.
Der einfache Tatbestand ist dieser: Weder in dem Menschen Jesus Christus noch in der Natur seiner Beziehungen gab es etwas, das ihn irgendwie mit Sünde, Zorn oder Tod in Verbindung bringen konnte.
Auf dem Kreuz aber „wurde er zur Sünde gemacht“. Dort trug Er den Zorn Gottes, und dort gab Er sein Leben hin, als eine volle Sühnung für die Sünde. Aber nichts von all dem findet einen Platz im Speisopfer. Wohl finden wir hier das Backen, die Wirkung des Feuers, aber das ist nicht der Zorn Gottes. Das Speisopfer war kein Sündopfer, sondern ein Opfer „lieblichen Geruchs“. Dadurch ist seine Bedeutung klar gekennzeichnet. Den Herrn Jesus infolge seiner Geburt zu einem Sündenträger zu machen und ihn dadurch unter den Fluch des Gesetzes und den Zorn Gottes zu stellen, heißt der ganzen Wahrheit Gottes bezüglich der Menschwerdung widersprechen – einer Wahrheit, die durch den Engel angekündigt und immer wieder durch den Heiligen Geist in den apostolischen Briefen bekräftigt worden ist. Zugleich zerstört man dadurch den ganzen Charakter und den Zweck des Lebens Christi, raubt dem Kreuz seine besondere Herrlichkeit und schwächt das Gefühl für die Bedeutung von Sünde und Versöhnung. Mit einem Wort, man reißt den Schlussstein aus dem Gewölbe der Offenbarung und bringt alles in hoffnungslose Verwirrung.
Leiden durch Mitgefühl
Der Herr Jesus litt dann aber auch durch sein vollkommenes Mitgefühl, und diese Art Leiden lässt uns einen Blick tun in die tiefen Geheimnisse seines Herzens. Menschliche Trauer und menschliches Elend berührten stets eine Saite in diesem liebeerfüllten Herzen. Unmöglich konnte ein vollkommen menschliches Herz anders als nach seiner göttlichen Empfindsamkeit all das Elend fühlen, das die Sünde über das Menschengeschlecht gebracht hatte. Obwohl Er persönlich frei von der Ursache und der Wirkung der Sünde war, obwohl Er dem Himmel angehörte und auf der Erde ein vollkommen himmlisches Leben führte, stieg Er doch in der Kraft eines innigen Mitgefühls in die tiefsten Tiefen des menschlichen Elends hinab. Ja, Er fühlte, weil Er als Mensch vollkommen war, den Schmerz weit tiefer als diejenigen, die ihm unmittelbar unterworfen waren. Zudem war Er fähig, sowohl das Leiden als auch dessen Ursache nach ihrem richtigen Maß und Charakter in der Gegenwart Gottes zu betrachten. Er fühlte, wie niemand außer ihm fühlen konnte. Seine Gefühle und seine Neigungen, sein ganzes sittliches und geistiges Sein, alles war vollkommen.
Aus diesem Grund vermag niemand zu beurteilen, was Er auf seinem Gang durch diese Welt gelitten haben muss. Er sah, was das menschliche Geschlecht unter der schweren Last seiner Schuld und seines Elends durchmachte. Er sah, wie die ganze Schöpfung unter dem Joch seufzte. Das Wehklagen des Gefangenen drang in sein Ohr. Er sah die Tränen der Witwe. Beraubung und Armut bewegten sein mitfühlendes Herz. Krankheit und Tod ließen ihn „tief in sich selbst seufzen“ (Joh 11,38). Sein Leiden aufgrund seines Mitgefühls überstieg weit alle menschlichen Begriffe.
Ich führe hier eine Stelle an, die zur Erläuterung dieses Charakters seiner Leiden dienen mag: „Als es aber Abend geworden war, brachten sie viele Besessene zu ihm; und er trieb die Geister aus mit einem Wort, und er heilte alle Leidenden, damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesajas geredet ist, der spricht: Er selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten“ (Mt 8,16.17). Das war völliges Mitgefühl, vollkommenes Mitleiden. Er hatte keine eigenen Krankheiten und Schwachheiten. Aber durch sein vollkommenes Mitfühlen „nahm Er unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten“. Nur ein vollkommener Mensch war dazu imstande. Wir können für- und miteinander fühlen, aber nur der Herr Jesus konnte menschliche Schwachheiten und Krankheiten zu seinen eigenen machen.
Hätte Er alle diese Dinge als eine notwendige Folge seiner Geburt oder seiner Verwandtschaft mit Israel und der menschlichen Familie zu erdulden gehabt, so würden wir die ganze Schönheit und Kostbarkeit seines freiwilligen Mitgefühls verlieren. Es wäre dann für eine freiwillige Handlung kein Raum mehr. Wenn wir ihn dagegen persönlich frei sehen von dem menschlichen Elend und dessen Ursachen, so können wir verstehen, dass es nur vollkommene Gnade und vollkommenes Erbarmen war, die ihn leiteten, in wahrem Mitgefühl „unsere Schwachheiten auf sich zu nehmen und unsere Krankheiten zu tragen“. Es besteht also ein sehr deutlicher Unterschied zwischen den Leiden Christi als dem, der freiwillig mit dem menschlichen Elend mitleidet, und seinem Leiden als Stellvertreter des Sünders. Die Ersteren begegneten ihm während seines ganzen Lebens, die Letzteren beschränken sich auf seinen Tod.
Leiden durch Vorempfindung
Schließlich haben wir noch die durch Vorempfindung erduldeten Leiden Christi zu betrachten. Das Kreuz warf seine finsteren Schatten auf den Weg des Herrn voraus und brachte für ihn eine sehr bittere Art von Leiden hervor, die aber klar von seinem versöhnenden Leiden und von seinem Leiden um der Gerechtigkeit willen oder durch Mitgefühl unterschieden werden muss. Zum Beweis des Gesagten vergleiche man Lukas 22,39-44 und Matthäus 26,37-39.
Aus diesen Stellen ist ersichtlich, dass etwas für den Herrn in Aussicht stand, dem Er nie vorher begegnet war. Hier wurde ein „Kelch“ für ihn gefüllt, aus dem Er noch nie getrunken hatte. Wäre Er sein ganzes Leben hindurch Sündenträger gewesen, warum dann diese „Seelenangst“ bei dem Gedanken an die Berührung mit der Sünde und an das Ertragen des Zorns Gottes der Sünde wegen? Worin bestand der Unterschied zwischen Christus in Gethsemane und Christus auf Golgatha, wenn Er während seines ganzen Lebens Sündenträger war? Hierin: In Gethsemane hatte Er das Vorgefühl des Gerichts, auf Golgatha ertrug Er es in Wirklichkeit. In Gethsemane erschien ihm ein Engel vom Himmel, der ihn stärkte. Auf Golgatha war Er von allen verlassen und kein Engel nahte, um ihm zu dienen. In Gethsemane redete Er zu Gott als seinem Vater, da befand Er sich im Genuss dieses unaussprechlichen Verhältnisses. Auf Golgatha stieß Er den Schrei aus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Hier schaute der Sündenträger empor, sah den Thron der ewigen Gerechtigkeit mit finsteren Wolken umhüllt und das Antlitz der unwandelbaren Heiligkeit von sich abgewandt, und weshalb? Weil Er „für uns zur Sünde gemacht“ war (2Kor 5).
Gemeinschaft mit den Leiden Christi
Es ist also wichtig, die drei Arten der Leiden während des Lebens unseres Herrn von den Leiden in seinem Tod, den Leiden für die Sünde, zu unterscheiden. Nachdem der Mensch und Satan ihr Äußerstes getan hatten, blieb noch eine ganz besondere Art von Leiden übrig, nämlich das Leiden unter der Hand Gottes wegen der Sünde, ein Leiden als Stellvertreter des Sünders. Bis zu den Stunden der Finsternis am Kreuz konnte der Herr stets emporschauen und sich an dem hellen Licht des Angesichts seines Vaters erfreuen. Selbst in den dunkelsten Zeiten fand Er droben eine sichere Zuflucht. Sein irdischer Weg war rau. Wie hätte es auch anders sein können in einer Welt, wo alles seiner reinen, heiligen Natur unmittelbar zuwider war, wo Er den „Widerspruch von den Sündern gegen sich“ zu erdulden hatte (Heb 12,3), wo „die Schmähungen derer, die Gott schmähten, auf ihn gefallen sind“? Welchen Leiden war Er nicht ausgesetzt!
Er wurde missverstanden, falsch beurteilt, geschmäht, angefeindet, angeklagt, von Sinnen zu sein und einen Dämon zu haben. Er wurde verraten, verleugnet, verlassen, verspottet, geschlagen, bespien, mit Dornen gekrönt, ausgestoßen, verurteilt und zwischen zwei Mördern ans Kreuz geheftet. Alle diese Dinge erduldete Er von der Hand des Menschen, neben den unaussprechlichen Schrecken, die Satan auf seinen Geist einwirken ließ. Aber nachdem der Mensch und Satan alle ihre Kraft und Feindschaft erschöpft hatten, gab es noch etwas für unseren Herrn und Heiland zu erdulden, mit dem verglichen alles andere bedeutungslos war – nämlich dass Gott ihn verlassen musste. Es waren jene drei Stunden der Finsternis und des schrecklichen Dunkels, in denen Er Leiden ausgesetzt war, deren Schwere außer Gott niemand zu erfassen vermag.
Wenn die Schrift von unserer Gemeinschaft mit den Leiden Christi spricht, so hat das nur Bezug auf seine von Menschenhand erduldeten Leiden um der Gerechtigkeit willen. Christus litt wegen der Sünde, um uns vor dem Gericht und den ewigen Qualen der Verdammnis zu erretten. Er trug den Zorn Gottes, damit wir ihn nicht zu ertragen hätten. Das ist die Grundlage unseres Friedens. An diesen Leiden konnten wir unmöglich teilhaben. Wenn aber seine von Seiten der Menschen erduldeten Leiden in Betracht kommen, so werden wir stets finden, dass wir, je treuer wir den Fußspuren Christi folgen, umso mehr in dieser Beziehung zu leiden haben werden. Doch das ist ein Vorrecht, eine Gunst, eine Ehre (vgl. Phil 1,29.30).
In den Fußspuren Christi zu wandeln, Gemeinschaft mit ihm zu genießen, auf einen Platz des Mitleidens mit ihm gestellt zu sein, das sind Vorrechte höchsten Ranges. Möchten wir das alles tiefer und völliger erfahren! Leider sind wir nur zu gern bereit, wie Petrus, ihm von Weitem zu folgen (Mk 14,54), fern von einem verachteten und leidenden Heiland. Das ist ohne Zweifel ein großer Verlust für uns. Hätten wir mehr Gemeinschaft mit seinen Leiden, so würde sicher auch die Krone weit glänzender vor unserem Geistesauge stehen. Schrecken wir zurück vor der Gemeinschaft der Leiden Christi, so berauben wir uns der tiefen Freude seiner Gegenwart, seiner unmittelbaren Nähe sowie der inneren Kraft, welche die Hoffnung auf seine – und damit auch unsere – zukünftige Herrlichkeit verleiht.