„Und er fasste den Blinden bei der Hand und führte ihn aus dem Dorf hinaus; und er tat Speichel in seine Augen, legte ihm die Hände auf und fragte ihn, ob er etwas sehe“ (V. 23). Er handelt wie jemand, der tief betroffen ist und herzlich auf jede Einzelheit eingeht. Dies ist das einzige Beispiel im Markusevangelium, wo die Heilung schrittweise erfolgte. So weit ich weiß, ist dies tatsächlich das große beständige Zeugnis bezüglich mehrerer Schritte bei der Heilung von Blindheit.
Wir haben in Johannes 9 das berühmte Wunder, wo dem Blindgeborenen genauso wenig durch eine einmalige Handlung das Gesicht gegeben wurde. Doch in dem Fall vor uns liegt eine bemerkenswerte Besonderheit. Wir finden hier die Wahrheit, dass zwei Dinge nötig sind, damit ein Mensch sehen kann, der noch nie gesehen hat. Das eine ist die Fertigkeit zu sehen, das andere die Befähigung, diese Fertigkeit anzuwenden. Nehmen wir an, einem Blinden sei das Sehvermögen mitgeteilt worden – daraus folgt nicht, dass er hinterher richtig sehen kann. Er könnte keine Entfernungen abschätzen oder die verschiedenen Gegenstände vor seinen Augen genau einordnen. Um solche Gegenstände richtig bewerten zu können, muss man unbedingt das Sehen, Abschätzen, usw. gewohnt sein. Das gilt nicht nur für andere Geschöpfe, sondern auch für den Menschen. Wir erwerben diese Fähigkeit nach und nach.
Allerdings, da wir in der Kindheit langsam heranwachsen, übersieht man das meistens. Die Ausübung des Sehens ist so bedeutsam und wichtig, dass jemand, der niemals gesehen hat und plötzlich das Sehvermögen erhält, zunächst nicht durch einfaches Anblicken entscheiden kann, ob ein Gegenstand eckig oder rund ist. Dabei mochte er durchaus gewohnt gewesen sein, diese Gegenstände durch Abtasten zu unterscheiden. Das ist ein interessanter Gesichtspunkt, welcher anscheinend hier in der Heilung des Blinden von Bethsaida angedeutet werden soll. Dieselbe Schlussfolgerung wurde vor kaum zweihundert Jahren7 als Deduktion der menschlichen Wissenschaft gezogen.8 Hier wird sie schon achtzehnhundert Jahre lang im Wort Gottes stillschweigend vorausgesetzt.9
Zuerst nahm der Herr den Mann bei der Hand und führte ihn aus der Stadt heraus. Danach wandte Er auf seine Augen das an, was aus seinem Mund kam, und legte seine Hände auf ihn; denn hier ist Er überall der wahre Knecht. Es genügte nicht, dass die Aufgabe ausgeführt wurde; die Art der Ausführung musste so sein, dass Gott verherrlicht und das Herz des Geheilten gewonnen wurde. Welch eine Aufmerksamkeit! Welche Herablassung! Welche Mühe nahm Er sozusagen auf sich! Ein Wort hätte genügt. Aber der Knecht-Sohn Gottes trat vollständig in den Fall ein und fragte den Patienten, „ob er etwas sehe“, obwohl allein Ihm in dieser Sache alles vollständig bekannt war (V. 23).
Selbst in Johannes 9, wo die Augen mit einem Pflaster aus Erde gesalbt worden waren und der Blinde hinging, um sich im Teich Siloam zu waschen, folgte die Heilung unmittelbar. In dem Fall vor uns gab es einen besonderen Grund, nicht das übernatürliche Heilmittel, sondern seine Wirkung aufzuteilen. Der Herr zeigte eine Ausübung der göttlichen Macht, die auf den ersten Blick nicht so eindrucksvoll erscheint wie sonst, wo ein Wort oder eine Berührung genügte. Der Mann blickte auf und sagte, dass er Menschen sähe; denn er sah Personen, die wie Bäume umher wandelten. Es besteht kein geringer Unterschied zwischen einem Menschen und einem Baum; doch er konnte sie noch nicht unterscheiden, insbesondere da er, wie ich vermute, blind geboren worden war.10 Alles vor ihm war unbestimmt. Er konnte sicherlich – und tat es zweifellos auch – in seinem blinden Zustand leicht durch Anfassen einen Baum von einem Menschen unterscheiden. Er hatte jedoch noch nicht gelernt, seine neu gewonnene Sehfähigkeit zu gebrauchen; und das Wunder halbierte absichtlich den Heilungsprozess. Sein Verstand konnte kaum die Menschen, die sich bewegten, mit Bäumen verwechseln. Aber sein Sehvermögen zeigte, dass Menschen und Bäume in manchem gleich waren. Sie wandelten umher wie Bäume. Bis jetzt war für ihn alles nur verwirrend. Offensichtlich fehlte die Fähigkeit, die gerade erhaltene Gabe mit Unterscheidungsvermögen zu nutzen.
7 Man muss bedenken, dass Kelly seine Auslegung vor mehr als hundert Jahren schrieb (Übs.).↩︎
8 „Ich möchte hier ein Problem des sehr geistreichen und wissensdurstigen Förderers der wahren Erkenntnis, des gelehrten und würdigen Herrn Molineaux, einfügen, das er mir vor einigen Monaten in einem Brief zu schicken geruhte. Das Problem ist: Man nehme an, ein Mensch ist blind geboren worden und jetzt erwachsen. Er habe gelernt, durch Anfassen zwischen einem Würfel und einer Kugel aus demselben Metall und von ungefähr gleicher Größe zu unterscheiden, sodass er, nachdem er sie angefasst hat, sagen kann, was der Würfel und was die Kugel ist. Nehme man weiter an, der Würfel und die Kugel werden dann auf einen Tisch gelegt und der Blinde sehend gemacht.
Die Frage ist: „Kann er sie, bevor er sie anfasst, durch einfaches Anblicken erkennen und kann er sagen, welches Gebilde der Würfel und welches die Kugel ist?“ Darauf antwortet der scharfsinnige und einsichtsvolle Fragesteller: „Nein! Denn obwohl der Blinde aus Erfahrung weiß, wie ein Würfel oder eine Kugel sein Tastgefühl anspricht, hat er doch noch nicht die Erfahrung gemacht, dass das, was sein Tastgefühl so oder so anspricht, sein Sehvermögen so oder so ansprechen muss. Er weiß nicht, dass die vorstehende Ecke eines Würfels, die seine Hand ungleichmäßig drückt, seinen Augen in einem Würfel so erscheint, wie er sie wahrnimmt.“ Ich stimme mit diesem Herrn . . . in seiner Antwort auf dieses Problem überein.
Ich bin der Überzeugung, dass der Blinde auf dem ersten Blick nicht mit Gewissheit sagen könnte, was die Kugel und was der Würfel ist, wenn er sie nur zu sehen bekäme. Trotzdem könnte er sie irrtumslos durch Betasten benennen und sie gewisslich aufgrund des gefühlten Unterschieds in ihrer Gestalt auseinanderhalten. Das habe ich hier niedergeschrieben, um meinem Leser die Gelegenheit zu geben, dass er bedenke, wie sehr er der Erfahrung, der Erziehung und den erlernten Ansichten zu Dank verpflichtet ist, wo er meint, dass er nicht den geringsten Nutzen oder irgendeine Hilfe daraus empfangen habe. Und es ist umso wichtiger, weil dieser aufmerksame Herr weiter hinzufügt, dass er aufgrund meines Buches diese Erkenntnis verschiedenen sehr geistreichen Männern vorgestellt habe. Doch er traf kaum auf jemanden, der ihm auf Anhieb die Antwort gab, die er für richtig hielt, bevor dieser nicht nach Anhörung der Argumente überzeugt wurde.“ Locke‘s Works, vol. I, p. 124, Ed. 10 (W. K.). (John Locke (1632–1704): engl. Philosoph der Aufklärung) (Übs).↩︎
9 „Eine interessante Bestätigung dieser „Deduktion der menschlichen Wissenschaft“, auf die sich W. K. im Text und seiner Fußnote bezieht, gibt der kürzlich berichtete Fall eines Patienten einer Londoner Augenklinik. Nach dreißig Jahren Blindheit von seiner Geburt an erhielt dieser Patient nach mehreren heiklen und schwierigen Operationen am Sehorgan das Sehvermögen. Dieser Fall wird als der erste bezeichnet, der in der Augenchirurgie bekannt ist. Wie in dem von Lock zitierten angenommenen Fall erschien dem Patienten, der bisher mit den Fingern „gesehen“ hatte, der Sehakt seltsam und verwirrend. Obwohl er durchaus eine rege geistige Kraft und eine geschulte Intelligenz besaß, erforderte, wie man fand, der Vorgang des Unterscheidens verschiedener Gegenstände, wie Gesichter, Blumen, Möbelstücke, Buchstaben und dergleichen eine schrittweise Ausbildung. Diesen Übergangszustand veranschaulicht der Mann aus dem Evangelium, welcher Menschen sah„die wie Bäume umherwandeln‘“ (W. J. H., 1934).↩︎
10 Ich denke nicht, dass sein Vergleich der unklar gesehenen Menschen mit Bäumen, die Ansicht widerlegt, dass er blind geboren worden war, wie einige daraus schließen möchten. (W. K.)↩︎