Behandelter Abschnitt Lk 7,1-50
Dieses Kapitel beginnt mit einem weiteren Beispiel von der Vernachlässigung bloßer Umstände und zeitlicher Ordnung, denn der Bericht über den Hauptmann von Kapernaum nimmt hier einen anderen Platz ein als in den anderen Evangelien.
Auch in dieser Erzählung sind besondere und charakteristische Züge. So hören wir hier, dass der Hauptmann sich durch die Juden an den Herrn wandte, ein Umstand, den Matthäus nicht berichtet, weil er mehr für den jüdischen Überrest schreibt und dem alten nationalen Stolz keine Nahrung geben wollte. Lukas dagegen wendet sich mehr an die Heiden und mochte sie durch die Erwähnung dieses Umstandes an die ehemalige Gunst erinnern wollen, in der die Juden einst bei Gott standen. Beide Bemerkungen haben ihr moralisches Gewicht, weshalb der Heilige Geist sie zweifellos hervorzuheben beabsichtigte. Aus dem gleichen Grund erwähnt Lukas auch nicht die Bemerkung des Herrn über den Glauben dieses Heiden, die Matthäus berichtet. Der jüdische Evangelist notiert sie, um etwa aufkommenden jüdischen Stolz zu dämpfen, während Lukas sie übergeht, um ein ähnliches Gefühl bei einem Heiden nicht aufsteigen zu lassen. Diese Unterschiede scheinen an ihrem Platz vollkommen zu sein.
Der Hauptmann ist hier ein schönes Beispiel von dem Verständnis des Glaubens. Er verstand seinen Platz als Heide, der kein Recht hatte, dem Herrn unmittelbar zu nahen, sondern er kam zu Ihm durch die Vermittlung Seines eigenen Volkes. Dieses erleuchtete Verständnis über die Gedanken Christi ist von großer Schönheit. Indem er sich durch die Ältesten der Juden an den Herrn wandte, kam er durch die richtige Tür, und der Herr antwortet: Ich will gehen. Im richtigen Augenblick aber, als der Herr bereits auf dem Weg war, wurde der Hauptmann tätig. Jetzt war es an der Zeit für ihn, sich selbst zu rühren; aber auch dann ging er nicht selbst zum Herrn, sondern er ließ Ihm sagen: Herr, ich bin nicht würdig; sprich nur ein Wort, und es genügt!
Diener warten auf meinen Befehl, aber Krankheiten auf den Deinen. Uns fehlen oft diese zarten Regungen der Gesinnung Christi, und daher sind wir häufig so ungeschickt und plump. Wir bedürfen einer durch den Geist Gottes geleiteten Seele. Der Herr verwunderte sich, aber es war das Verwundern einer reichen, tiefen Freude. Nichts erfrischte Ihn in dieser Welt mehr, als wenn Er die Spuren Seiner eigenen Hand sah; das waren Wasser der Erquickung für Seine Seele.
Dann haben wir hier, und zwar nur hier, den Fall der Witwe von Nain, der die menschlichen Gefühle in so lieblicher Weise anrührt, dass der Heilige Geist ihn bei Lukas erwähnt. Denn als der, dem es um den Menschen, seine Nöte und Gefühle geht, stellt uns Lukas in ein paar Worten die tiefe Einsamkeit ihrer Lage vor Augen: Der Tote war „der einzige Sohn seiner Mutter, und sie war eine Witwe“; und nachdem Er ihn auferweckt hatte, heißt es:“. . . und er gab ihn seiner Mutter.“ Das ist treffend und rührend zugleich und entspricht ganz dem menschlichen Ton, der in diesem Evangelium dem Geist des Herrn seinen schönen und gnädigen Zug verleiht. Das Wort „einzige“ ist charakteristisch für Lukas; er gebraucht es noch bei Jairus‘ Töchterlein und bei dem Menschen, dessen Kind von einem bösen Geist besessen war. Das Herz des Herrn Jesus war tief berührt, bevor Er die Bahre des toten jungen Mannes anrührte.
Man sagt, dass das Herz die Hand bewege, und auch unser Heil ergoss sich aus dem Herzen Christi. Sind wir nicht dankbar für Segnungen, die auf diese Weise zu uns gelangen? „Er trat hinzu und rührte die Bahre an.“ Er war unbefleckbar, sonst hätte Er nach der Berührung der Bahre zu dem Priester gehen müssen, um Sich selbst zu reinigen. Aber hatte der Herr jemals die Waschungen des Heiligtums nötig? Er hätte den Jüngling lebendig machen können, ohne die Bahre zu berühren, aber Er hatte ja keine anderen Beziehungen zur Sünde als Gott selbst. Er war nicht nur nicht der Wirksamkeit der Sünde unterworfen, sondern es gab für Ihn überhaupt keine Möglichkeit zu sündigen. „Und er gab ihn seiner Mutter.“ Welch ein lieblicher Zug menschlichen Empfindens! Wir können sagen, dass Christus uns nicht errettet, nur damit wir Ihm dienen sollen. Ein solcher Gedanke würde die Herrlichkeit der Gnade beeinträchtigen. Seine Liebe soll uns bewegen, Ihm unser Leben zu weihen und uns von Ihm gebrauchen zu lassen, aber niemals sagt Er: Ich will dir jetzt vergeben, wenn du Mir dienen willst. Gehen wir daher, du und ich, zu den Menschen, und suchen wir ihnen zu dienen!
In Verbindung mit diesem Kapitel möchten wir noch etwas bemerken. Es fällt uns in den Evangelien auf, mit welcher Bereitwilligkeit der Herr auf die Bitte des Glaubens hin den Schleier fallen lässt, der Seine göttliche Herrlichkeit verbirgt. Als in alten Zeiten ein König von Israel gebeten wurde, einen Mann von seinem Aussatz zu heilen, zerriss er seine Kleider mit den Worten: „Bin ich Gott, um zu töten und lebendig zu machen?“ (2Kön 5). Jesus aber, der verachtete Galiläer, antwortete sofort mit der Ruhe und Sicherheit Seiner Ihm bewussten Herrlichkeit: „lch will, sei gereinigt!“ Die Herrlichkeit des Gottes Israels strahlte ungehemmt hervor, wenn der Glaube den Schleier zerriss. So ist es hier. Der Glaube eines Heiden wendet sich an Ihn als den Herrn des Himmels und der Erde, der einst nur gesagt hatte: „Es werde Licht! und es wurde Licht“ und der auch jetzt nur „ein Wort“ zu sprechen brauchte, um den Knecht des Hauptmanns zu heilen. Und sofort, mit gleicher Selbstverständlichkeit, bricht die göttliche Herrlichkeit hervor, ohne jede Unruhe, als geschehe etwas Fremdes. Sie schimmerte einfach durch die Wolke hindurch und ließ für einen Augenblick den Vorhang fallen, hinter dem sie verborgen war. Und doch war Er derselbe, der sich aus Liebe zu uns Sündern „zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm“, indem Er sagte: „Du bist der Herr; meine Güte reicht nicht zu dir hinauf“ (Ps 16,2).
Sodann haben wir hier die wohlbekannte Botschaft Johannes‘ des Täufers an den Herrn: „Bist du der Kommende, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Johannes hatte lange vor dieser Begebenheit die Person des Sohnes Gottes bezeugt, und in Bezug hierauf hatte er keinen Zweifel. Aber es scheint, dass er nicht auf alle Folgen vorbereitet war, die seine Stellung als Zeuge des Herrn mit sich brachte, wie es einst auch bei Mose der Fall war. Mose war der Diener Gottes und sollte das Volk durch die Wüste führen. Aber er wurde ungeduldig unter der Last dieser Aufgabe und sagte „Bin ich mit diesem ganzen Volk schwanger gegangen, oder habe ich es geboren, dass du zu mir sprichst: Trag es in deinem Gewandbausch, . . . ?“ Die Schwäche seiner Hand, den Ruhm festzuhalten, offenbarte sich hier, und siebzig andere wurden berufen, um an ihm teilzuhaben. Aber obwohl Mose so vom Herrn im Geheimen gerügt wird, wird er doch von Ihm vor anderen verteidigt; denn unmittelbar danach werden Aaron und Mirjam mit außergewöhnlicher Schande belegt, weil sie sich nicht gefürchtet hatten, gegen Mose zu reden (4Mo 11 und 12).
So ist es auch hier mit Johannes dem Täufer. Er verrät Schwachheit, weil er nicht vorbereitet ist auf alle Kosten und Prüfungen eines gefangenen Dieners des Herrn. Wohl kannte er Jesus als den Sohn Gottes, wie Mose den Herrn als den Erlöser Israels kannte, aber wie das Murren des Volkes zu viel war für den einen, so erwiesen sich das Gefängnis und die Beleidigungen des Herodes als zu viel für den anderen. Auch Johannes musste, genau wie Mose, einen geheimen Vorwurf hören: „Glückselig ist, wer irgend sich nicht an mir ärgern wird. „Aber vor den Menschen wurde er wie Mose von seinem Herrn gnädig gerechtfertigt: „Unter den von Frauen Geborenen ist kein größerer Prophet als Johannes der Täufer.“
Das ist stets die Weise unseres Herrn. Er schlug Israel immer und immer wieder an den verborgenen Orten der Wüste, aber vor ihren Feinden sah Er keine Ungerechtigkeit in ihnen. Manche Rechnung zwischen dem Herrn und dem Volk wurde beglichen, wenn sie allein waren, aber in das Gericht der Ungöttlichen ließ Er sie nicht kommen. So sind auch die Heiligen jetzt unter dem Gericht des Vaters, aber in das zukünftige Gericht werden sie nicht kommen. Hinsichtlich dieses Tages dürfen sie voller Zuversicht sein.
Nachdem der Herr Johannes so vor seiner Generation verteidigt und geehrt hat, wendet Er sich zu der Volksmenge und verleiht ihr den Charakter, den sie sich durch die Behandlung des Herrn und Seines Dieners Johannes verdient hat. Der Mensch ist ein Geschöpf, das Gott nicht heilen kann. Er hatte ihn jetzt völlig durch die verschiedenen Dienste erprobt, aber der Mensch hatte keine Antwort für Gott. Hatte Er ihm Klagelieder gesungen, gab es bei ihm keine Tränen; hatte Er ihm gepfiffen, hatte er nicht getanzt. Das Instrument des menschlichen Herzens hatte sich in den Händen Gottes als unbrauchbar erwiesen. Es war verstimmt, wenn Gott es benutzte, aber Verständnis, Eifer und Tätigkeit zeigten sich, wenn andere Einflüsse es bewegten; jedoch nichts war für Gott. Er mochte durch den Täufer, der weder aß noch trank, einen ernsten Ton anstimmen oder durch den Sohn des Menschen einen fröhlicheren: In dem Herzen des Menschen gab es kein Echo für Gott. Das hatte sich jetzt nach dem Versuch der geschicktesten Hände erwiesen. Alle diese Versuche hatten das Geschick des Spielers offenbart, sodass „die Weisheit gerechtfertigt worden ist von allen ihren Kindern“. Was konnte Gott mehr tun, als Er getan hatte? „Wir“ - wie wunderbar! der Herr macht sich hier eins mit Seinem Diener - „haben euch auf der Flöte gespielt, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt nicht geweint.“
Nach diesen ernsten Worten kommen wir zu einer anderen Szene, in das Haus eines Pharisäers, der den Herrn zum Essen eingeladen hatte. Der Herr ist in diesem Evangelium äußerst umgänglich, wie ein Mensch nur sein kann. Daher finden wir Ihn hier häufiger als in den anderen Evangelien in den Häusern beim Mahl sitzen.
Die Szene im Haus des Pharisäers ist von großer moralischer Schönheit. Sie zeigt uns, dass nur unsere Sünden uns mit dem Herrn Jesus wirklich bekannt machen. Verehren wir Ihn allein als Lehrer oder Täter von Wundern, so begegnen wir Ihm nicht in gottgemäßer Weise. Einzig unsere Sünde und das tiefe Gefühl darüber kann uns dem Sohn Gottes in Wahrheit nahebringen, denn Er ist uns von Gott als Heiland und Erretter gegeben.
Nikodemus sah in Ihm nur den Täter mächtiger Zeichen, als er bei Nacht zu Ihm kam, aber er musste von Neuem geboren werden und ganz andere Gedanken über den Herrn bekommen, ehe er Ihm in gebührender Weise nahen konnte. So auch hier dieser Pharisäer. Es ist offensichtlich, dass er sich nicht als Sünder fühlte, vielmehr war er von dem Herrn angezogen worden durch das, was er von Ihm gesehen und gehört hatte. Er stand Ihm durchaus wohlwollend gegenüber, und deshalb bereitete er Ihm ein Mahl. Aber da war jemand im Haus, der den Herrn in ganz anderer Weise ergriff, eine Sünderin aus der Stadt. Sie bringt Ihm ihre Sünden und bereitet Ihm ein anderes Mahl. In Wirklichkeit sitzt der Herr bei ihrem Mahl und nicht bei dem des Pharisäers. Ihre Tränen, ihre Salbe und ihre Küsse sind die Speise des Sohnes Gottes, während Er alle kostspielige Vorsorge des Gastgebers völlig übersieht.
Das ist sehr gesegnet. Nur der Glaube, der den Herrn als Heiland ergreift, kann Ihm in dieser Wüste einen Tisch bereiten, und es ist bemerkenswert, dass in allen Stellen der Heiligen Schrift, wo von der Bekehrung Levis berichtet wird, unmittelbar danach von dessen Mahl für den Herrn in seinem Haus erzählt wird. Levi war ein Zöllner, ein offenbarer und bekannter Sünder, und Jesus war der Erretter. Der Glaube solcher öffnete Ihm die Tür, erfreute Ihn und machte Ihn in Seinem eigentlichen Charakter willkommen; denn solche zu besuchen, war der Herr Jesus ja vom Himmel herniedergekommen.
Noch etwas anderes! Wenn der Herr über diese Frau zu Simon spricht, redet Er von dem, was sie getan hat. Spricht Er aber zu ihr, so sagt Er: „Dein Glaube hat dich errettet.“ Nicht ihre Liebe, sondern ihr Glaube hatte sie errettet. Das sollten wir alle wohl beachten, denn es ist recht tröstlich. Die Frucht unserer Liebe mag vor anderen gewürdigt werden, wie hier vor dem Pharisäer. Ein Becher kalten Wassers, aus Liebe zum Herrn dargereicht, wird seinen Lohn nicht verlieren. Aber vor dem Gewissen des Sünders hält nur das Blut Jesu und der Glaube stand, der auf ihm ruht. Der Glaube, nicht die Liebe, lässt uns unseren Weg in Freuden gehen, wie es beim Kämmerer der Fall war. Mag unsere Seele noch so glücklich, der Wandel noch so rein und unbefleckt, die Liebe noch so warm und die Erfahrung so reich und vielseitig sein wie bei David oder Paulus, Jesus allein bleibt doch der Grund unseres Friedens.