Behandelter Abschnitt 1. Mose 13,5-12
Lot, der Neffe Abrams
Es gab jedoch für das Herz Abrahams noch eine schwerere Prüfung als die Hungersnot, und diese hatte ihren Ursprung in der Verbindung mit jemand, der offensichtlich weder in der Kraft eines persönlichen Glaubens, noch in dem Gefühl einer persönlichen Verantwortlichkeit seinen Weg ging. Es scheint, dass Lot von Anfang an mehr durch den Einfluss und das Beispiel Abrahams als durch seinen eigenen Glauben an Gott geleitet wurde. Dies ist kein ungewöhnlicher Fall. Ein Blick in die Geschichte des Volkes Gottes zeigt uns, dass sich jeder großen, durch den Geist Gottes hervorgerufenen Bewegung immer einige anschlossen, die persönlich nicht die Kraft besaßen, die die Bewegung hervorgerufen hatte. Solche Personen gehen eine Zeit lang mit, indem sie entweder wie totes Gewicht auf dem Zeugnis lasten, oder es sogar ganz deutlich hemmen. So war es in Abrahams Fall. Gott hatte ihm geboten, seine Verwandtschaft zu verlassen, aber anstatt zu gehorchen, nahm er sie mit sich. Tarah hemmte den Weg Abrahams, bis der Tod ihn aus dem Weg räumte, und Lot begleitete ihn ein wenig weiter, bis „die Begierde nach den übrigen Dingen“ (Mk 4,19) ihn besiegte und ganz übermannte.
Bei dem Auszug der Kinder Israel aus Ägypten sehen wir dasselbe. Ein „Mischvolk“ folgte ihnen und wurde für sie häufig die Ursache von Verunreinigung, Schwachheit und Trauer. In 4. Mose 11,4 lesen wir: „Und das Mischvolk, das in ihrer Mitte war, wurde lüstern, und auch die Kinder Israel weinten wiederum und sprachen: Wer wird uns Fleisch zu essen geben?“ Ebenso war es in den ersten Tagen der Versammlung und auch später. Bei allen durch den Geist Gottes hervorgerufenen Erweckungen und Neubelebungen haben sich vielfach Personen der Bewegung unter den verschiedenartigsten Einflüssen angeschlossen. Weil diese Einflüsse aber nicht göttlich waren, waren sie nur vorübergehend und ließen diese Personen bald wieder zurücktreten und ihren Platz in der Welt einnehmen. Nur das, was von Gott ist, wird Bestand haben. Ich muss die Verbindung verwirklichen, die zwischen mir und dem lebendigen Gott besteht.
Ich muss mir bewusst sein, dass Er mich in die Stellung berufen hat, die ich einnehme, denn sonst werde ich weder Standhaftigkeit noch Ausdauer in dieser Stellung beweisen. Wir können nicht der Spur eines anderen folgen, nur weil er diesen Weg geht. Gott zeigt in seiner Gnade jedem von uns einen Weg, den er gehen soll, einen Wirkungskreis, in dem er sich bewegen, und Pflichten, die er erfüllen soll. An uns ist es, unsere Berufung und die damit verbundenen Pflichten zu kennen, damit wir durch die Gnade, die uns täglich dargereicht wird, in dieser Berufung zur Verherrlichung Gottes wirken können. Es tut nichts zur Sache, wie groß oder wie klein unser Wirkungskreis ist, wenn nur Gott ihn uns zugeteilt hat. Ob wir fünf Talente oder nur ein einziges empfangen haben, wenn wir im Blick auf den Herrn das eine treu verwenden, werden wir ebenso gewiss aus seinem Mund die Worte hören: „Wohl, du guter und treuer Knecht!“ (Mt 25,21), als wenn wir „die fünf“ verwaltet hätten.
Paulus, Petrus, Jakobus und Johannes hatten jeder ihr besonderes Maß, ihr besonderes Verdienst. Genauso ist es mit uns. Keiner braucht sich in die Arbeit eines anderen zu mischen. Ein Tischler hat eine Säge und einen Hobel, einen Hammer und ein Stecheisen, und er benutzt jedes Werkzeug, wie er es braucht. Nichts ist wertloser als bloße Nachahmung. In der Natur finden wir so etwas niemals. Jedes Geschöpf hat seinen Platz und seine besondere Funktion. Wenn es so in der natürlichen Welt ist, wie viel mehr in der geistlichen! Das Feld ist weit genug für alle. In jedem Haus gibt es Gefäße verschiedener Größe und Form, und der Eigentümer gebraucht sie alle.
Wir sollten uns daher immer prüfen, ob wir unter einem göttlichen oder einem menschlichen Einfluss stehen, ob unser Glaube auf Menschenweisheit oder auf Gotteskraft beruht, ob wir etwas tun, weil andere dasselbe getan haben, oder weil der Herr uns dazu berufen hat, und endlich, ob wir uns nur auf das Beispiel und den Einfluss unserer Umgebung stützen, oder ob wir durch persönlichen Glauben aufrechtgehalten werden. Das sind ernste Fragen. Es ist ohne Zweifel ein Vorrecht, die Gemeinschaft unserer Brüder zu genießen. Aber wenn wir uns auf sie stützen, so werden wir bald Schiffbruch erleiden. Ebenso wird unser Tun seinen Wert verlieren, wenn wir über unser Maß hinausgehen. Es wird gezwungen und unnatürlich sein. Es ist nicht schwer zu erkennen, ob ein Mensch an seinem Platz ist und nach dem Maß seiner Fähigkeit arbeitet. Alles gezwungene, gezierte Wesen, alle Anmaßung und alles Nachäffen sind verächtlich. Der Herr gebe uns Gnade, stets wahr, aufrichtig und natürlich zu sein! Wer nicht schwimmen kann und sich trotzdem in tiefes Wasser wagt, wird bald mit Händen und Füßen zappeln. Und wenn ein Schiff in See geht, ohne seetüchtig und ohne ordentlich ausgerüstet zu sein, wird es bald wieder in den Hafen zurückkehren müssen oder zu Grunde gehen. Lot verließ zwar „Ur in Chaldäa“, aber er unterlag in den Ebenen Sodoms. Die Berufung Gottes hatte nicht sein Herz erreicht, und sein Auge blieb geschlossen für die Herrlichkeit des Erbes Gottes. Ernster Gedanke! Aber Gott sei Dank!
Es gibt für jeden Diener Gottes einen Weg, der erleuchtet ist durch seine Anerkennung und durch das Licht seines Angesichts, und es sollte unsere Freude sein, diesen Weg zu gehen. Seine Anerkennung genügt dem Herzen, das ihn kennt. Wir werden allerdings nicht immer nur Beifall und Zustimmung unserer Brüder finden, sondern vielmehr häufig von ihnen missverstanden werden. Aber „der Tag“ wird alles an seinen richtigen Platz stellen, und das treu gesinnte Herz kann mit Ruhe diesem Tag entgegensehen, da es weiß, dass dann „einem jeden sein Lob werden wird von Gott“ (vgl. 1Kor 3,13; 4,5).
Die Liebe zur Welt
Doch lasst uns noch etwas näher untersuchen, was Lot veranlasste, den Weg des öffentlichen Zeugnisses zu verlassen. Es gibt in der Geschichte jedes Menschen einen Wendepunkt, wo sich zeigt, auf welchem Boden er steht, und was für Beweggründe ihn leiten. So war es bei Lot. Die sichtbare Ursache seines späteren Falls in Sodom war ein Streit zwischen seinen Hirten und den Hirten Abrahams. Wer nicht mit einfältigem Auge und mit geläuterten Neigungen seinen Weg geht, wird leicht über einen Stein fallen. In gewissem Sinn macht es wenig aus, was die scheinbare Ursache des Abweichens vom geraden Weg ist.
Die wirkliche Ursache entgeht vielleicht der öffentlichen Aufmerksamkeit. Sie liegt unter der Oberfläche verborgen, in den geheimen Kammern des Herzens, dort wo die Welt in der einen oder anderen Form bereits Eingang gefunden hat. Der Streit der Hirten hätte ohne geistlichen Nachteil für Abraham wie für Lot beschwichtigt werden können. Er gab Abraham allerdings Gelegenheit, die herrliche Kraft des Glaubens zu zeigen, und die moralische Erhabenheit und himmlische Überlegenheit sichtbar werden zu lassen, womit der Glaube den Glaubenden bekleidet. Lot aber bot er Gelegenheit, die totale Weltlichkeit, mit der sein Herz erfüllt war, unter Beweis zu stellen. Der Streit erzeugte im Herzen Lots ebenso wenig die Weltlichkeit, wie in dem Herzen Abrahams den Glauben, aber er machte bei beiden offenbar, was in ihren Herzen war.
Streitigkeiten und Spaltungen entstehen auch in der Versammlung Gottes. Viele werden dadurch zu Fall gebracht und auf die eine oder andere Weise in die Welt zurückgetrieben. Sie schieben dann die Schuld auf die Streitigkeiten und Spaltungen, während in Wirklichkeit diese Dinge nur das Mittel waren, um den wirklichen Zustand ihrer Seele und die Neigungen ihres Herzens zu offenbaren. Ist die Welt einmal im Herzen, so ist der Weg zu ihr leicht zu finden. Auch verrät es wenig moralische Qualität, wenn man Menschen und Umstände tadelt, während die Wurzel des Bösen in uns selbst liegt. Es ist traurig und demütigend, in Gegenwart der „Kanaaniter und Perisiter“ Brüder sich streiten zu sehen. Unsere Sprache sollte stets lauten: „Lass doch kein Gezänk sein zwischen mir und dir . . . ; denn wir sind Brüder!“ (V. 8.9).
Doch warum wählte Abram nicht Sodom? Warum trieb der Streit ihn nicht in die Welt? Warum wurde er für ihn kein Anlass zum Fall? Weil er alles von der Seite Gottes aus betrachtete. Sein Herz war nicht weniger leicht zu begeistern für die „bewässerten Ebenen“ wie das Herz Lots, aber er erlaubte seinem Herzen nicht zu wählen. Er ließ zunächst Lot seine Wahl treffen, und dann überließ er es Gott, für ihn zu wählen. Das war himmlische Weisheit. So handelte der Glaube. Er überlässt es Gott, sein Erbteil festzusetzen, wie er es ihm auch überlässt, ihn darin einzuführen. Der Glaube kann sagen: „Die Mess-Schnüre sind mir gefallen in lieblichen Örtern; ja, ein schönes Erbteil ist mir geworden“ (Ps 16,6). Es kümmert ihn wenig, wo „die Mess-Schnüre“ für ihn fallen, denn nach dem Urteil des Glaubens fallen sie immer in „lieblichen Örtern“, weil Gott sie festlegt. Der Mann des Glaubens kann dem Mann des Schauens getrost die Wahl überlassen. Er kann sagen: „Willst du zur Linken, so will ich mich zur Rechten wenden, und willst du zur Rechten, so will ich mich zur Linken wenden“ (V. 9). Welch ein schönes Bild von Uneigennützigkeit und moralischer Erhabenheit!
Der Mensch von Natur wird trotz seiner vermessenen Wünsche mit Sicherheit niemals seine Hand nach dem Schatz des Glaubens ausstrecken. Er wird sein Teil stets in der entgegengesetzten Richtung suchen. Der Glaube bewahrt seinen Schatz an einem Ort, wo die Natur ihn im Traume nicht suchen würde. Sie könnte sich ihm nicht einmal nähern, selbst wenn sie es wollte, und würde es nicht wollen, wenn sie es könnte, so dass der Glaube in vollkommener Sicherheit und bewunderungswürdiger Uneigennützigkeit der Natur die Wahl überlassen kann. Was tat Lot, als er wählen durfte? Er wählte Sodom, gerade den Ort, über den das Gericht Gottes bald hereinbrechen sollte. Warum traf er eine solche Wahl? Weil er auf den äußeren Anschein und nicht auf den wahren Charakter und auf das zukünftige Schicksal dieses Ortes blickte.
Der wahre Charakter Sodoms war Bosheit, und sein zukünftiges Los das Gericht, die Zerstörung durch Feuer und Schwefel. Aber, wird man einwenden, Lot wusste hiervon nichts. Vielleicht nicht. Abraham wusste es auch nicht. Aber Gott wusste es, und hätte Lot ihm die Wahl seines Erbteils überlassen, so hätte Gott ihm sicher nicht einen Ort angewiesen, dessen Zerstörung Er beschlossen hatte. Aber Lot wählte selbst und sah im Gegensatz zu Gottes Urteil in Sodom einen geeigneten Aufenthaltsort. Seine Augen sahen die „bewässerten Ebenen“, und sein Herz wurde von ihnen angezogen. Er „schlug Zelte auf bis nach Sodom“ (V. 10-12). So wählt die Natur. „Demas hat mich verlassen, da er den jetzigen Zeitlauf lieb gewonnen hat“ (2Tim 4,10). Lot verließ Abraham aus demselben Grund. Er verließ den Ort des Zeugnisses und betrat den Ort des Gerichts.