Behandelter Abschnitt Lk 8,1-56
Wenn wir jetzt zum achten Kapitel kommen, sei noch bemerkt, dass wir bei der armen Sünderin, deren Geschichte das vorhergehende Kapitel abschließt, tiefe persönliche Zuneigung als die Frucht einer im Glauben erfassten Vergebung oder Heilung fanden. Bei den Frauen zu Anfang des Kapitels sehen wir dagegen zärtliche Anhänglichkeit und Dienst. In der Sünderin wurden durch das Angebot der Gnade Christi alle verborgenen Quellen geöffnet. Sie wusste, dass sie, die eine Sünderin war, vom Herrn angenommen war, und dieses Bewusstsein beherrschte ihr Herz. Sie hatte weder ein Auge für das Mahl des Pharisäers noch ein Ohr für seine Verachtung, denn der Herr Jesus nahm sie ganz gefangen. Ihr einziges Begehren war, nahe bei Ihm zu sein, so nahe, wie Liebe, Dankbarkeit und Anbetung sie nur zu bringen vermochten. Und die gleiche heilende Liebe des Herrn war es, die die Frauen im achten Kapitel an Ihn fesselte. Sie folgten Ihm, um Ihm zu dienen. Diese dankbare Liebe äußerte sich bei ihnen nicht laut, aber sie war in ihnen lebendig. Sie wollten bei Ihm sein, wo immer Er war, und Ihm dienen, wo sie nur konnten.
Das sind verschiedenartige Früchte, aber jede ist gesegnet. Der Herr Jesus vermochte beide zu schätzen, die stillen Tränen der einen und auch den geschäftigen Dienst der anderen. Beides war die Frucht bewusster Heilung. Können Zuneigung und Dienst reiner sein, als wenn sie einem solchen Bewusstsein entspringen? Der Zöllner schlug im Bewusstsein seiner Schuld an seine Brust, und das war an seinem Platz das richtige und notwendige Gefühl. Aber wie viel schöner und lieblicher sind die Tränen, der Dienst, die Liebe und Ergebenheit, die aus dem Bewusstsein völliger Annahme hervorkommen! Nichts ist so kostbar für Gott und so lieblich selbst für unsere eigenen Herzen. Wie traurig ist es auf der anderen Seite, wenn statt Tränen und Dienst Selbstzufriedenheit und - Gefälligkeit, Geringschätzung oder gar Verachtung anderer oder bloßes ungeistliches Streben nach Erkenntnis und parteiisches Wetteifern das Herz und den Wandel kennzeichnen! Mögen wir alle diese einfachen Beispiele zu schätzen wissen, die der Geist Gottes uns hier berichtet und die so ganz der tief empfundenen Gegenwart des Herrn entsprechen!
Dieses Kapitel ist das erste einer Reihe von Kapiteln, in denen wir nacheinander den Herrn, die Zwölfe und die Siebzig zum Dienst ausgehen sehen (siehe Kapitel 8,1; 9,1; 10,1). Diese Darstellung des sich ausdehnenden Dienstes entspricht der Gnade des Geistes in diesem Evangelium. Als weiteren Ausdruck derselben Gnade berichtet unser Evangelist, dass der Herr Jesus „nacheinander Stadt und Dorf durchzog“, sodass Sein Licht und Seine Gnade keinen Flecken unbesucht ließen. Und dieser Diener der göttlichen Gnade wurde von einem zu Ihm passenden Gefolge begleitet. Es bestand aus solchen, „die von bösen Geistern und Krankheiten geheilt“ und von Dämonen gereinigt worden waren. Sie folgten Ihm jetzt als Zeugen Seiner Gnade, wie Er später, wenn Er in Macht erscheinen wird, eine ebenso passende Gefolgschaft hinter sich haben wird, um Seine Herrlichkeit kundzutun (Off 19,14).
Dann berichtet Lukas das Gleichnis vom Säemann, das wir auch bei Matthäus und bei Markus finden. Ohne Frage hat es in jedem Evangelium den gleichen allgemeinen Charakter und Zweck, aber hier bei Lukas führt der Herr nicht so sorgfältig und direkt den Propheten Jesaja an, um das Gericht Gottes auf Israel anzuwenden, und das entspricht völlig den Absichten dieses Evangeliums.
Im weiteren Verlauf des Kapitels haben wir dann den Fall der Gadarener, der blutflüssigen Frau und den Bericht von Jairus‘ Töchterlein, in der gleichen Weise miteinander verbunden wie in Markus.
Bei diesen und ähnlichen Handlungen der Macht und Gnade können wir im Allgemeinen beobachten, dass der Dienst des Herrn immer zwei charakteristische Züge trägt: Er richtete stets die Werke des Teufels, aber niemals den bußfertigen Sünder. Er ging über die Erde, indem Er die Spuren der zerstörenden Macht Satans auslöschte, aber gleichzeitig in dem Sünder die Spuren Seiner eigenen erlösenden Macht hinterließ. Beides geschah durch ein und dieselbe Handlung. Jeder Blinde, der sehend wurde, jeder Lahme, der wieder gehen konnte, bezeugte sowohl das Gericht des Feindes als auch die Segnung des Sünders. Auch die Reinigung der Aussätzigen und die Auferweckung der Toten trugen dieses zweifache Zeugnis. Der Teufel begegnete dem Herrn nie, ohne zu zittern, der glaubende Sünder dagegen stets, um mit Freuden einen Segen davonzutragen.
Mochte der Herr tun, was Er wollte, oder gehen, wo Er wollte, ließ Er jemals bei dem armen Menschenkind ein Gefühl der Zudringlichkeit aufkommen? Selbst Seine Vorwürfe waren kein Tadel, denn sie drückten nur das Verlangen des Herrn nach mehr Vertrauen seitens des Sünders aus, wenn dieser Ihm nicht mit genügender Kühnheit des Glaubens nahte. Er tadelte ihn, nicht weil er zu dreist war, sondern weil er nicht vertrauensvoll genug war. Seine Sprache war gleichsam: „Was seid ihr furchtsam, Kleingläubige?“
Das war jedoch kein Vorwurf und keine Zurückweisung des Sünders, sondern ein Bedauern über sein Zögern und seine Vorbehalte. Nichts war in den Wegen des Sohnes Gottes auf der Erde sicherer als diese beiden Dinge: Er richtete stets die Werke des Teufels, verurteilte aber niemals den bußfertigen Sünder. Es war wie bei Mose, der hinging und einen Ägypter erschlug; als er selbst aber von einem Israeliten zurückgewiesen und beleidigt wurde, ging er lieber einsam ins Exil (2Mo 2), als dass er ihm ein Haar seines Hauptes gekrümmt hätte. Auch Simson, ein anderes im Wort Gottes ausgezeichnetes Vorbild, handelte ähnlich. Gegen die Philister suchte er jede Gelegenheit, um sie zu plagen und zu schädigen, aber er wurde weich wie ein Kind, als die Männer von Juda ihm widerstanden (Ri 15,12). Mose und Simson hatten Kraft genug gegen den Feind, aber keine gegen ihr eigenes Volk. So richtete auch der Sohn Gottes alle Werke des Teufels, aber im Hinblick auf die Sünder sagte Er: „Ich bin nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um die Welt zu erretten“ (Joh 12,47).
Ebenso war es hier. Gadara war ein Teil des jüdischen oder heiligen Bodens, ein Teil jenes Landes, auf das die Augen des Gottes des Himmels und der Erde „vom Anfang des Jahres bis zum Ende des Jahres“ beständig gerichtet waren (5Mo 11,12). Aber die Unreinheit war schon lange darin eingezogen und hatte es beschmutzt, ja, wir finden sie zu jener Zeit dort in ganzen Herden, wie auch die völlige Entfaltung der ungezügelten Kraft des Feindes. Schweine und Legionen von Dämonen waren in Gadara, um uns zu zeigen, was aus dem Ort der Wahl des Herrn geworden war. Es war in Wahrheit das Haus des Starken, aber jetzt dringt der Sohn Gottes als der Stärkere ein, um Sein eigenes Werk zu tun und sich selbst als der Befreier der Gefangenen und der Vernichter der Gewalt des Todes zu offenbaren.
Die Herren der unreinen Tiere an jenem Ort waren darauf nicht vorbereitet. Sie wollten in ihrer Übertretung verharren und vertrieben deshalb den Herrn von ihren Küsten. Wie furchtbar ist das! In der ganzen Geschichte des Evangeliums finden wir keine ähnliche Darstellung von dem finsteren und unreinen Bereich Satans wie hier. Obwohl sich die Gnade und Macht des Starken in ihrer Mitte so entfaltete, wollten sie Ihn nicht, sondern sie verkauften ihr Anrecht an den Sohn Gottes für eine Herde Schweine! Das war wirklich schrecklich, und dem Herrn Jesus blieb nichts anderes übrig, als sie zu verlassen und den See von Galiläa wieder zu überqueren, um Seinen Weg anderwärts fortzusetzen.
Ein jüdischer Synagogenvorsteher bittet Ihn, in sein Haus zu kommen, wo sein einziges Töchterchen im Sterben lag. Der Herr geht mit, um sich in dem Haus des Juden als die Auferstehung und das Leben zu erweisen. Aber Sein Weg wird unterbrochen durch den Glauben einer armen Fremden, die Ihn in der Volksmenge anrührt. Sie war von einem schweren Leiden geplagt, in ihrem Fleisch war eine Quelle der Unreinheit, die menschliche Geschicklichkeit nicht zu heilen vermochte. In ihrer höchsten Not hört sie von dem Herrn Jesus, und durch eine einfache Berührung empfängt sie, was sie nötig hat. Niemand kannte sie oder hatte überhaupt ein Interesse, sie kennenzulernen. Sie selbst und ihr Tun würden in der lebhaften Menge verborgen geblieben sein, wenn nicht Der, der sie kannte und heilte, sich vor allen zu ihr bekannt hätte.
Die Volksmenge drängte und drückte Ihn, aber es war weder Not noch Sünde, die sie trieb, und daher fühlte Er es auch nicht. Doch die zarte Berührung der Frau fühlte Er, weil es die Berührung einer von ihrer Not überzeugten Seele war, die gehört hatte, dass in Ihm Kraft war. Ihr Kummer führte sie zu Ihm, und Er kannte sie, weil Er sie geheilt hatte. Das war die Ursache und der Charakter ihrer Bekanntschaft. Der Sohn Gottes und die geheilte Sünderin begegneten einander ganz allein in der großen Volksmenge. Sie war eine Fremde für alle, außer für Ihn.
Das ist voll wahren und höchst beglückenden Trostes für unsere Seelen, aber auch von tieferer Bedeutung. Es offenbart uns den Weg und die Tätigkeit des Sohnes Gottes in künftigen Tagen. Er sieht in der Ferne den Tag Seiner Macht in Israel, im Haus der Juden, an dem Er die vertrockneten Gebeine lebendig machen und den Überrest Seines Volkes aus seinem langen und tiefen Schlaf rufen wird. Aber auf dem Weg dahin fesselt eine Fremde Seine Sympathien, deren tief empfundene Not und Armut sie zu Ihm zog, wie in der gegenwärtigen Zeit die Versammlung Gottes den Sohn Gottes allein beschäftigt, während Er auf dem Weg ist, die Macht der Auferstehung und des Lebens in späteren Tagen an Israel zu entfalten.
Ich glaube, dass dies der Charakter dessen ist, was wir hier finden. So gibt uns unser Kapitel, das mit dem Dienst des Herrn beginnt, diese Beispiele verschiedenartiger Früchte Seiner mühevollen Arbeit in der Versammlung und auch in Israel. Es zeigt uns, wie in Gadara, in welch eine Welt Er kam, um zu arbeiten, und zugleich, dass Seine ganze gesegnete Arbeit enden muss in Seinem Lob im Himmel und auf Erden, in der Überführung und Verurteilung der Welt, aber auch im Segen für jeden Sünder, der auf Ihn vertraut.