Behandelter Abschnitt Ps 80
Psalm 80 zeigt uns in bemerkenswerter Weise das Volk Israel, seine vergangenen und zukünftigen geschichtlichen Verbindungen, nicht Christum (obschon natürlich alles von Ihm abhängig ist) oder den frommen Juden in der Mitte der abtrünnigen Gemeinde. Wohl sehen wir Jerusalem eingenommen, es wird Bezug genommen auf Bündnisse und frühere Rettungen Israels, mit einem Wort, es ist die Geschichte des Volkes oder Prophezeiung bezüglich der Umstände, die das Volk als solches betreffen; aber alles ist äußerlich. Es handelt sich nicht um innere Prüfungen, die Christum veranlassen könnten, persönlich auf den Schauplatz zu treten, außer wenn er die Versammlung empfängt (Ps 75,2); gleichwohl werden die Gottesfürchtigen in Israel unterschieden. Auch wird nicht auf Jehova Bezug genommen (es sei denn im Vorausblick auf die Zukunft, wenn Israel in den neuen Bund treten wird), bis zu dem Gericht über die letzte Vereinigung, durch das Jehova als Herr der ganzen Erde bekannt werden wird. Ich glaube wohl, dass diese Psalmen die Juden, die zwei Stämme, nicht ausschließen, sie bilden einen Teil von Israel, und in Juda wird Jehova in jenen Tagen offenbart werden; doch handelt es sich hier geschichtlich um ganz Israel, Joseph eingeschlossen, mit einem Wort, um die Nation. In unserem Psalm wird Gott als der Hirte Israels angerufen, der Joseph wie eine Herde leitet und zwischen den Cherubim thront. Auch hier haben wir wieder Israel in geschichtlichem Sinne, nicht Gott, der vom Himmel herab ruft oder kommt. Er wird durch den Glauben nur gesehen, wenn Er da ist, wenn Er Seinen Platz in Israel eingenommen hat.
Unser Psalm ist besonders beachtenswert. Der Psalmist sieht Gott in Israel, Sein Thron ist mit Recht da, und er erwartet, dass Gott hervorstrahle, dass Er Seine Macht erwecke und zu ihrer Rettung komme. Er erinnert Ihn daran, wie bei dem Israel vor alters, wenn das Lager in der Wüste auf dem Marsche war, Ephraim, Benjamin und Manasse sich unmittelbar bei der Bundeslade befanden, hinter der Stiftshütte, und wie das Heiligtum unmittelbar vor ihnen herzog (4Mo 10). Das war Jehova, der Gott der Heerscharen. Der Glaube wartet auf Seine Gegenwart in Macht bei Seinem Volke, so wie es damals der Fall gewesen war. Die rührende und dringende Bitte des Glaubens ist: „Bis wann raucht dein Zorn wider das Gebet deines Volkes?“ Das sind hier die Gedanken und die Sprache des Glaubens. Der aus Ägypten geholte Weinstock ist verwüstet, seine Mauern sind niedergerissen, wie Jehova ihnen angedroht hat. Tränen sind der Trank des Volkes Jehovas. Sie flehen zu Gott, dass Er vom Himmel herabschauen und diesen Weinstock heimsuchen möge, das Reis, das Gott für Sich gestärkt hatte; damit ist, denke ich, die Familie Davids gemeint. Doch der Zustand Israels ist eine Strafe von Seiten Gottes. Weiter erwartet der Glaube, dass die Hand der göttlichen Macht auf dem Manne Seiner Rechten, d. i. dieser Macht, sei, auf dem Menschensohne, den Gott für Sich gestärkt hat. Diese Stelle, und nicht allein Daniel 7 (wo dem Menschensohne nur ein besonderer Platz angewiesen wird), lässt uns verstehen, warum der Herr Sich gewöhnlich den Titel „Sohn des Menschen“ beilegt. Obwohl Er damals verworfen wurde, ist Er doch Derjenige, auf dem Gottes Rechte in Macht ruhen soll31. Auf diese Weise sollte das Volk Jehovas bewahrt werden. Inhalt und Zweck der Bitte in diesem Psalm ist das Einschreiten der Macht von Seiten Jehovas, des Gottes Israels, und das Legen der Macht auf den Sohn des Menschen. Dieses Flehen wird durch die große Drangsal in Israel hervorgerufen, doch Jehova wird erwartet, und der Glaube versetzt Ihn in die Mitte Israels. Wenn Er sie so besuchen würde, wollten sie nicht von Ihm abweichen; wenn Er sie aus dem Staube wiederbelebt, werden sie Seinen Namen anrufen (vgl. das in Psalm 2 über den Messias Gesagte).
Die Verse 3, 7 und 19 zeigen, was begehrt wird; doch ist es eine äußere Befreiung, die man erwartet. Vers 17 erfordert besondere Beachtung aus dem schon erwähnten Gesichtspunkt, indem er zeigt, was in dem Herzen des Herrn war, als Er das gänzlich Unerwartete vorstellte, dass dieser Sohn des Menschen leiden müsse. Psalm 8 gibt uns bekanntlich den Schlüssel dazu in den Vorsätzen Gottes, sowohl betreffs der Erniedrigung und der Erhöhung als auch der Stellung des Menschen. Und diese Erniedrigung war es, die der Herr Seinen Jüngern immer wieder so ernstlich vorstellte. jetzt erwarten sie die Entfaltung der göttlichen Macht in Ihm. Die Versammlung und ihre Vereinigung mit Christo sowie die persönlich gekannte Annahme als Kind sind die einzigen Dinge, die ich in dem Alten Testament nicht offenbart finde. Alles, was Christum betrifft, war offenbart, vielleicht noch mit Ausnahme Seiner jetzigen Stellung als Priester. Weder das eine noch das andere dieser Dinge wird unter den Titeln, die in dem ersten Kapitel des Evangeliums Johannes Christo beigelegt werden, erwähnt.
31 Hierauf nimmt der Herr Bezug in Lk 22,69. Er war in Gnade herabgekommen, aber jetzt war Seine Mission beendet; von nun an sollte man Ihn kennen in erhabener, richterlicher Macht. Das verleiht diesem Namen eine große Wichtigkeit und bringt, indem es Psalm 8 mit einschließt, die Befreiung des Überrestes Israels in den weiten Bereich Seiner Macht. Denn als Sohn des Menschen nimmt Er in Seiner eigenen Person gemäß den Ratschlüssen Gottes Menschheit an; nur steht Er über allen Werken der Hand Gottes. Er ist Herr von allem, aber als solcher und kraft Seines eigenen Werkes für das Volk vollbringt Er die Befreiung des Überrestes Israels.↩︎