Behandelter Abschnitt 2. Mose 4,13-17
Mose lehnt den Auftrag Gottes ab
Mose fährt fort, Einwände zu erheben: „Ach, Herr, sende doch, durch wen du senden willst“ (V. 13)! Tatsächlich wies er damit das Vorrecht von sich, der alleinige Gesandte des Herrn für Israel und Ägypten zu sein.
Wir wissen alle, dass eine göttlich bewirkte Demut eine unschätzbare Gnade ist. „Seid . . . mit Demut fest umhüllt“ (1Pet 5,5) ist eine göttliche Vorschrift; und zweifellos ist Demut das geziemendste Kleid, in dem ein Sünder erscheinen kann. Aber die Weigerung, einen von Gott angewiesenen Platz einzunehmen oder den von ihm bezeichneten Weg zu gehen, ist alles andere als Demut. Dass Mose durchaus nicht durch wahre Demut geleitet wurde, zeigt uns deutlich der „Zorn des Herrn“, der gegen ihn entbrannte. Sein Verhalten war auch nicht nur menschliche Schwachheit. Denn solange es noch der Ausdruck einer übermäßigen Furchtsamkeit war, hatte, wie tadelnswert sein Verhalten auch sein mochte, die schrankenlose Gnade Gottes Nachsicht mit ihm und begegnete ihm mit erneuten Zusicherungen; als es aber den Charakter des Unglaubens und der Herzensträgheit annahm, da rief es das gerechte Missfallen des Herrn hervor; und Mose war nun nicht mehr das alleinige Werkzeug im Dienst des Zeugnisses und der Befreiung Israels, sondern er musste jetzt dieses Vorrecht mit einem anderen teilen.
Eine geheuchelte Demut ist sehr verunehrend für Gott und sehr gefährlich für uns. Wenn wir uns weigern, eine von Gott angewiesene Stellung einzunehmen, weil wir uns für unbegabt oder untauglich halten, so ist das sicher keine Demut; denn sobald wir meinen könnten, diese Gaben und Fähigkeiten zu besitzen, würden wir uns sicher für berechtigt halten, eine solche Stellung einzunehmen. Wäre Mose z. B. so redegewandt gewesen, wie er es zur Erfüllung seines Dienstes für notwendig hielt, wäre er wohl ohne Zögern dem Ruf Gottes gefolgt. Nun aber entsteht die Frage: Welch ein Maß von Beredsamkeit wäre erforderlich gewesen, um ihn für seinen Dienst zu befähigen? Die Antwort ist: Ohne Gott kann das höchste Maß menschlicher Beredsamkeit nicht ausreichen; mit Gott aber wird auch ein schlechter Redner sich als ein tüchtiger Diener bewähren.
Das ist eine wichtige Wahrheit für die Praxis. Unglaube ist nicht Demut, sondern offenbarer Hochmut. Er weigert sich, Gott zu glauben, weil er in dem eigenen Ich keine Ursache findet, um zu glauben. Wenn ich wegen irgendeiner Sache in mir selbst dem Zeugnis Gottes nicht glaube, so mache ich ihn zum Lügner (1Joh 5,10). Wenn Gott seine Liebe ankündigt und ich mich zu glauben weigere, weil ich mich dieser Liebe nicht würdig erachte, so mache ich ihn zum Lügner und offenbare den Hochmut, der in meinem Herzen wohnt. Allein der Gedanke, dass ich irgendetwas außer der Hölle verdient haben könnte, beweist wie unwissend ich bin über meinen eigenen Zustand und über die Forderungen Gottes. Und die Weigerung, den Platz einzunehmen, den mir die Liebe Gottes kraft des vollendeten Sühnopfers Christi anweist, macht Gott zum Lügner und wirft eine Schmach auf das Opfer des Kreuzes.
Die Liebe Gottes wirkt freiwillig. Nicht mein Verdienst, sondern mein Elend hat sie hervorgerufen; auch handelt es sich nicht um den Platz, den ich verdiene, sondern um den, den Christus verdient. Christus nahm am Kreuz den Platz des Sünders ein, damit der Sünder mit ihm seinen Platz in der Herrlichkeit teilen könnte. Christus empfing das, was der Sünder verdiente, damit der Sünder das empfangen kann, was Christus verdient. Das Ich ist daher völlig beiseitegesetzt; und das ist wahre Demut. Niemand kann wirklich demütig sein, bevor er die himmlische Seite des Kreuzes erreicht hat; dort aber findet er göttliches Leben, göttliche Gerechtigkeit und göttliche Gunst. Dort hat er es für immer aufgegeben, von sich selbst Gutes und Gerechtigkeit zu erwarten und nährt sich von dem Reichtum eines anderen. Dort ist er zubereitet, um in den Jubelruf einzustimmen, der alle Ewigkeit hindurch im Himmel erschallen wird: „Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre!“ (Ps 115,1).
Jedoch würde es nicht passend sein, noch länger bei den Mängeln und Gebrechen eines so hochgeehrten Dieners wie Mose stehen zu bleiben, von dem die Schrift sagt, dass er treu war in seinem ganzen Haus als Diener, zum Zeugnis von dem, was nachher geredet werden sollte (Heb 3,5). Vor allem wäre es verwerflich, dies in einem Geist der Selbstgefälligkeit zu tun, als ob wir unter denselben Umständen anders gehandelt hätten. Eins aber sollten wir nicht vergessen, nämlich die Lehren für uns daraus zu ziehen, die sie uns vorstellen. Wir sollten lernen, uns selbst zu richten, unser bedingungsloses Vertrauen auf Gott zu setzen und unser Ich beiseitezustellen, damit Gott in uns, durch uns und für uns wirken kann. Das ist das wahre Geheimnis der Kraft.
Ein Dienstgefährte
Wir haben bereits angedeutet, dass Mose nun nicht mehr das alleinige Werkzeug des Herrn in diesem herrlichen Werk sein konnte. Doch das war noch nicht alles. Wir lesen: „Da entbrannte der Zorn des Herrn gegen Mose, und er sprach: Ist nicht Aaron, der Levit, dein Bruder? Ich weiß, dass er reden kann; und siehe, er geht auch aus, dir entgegen; und sieht er dich, so wird er sich freuen in seinem Herzen. Und du sollst zu ihm reden und die Worte in seinen Mund legen, und ich will mit deinem Mund und mit seinem Mund sein, und will euch lehren, was ihr tun sollt. Und er soll für dich zum Volk reden; und es wird geschehen, er wird dir zum Mund sein, und du wirst ihm zum Gott sein. Und diesen Stab sollst du in deine Hand nehmen, mit dem du die Zeichen tun sollst“ (V. 14–17).
Diese Stelle ist eine Fundgrube an praktischen Belehrungen. Wir haben die Befürchtungen und Zweifel gesehen, von denen Mose trotz aller Verheißungen und Zusicherungen der göttlichen Gnade erfüllt war. Und nun – obwohl an wirklicher Kraft durchaus nichts gewonnen war, obwohl in dem einen Mund nicht mehr Fähigkeit war als in dem anderen und Mose nach allem immer noch derjenige blieb, der zu Aaron reden musste – sehen wir ihn ganz bereit zu gehorchen. Sobald er auf die Mitarbeit eines ebenso schwachen Sterblichen, wie er selbst war, rechnen konnte, wollte er gehen, während er dies ablehnte, als ihm wieder und wieder die Versicherung gegeben wurde, dass der Herr mit ihm sein wolle!
Ist dies alles für uns nicht ein deutlicher Spiegel, in dem wir unser eigenes Bild sehen können? Wir sind alle vielmehr geneigt, unser Vertrauen auf irgendetwas anderes zu setzen, als auf den lebendigen Gott. Gestützt durch einen schwachen Menschen gehen wir mutig vorwärts; aber wir zittern, zögern und zweifeln, wenn wir die Gunst Gottes zu unserer Ermutigung und seinen mächtigen Arm zu unserer Stütze haben. Das sollte uns tief vor dem Herrn demütigen und uns antreiben, ihn besser kennenzulernen, damit wir ihm immer tiefer vertrauen, bei ihm allein unsere Quelle finden und mit festerem Schritt unsern Weg gehen können. Freilich ist die Begleitung eines Bruders sehr nützlich. „Zwei sind besser daran als einer“ (Pred 4,9), sei es in der Arbeit, in der Ruhe oder im Kampf.
Auch der Herr Jesus sandte seine Jünger „zu zwei und zwei“ aus; denn Vereinigung ist besser als Absonderung. Wenn aber unsere persönlichen Beziehungen zu Gott und unsere Erfahrungen in seiner Gegenwart uns nicht befähigen, notfalls allein unseren Weg zu gehen, so wird uns die Anwesenheit eines Bruders nur sehr wenig nützen. Ist es nicht bemerkenswert, dass gerade Aaron, dessen Begleitung Mose anscheinend so völlig zufrieden stellte, der Mann war, der nachher das Goldene Kalb machte (Kap. 32,21)? Ja, wir werden oft erfahren, dass gerade die Person, deren Begleitung wir zu unserm Erfolg für unerlässlich halten, später eine Quelle tiefen Kummers für unsere Herzen wird. Möchten wir uns dessen immer bewusst sein!